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„Wissen führt nicht zwangsläufig zum Handeln“

Alle sprechen nur noch über Covid-19. Wie wird sich das auf den Klimaschutz auswirken? Ein Interview ...

... mit dem Klimaexperten Franz Baumann, seit 2017 Gastprofessor an der New York University, der zu Regierungshandeln und Klimawandel forscht und lehrt.

Herr Baumann, wo sind die Chancen der Corona-Pandemie für das Klima, wo aber könnte es zu einem Rückschlag kommen – etwa weil sich jetzt alles monothematisch nur noch um Corona dreht?

Chancen können genutzt oder versäumt werden. Möglicherweise, man wagt es kaum zu hoffen, führt die Corona-Pandemie zum Umdenken, vielleicht sogar zu der Einsicht, dass sie die Großwetterlage der Welt verändert hat, also keine bloße Reifenpanne war.

Um ein Bild zu bemühen: Auf nächtlicher Überlandfahrt zerschlägt ein Reh die Windschutzscheibe: Wildwechselschild bei zu hohem Tempo ignoriert. Einfach weiterfahren ist keine Option. Zunächst muss der verletzten Beifahrerin geholfen, dann das demolierte Auto abgeschleppt werden. Und wenn der Zweck der Fahrt war, sie zur Chemotherapie zu bringen, muss zwischen kurz- und mittelfristigen Gefährdungen unterschieden werden. Nachdem der unmittelbare Schaden behoben ist, erfolgt die Aufarbeitung: Wie wäre der Unfall zu verhindern gewesen, wie können künftige Risiken klein gehalten werden und was ist die beste Art, Krebspatienten zu versorgen?

Ein baldiger und hoffentlich glimpflicher Sieg über Covid-19 bedeutet ja nicht, dass alles im grünen Bereich ist. Ganz im Gegenteil. Wir fahren noch immer viel zu schnell in gefährlichem Terrain, ignorieren Risiken und spielen mit dem Leben anderer, nämlich der jungen Generation, den Menschen im globalen Süden und der Natur. DieKlimakrise ist da und verstärkt sich rapide. Sie muss mit derselben Entschlossenheit bekämpft werden wie das Virus.

ZUR PERSON

Franz Baumann

Franz Baumann, Ph.D., forscht und lehrt seit 2017 als Gastprofessor an der New York University zur UN-Nachhaltigkeitspolitik sowie zu Regierungshandeln und Klimawandel. Zuvor war er mehr als 30 Jahre lang in einem Dutzend Funktionen, in vier Städten und auf drei Kontinenten für die Vereinten Nationen tätig. 2009 wurde er zum Beigeordneten Generalsekretär ernannt. Seine letzte Funktion war Sonderberater für Umwelt und Blauhelmeinsätze.

Und was lernen wir aus der Coronakrise?

Es ist eine gefährliche Illusion, Gesundheit, Umwelt, Natur und Wirtschaft als getrennte Bereiche zu betrachten. Wir Menschen sind nicht allein auf der Welt, sondern teilen sie mit anderen Organismen, Tieren und Pflanzen. Unsere Gesundheit, ja unser Überleben, hängt davon ab, dass die gewachsene Harmonie bewahrt – in Wirklichkeit nicht weiter geschädigt – wird. Ich glaube, ja hoffe, dass Covid-19 ein Warnschuss ist und Risikoanalysen nun mehr Aufmerksamkeit geschenkt wird als noch vor ein paar Wochen. Die Datenlage hat sich nicht geändert, nur das Verständnis, was sie bedeutet.

Auch geändert hat sich das Verständnis von Politik. Große, zumal globale Probleme können nur von kompetenten, anständigen und leistungsfähigen Staaten gelöst werden.  Es geht darum zu steuern, zu koordinieren, zu helfen und Rahmenbedingungen zu setzen. Partikularinteressen müssen zurückstecken oder zurückgesteckt werden. Diese Einsicht bleibt hoffentlich haften.

Wenn die Krise denn überwunden ist, wird es um die Erhöhung der Resilienz gehen müssen, auch der wirtschaftlichen. Deutschland muss krisenfest gemacht werden, aber auch Europa und die Welt. Wenn alles gut geht, wird die Krise einen Stimmungswandel bewirken, weil sie demonstriert hat, dass selbst große Probleme nur kooperativ, systematisch und faktenbasiert lösbar sind. Für die Zukunft erwarte ich quer durch das ideologische Spektrum die Einsicht, dass es in der vernetzten Welt keine Inseln gibt, dass Kooperation und Vorbeugen zielführender sind als Alleingänge und Reparaturen, auch dass es sich rechnet, in zukunftsfähige Wirtschaft zu investieren, anstatt in obsolete.

