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Wahrheit oder Lüge?

Ist Neil Armstrong 1969 gar nicht auf dem Mond gelandet und Corona doch harmlos? Mehr als jeder vierte Deutsche glaubt an Verschwörungstheorien, schätzt der Amerikanist Michael Butter und erforscht, wie solche Theorien mit Populismus zusammenhängen

Die CIA steckt hinter dem Anschlag auf das World Trade Center. Flüchtlinge werden durch eine globale Finanzoligarchie gelenkt, um Deutschland zu islamisieren. Und das Coronavirus gibt es gar nicht. Prof. Dr. Michael Butter von der Universität Tübingen ist Experte für Verschwörungstheorien. Der 43-jährige Amerikanist leitet ein Netzwerk von 160 Wissenschaftlern, das die Forschung zu dem Thema aus den Blickwinkeln unterschiedlicher Disziplinen und mehr als 40 europäischen Ländern zusammenführt. Und sein Wissen ist gefragt. Der von ihm geschriebene Bestseller „Nichts ist, wie es scheint“ wird in der vierten Auflage veröffentlicht. Wie oft Butter zu dem Thema interviewt wurde, hat er irgendwann zu zählen aufgehört.

Im Jahr 1999, zum 30-jährigen Jubiläum der Mondlandung, stolperte Butter in einer Universitätszeitung zum ersten Mal bewusst über eine Verschwörungstheorie: Sehr seriös wurde da geschildert, dass es die Mondlandung nie gegeben habe. Und zumindest für einige Minuten – bis er zur nächsten Seite mit der Auflösung kam – ging er davon aus, dass der Bericht den Tatsachen entspricht. Über solche konspirativen Geschichten wollte der Amerikanist mehr erfahren – und begann dazu zu forschen. Nach dem Studium in Freiburg und Norwich und der Promotion in Bonn und Yale habilitierte er sich 2012 über amerikanische Verschwörungstheorien. Als er 2015 das von der Europäischen Union geförderte Forschungsprojekt Compact (Comparative Analysis of Conspiracy Theories) mit Prof. Peter Knight von der Uni Manchester startete, stellte sich die Frage, ob dieser Schwerpunkt ihn ins wissenschaftliche Abseits katapultiert. Denn damals gab es noch keinen Präsidenten Trump, keinen Brexit und auch keine Flüchtlingskrise.

Doch Butter und seine Kollegen hatten sich zum Ziel gesetzt, mit gängigen Mythen aufzuräumen – etwa dem Mythos, dass Verschwörungstheorien heute populärer seien als je zuvor. Tatsächlich gibt es zwar inzwischen durch die Coronakrise einen leichten Aufschwung. Bis in die 50er- und 60er-Jahre hinein waren Verschwörungstheorien aber viel einflussreicher und mächtiger als heute. Winston Churchill etwa glaubte an die jüdische Weltverschwörung. Thomas Mann machte Freimaurer und Illuminaten für den Ausbruch des Ersten Weltkrieges verantwortlich.

Anfang März veröffentlichte Butter gemeinsam mit Peter Knight das „Handbook of conspiracy theories“. Auf die Webseite des Compact-Projekts stellten sie einen Leitfaden, der kurz und verständlich die Erkenntnisse der Forschung über Verschwörungstheorien zusammenfasst und inzwischen auch auf Deutsch, Spanisch, Arabisch und in weiteren Sprachen dort zu finden ist. Er richtet sich ausdrücklich auch an Laien – an Lehrkräfte, Politiker und Journalisten. Dazu gibt es sechs Podcasts, die bisher von mehr als einer Million Menschen auf der Welt gehört wurden. Darin wird erst einmal erklärt, was eine Verschwörungstheorie – auch im Unterschied zu Fakenews – ist: Diese Theorien gehen davon aus, dass nichts durch Zufall geschieht. Wo andere Chaos sehen, entdecken Verschwörungstheoretiker einen perfiden Plan. Sie sind davon überzeugt, dass sie diejenigen sind, die hinter die Fassade blicken. Für viele Menschen sei es einfacher zu akzeptieren, dass jemand im Hintergrund die Strippen zieht, als dass Dinge passieren, die sich nicht erklären und in gut und böse unterteilen lassen, sagt Butter.