„Es ist eine gefährliche Illusion, Gesundheit, Umwelt, Natur und Wirtschaft als getrennte Bereiche zu betrachten.“


Wo gibt es beim Klimaschutz tatsächlich Fortschritte – falls ja, wie ist das messbar?

Ja, es gibt Fortschritte, sowohl was die Wissenschaft anlangt als auch die Politik. Um drei zu nennen: 1988 verabschiedete die Generalversammlung der Vereinten Nationen die erste Resolution zum Klimawandel und gründete den Weltklimarat (Fußnote 1). Dies war ein Quantensprung für die internationale Klimaforschung; für die internationale Klimapolitik immerhin ein Hüpfer. Die politischen Entscheider haben also seit über dreißig Jahren belastbare Daten, sowie immer feinkörnigere Modelle und detailliertere Projektionen. Wenn ihre Aktionen hinter dem wissenschaftlichen Konsens zurückbleiben, so nicht aus Unwissen, sondern aus Unwillen oder Unvermögen.

Vor genau zwanzig Jahren verabschiedete der deutsche Bundestag das Gesetz für den Vorrang Erneuerbarer Energien (EEG) (2), bemerkenswert wegen seiner Vision und Hebelwirkung: Es beweist, dass ein relativ kleines Land – Deutschland hat circa ein Prozent der Weltbevölkerung – global katalytisch wirken kann. Auf der ganzen Welt sind erneuerbare Energien phänomenal billiger geworden.“ Vieles deutet darauf hin, dass das EEG als erfolgreichstes Klimaschutzgesetz in die Geschichte der Menschheit eingehen wird. In jedem Fall war das die Startrampe des globalen Siegeszugs der Solartechnik. Es mobilisierte die erforderlichen Investitionen, Innovationen und Skaleneffekte, um aus einer teuren Weltraumtechnik in zwei Jahrzehnten die preiswerteste, beliebteste und rund um den Globus am schnellsten ausgebaute Stromquelle zu machen”, so Carsten Körnig, Hauptgeschäftsführer des Bundesverbandes Solarwirtschaft (3).

Ein weiterer Meilenstein ist das 1987 ausgehandelte Montreal-Protokoll, ein völkerrechtlich verbindlicher Vertrag zum Schutz der Ozonschicht, der mehr Unterzeichner als jedes andere internationale Abkommen hat (4). Die 196 Vertragsparteien müssen die Verwendung von Fluorchlorkohlenwasserstoffen (FCKWs) einstellen, die hauptsächlich für den Ozonabbau verantwortlich sind. Durch die ausgedünnte Ozonschicht gelangen mehr krebserregende ultraviolette Sonnenstrahlen zur Erde.

Weil das Montreal-Protokoll konstruktiv weiterentwickelt und weitgehend eingehalten wird, bezeichnete es Kofi Annan, der verstorbene frühere Generalsekretär der Vereinten Nationen, als erfolgreichstes internationales Abkommen aller Zeiten (5). Also, messbare Fortschritte gibt es durchaus. Man könnte und sollte auf ihnen aufbauen. Warum sie dem Problem hinterherhinken, ist keine Frage der Wissenschaft, sondern der Politik.

Wo wird herum taktiert und verschleppt? Und was sind die Ursachen dafür?

Die Coronakrise zeigt – wieder einmal –, dass man sich Probleme nicht aussuchen kann, wohl aber den Umgang mit ihnen, und welche Lehren gezogen werden. Die Ausbrüche von Infektionskrankheiten haben in den letzten Jahren zugenommen. Vor Covid-19 gab es Ebola, Vogelgrippe, Schweinepest, Mers, Rifttalfieber, Sars, West-Nil-Fieber und Zika-Fieber, die alle von Tieren auf Menschen übertragen wurden. Es ist verblüffend, dass noch immer so getan wird, als seien sie etwas Unvorhersehbares, Einmaliges, Eingrenzbares – und einigermaßen Überwindbares. Sind sie aber nicht.