Und es seien durchaus nicht nur „paronoide Spinner“, die an Verschwörungstheorien glauben, so der Wissenschaftler. Es gebe sie im gesamten politischen Spektrum, sogar bei Wissenschaftlern. Allerdings neigten Menschen mit extremen politischen Positionen, Männer und Ältere mehr zu Verschwörungstheorien: „Es sind Menschen, die schlecht mit Unsicherheit und Ambivalenz umgehen können“, sagt der Amerikanist. Verschwörungstheorien böten vermeintliche Sicherheit, während Wissenschaftler und Politiker ihre Positionen ständig revidieren müssten.

Für Deutschland geht Michael Butter davon aus, dass ein Drittel bis ein Viertel der Bevölkerung Verschwörungstheorien anhängt. In den USA sei es etwa die Hälfte. In Osteuropa werden Mythen sogar von Eliten verbreitet: Im polnischen Parlament sind alle politischen Parteien daran beteiligt, erklärt der Professor. In Russland sind es die Staatsmedien. Ungarns Präsident Viktor Orbán wiederum hat den jüdischen Milliardär George Soros zum Staatsfeind erklärt, weil dieser eine gezielte Islamisierung Europas vorantreibe.

„Das kann man sich in Deutschland gar nicht vorstellen“, sagt Butter. In Westeuropa seien Verschwörungstheorien seit den 50er-Jahren zunehmend stigmatisiert worden. Heute würden, vor allem durch das Internet, in Subkulturen zusammengeschlossene Verschwörungstheoretiker wieder sichtbarer. US-Präsident Donald Trump ist nach Butters Überzeugung eher ein Politiker, der Verschwörungstheorien strategisch einsetzt, etwa im Wahlkampf.

Inhaltlich werden Mythen von Land zu Land angepasst. In Deutschland dominieren Verschwörungstheoretiker, die erklären, dass es das Coronavirus nicht gibt oder dass es harmlos ist. Durch die vermeintliche Gefahr solle Panik geschürt werden, um einen globalen Impfzwang durchzusetzen oder die Wirtschaft neu zu ordnen. Dahinter stecke Multimilliardär Bill Gates. In Frankreich oder Italien, wo viel mehr Menschen an dem Virus starben, glauben Verschwörungstheoretiker an eine bewusst freigesetzte Biowaffe, mit der die Weltbevölkerung reduziert werden soll. In China heißt es, es handele sich um eine amerikanische Biowaffe, im Iran geht man von einem zionistischen Komplott aus.

Während viele Verschwörungstheorien harmlos seien, zeigten die Morde der Attentäter von Christchurch und Halle, dass manche auch dazu führen, dass Menschen gewalttätig werden, sagt Butter. Und wer glaube, dass alle Politiker Marionetten einer Verschwörung sind, ziehe sich entweder aus dem politischen Betrieb zurück oder wende sich populistischen Parteien zu. Auch bei medizinischen Fragen könnten Verschwörungstheoretiker andere in Gefahr bringen.

Am ehesten hilft Bildung dagegen, an abstruse Theorien zu glauben: „Wer aufgeklärt ist, ist signifikant weniger anfällig für Verschwörungstheorien“, sagt Butter. Überzeugte Verschwörungstheoretiker seien aber mit Argumenten und Fakten nicht erreichbar.

Gibt es eine Verschwörungstheorie, an die Butter selbst glaubt? „Ich neige dazu, alles zu glauben, was mit der Fifa zu tun hat“, sagt der Wissenschaftler: „Denen traue ich alles zu.“ //


Michael Butter: Meine Forschung

Die Herausforderung

Nicht alle Verschwörungstheorien sind gefährlich, aber manche können zu Gewalt führen, medizinisches und anderes wissenschaftliches Wissen delegitimieren und das Vertrauen in die Demokratie unterminieren.

Mein Beitrag

Eine historische Perspektive auf Verschwörungstheorien erlaubt es, aktuelle Entwicklungen besser einzuschätzen. Sie zeigt, dass wir das Thema ernst nehmen müssen, aber nicht in Panik verfallen sollten. Denn Verschwörungstheorien waren früher noch viel populärer und einflussreicher als heute.

Drohende Gefahren

Wenn der öffentliche Diskurs über Verschwörungstheorien von vermeintlichen Experten und Halbwissen bestimmt und schnell unpräzise und alarmistisch wird.

Offene Fragen

Wir wissen noch immer viel zu wenig über die historische Entwicklung und Verbreitung von Verschwörungstheorien in Europa und über die Rolle von Verschwörungstheorien in nichtwestlich geprägten Kulturen.

Mein nächstes Projekt

Mit einem kleinen Team untersuche ich den Zusammenhang von Verschwörungstheorien und Populismus in Brasilien, den USA und vier europäischen Ländern. Und ich schreibe eine Einführung in die Cultural Studies.

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