Vor der Coronakrise flogen allein aus Deutschland täglich fast 300.000 Passagiere in die ganze Welt (6). Global waren durchschnittlich jeden Tag über zwölf Millionen Flugpassagiere unterwegs (7). Bis zur Coronakrise rechnete die Flugindustrie mit vier Prozent Wachstum pro Jahr, obwohl sich die Passagierzahl im letzten Jahrzehnt schon verdoppelt hat. Bei diesem Vernetzungsgrad ist ein Erreger innerhalb von Stunden überall.

Weil Menschen immer mehr in die Lebensräume der Tiere eindringen und diese verändern, nicht zuletzt durch die Erderhitzung, ist zu erwarten, dass solche Krisen extremer werden und öfter vorkommen. Wir müssen vorbeugen, nicht erst reagieren wenn das Kind im Brunnen liegt. Es ist eine kindliche Illusion, dass es in einer endlichen Welt unendliches Wachstum gibt, oder dass die alttestamentarische Anweisung, uns die Erde untertan zu machen können, bei einer Weltbevölkerung von acht Milliarden Menschen noch Gültigkeit hat (8).

Und die Bundesrepublik Deutschland?

Seit mindestens drei Jahrzehnten ist die Klimakrise bekannt, auch was zu tun ist, um sie abzumildern. 1987 richtete der Bundestag eine Enquete-Kommission „Vorsorge zum Schutz der Erdatmosphäre“ ein, die ihren ersten Zwischenbericht – 300 Seiten stark – im November 1988 vorlegte (9). Die noch heute aktuellen Empfehlungen wurden ignoriert, nicht weil sie falsch, sondern weil sie unbequem waren. Seither, also seit 1988, wurde global mehr CO2 emittiert als in der gesamten vorangegangenen Menschheitsgeschichte.

Bundeskanzlerin Merkel betonte auf der UN-Klimakonferenz COP 23 in Bonn vor drei Jahren, dass wir „vor einer, wenn nicht sogar vor der zentralen Herausforderung der Menschheit stehen. Der Klimawandel ist für unsere Welt eine Schicksalsfrage. Sie entscheidet über das Wohlergehen von uns allen. (10)“ Die Kanzlerin ist promovierte Physikerin und neigt weder zum Drama noch zur Übertreibung, aber die Klarheit ihrer Analyse spiegelt sich nicht in der Politik der Bundesregierung wider. Das mit Hängen und Würgen im letzten Herbst verabschiedete Klimaschutzgesetz der Bundesregierung wäre vor fünfundzwanzig Jahren hilfreich gewesen.

Heute ist es bestürzend unambitioniert, vor allem von einer großen Koalition – ein politisches Ausnahmekonstrukt mit dem Anspruch, Großes zu hinzubekommen. Die Erderhitzung wird noch immer nicht als Chance gesehen, um das Land nachhaltig zukunftsfähig zu machen. Auch die globale Komponente fehlt und selbst die (ohnehin unzureichenden) Ziele des Pariser Abkommens werden verpasst werden – obwohl es einem reichen, exportabhängigen Land ohne eigene Rohstoffe, aber mit einem starken Wissenschaftssektor wohl anstünde, dem offensichtlichen Notstand entsprechend mit größter Dringlichkeit vorzugehen.

Wo kann die Forschung etwas ausrichten und wo hat sie das gegebenenfalls schon getan?

Gute Forschung identifiziert Risiken, quantifiziert und projiziert sie in die Zukunft. Wie jetzt zu sehen ist, produziert Forschung auch Lösungen, zum Beispiel Impfstoffe. Aus gutem Grund kann Forschung ihre Erkenntnisse aber nicht direkt in Politik umsetzen, schließlich sind Wissenschaftler nicht demokratisch legitimiert. Sie produzieren Licht, nicht Druck. Schaden abzuwenden ist die vordringlichste Aufgabe von Regierungen, oder in Demokratien von Parlamenten, wenn Regierungen säumig sind.

Seit Jahrzehnten zeigen Klimatologen Zusammenhänge auf, zum Beispiel dass es in einer wärmeren Welt mehr Krankheiten und Pandemien geben wird, dass es systemverändernde Klima-Kipppunkte gibt (der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen bring), dass die Ziele des Pariser Abkommen erstens unzureichend sind und zweitens von kaum einem Land eingehalten werden. Und so weiter. Wissenschaftler dokumentieren detailliert, dass die Menschheit die Natur überbelastet. Ein Notruf der Alliance of World Scientists, an der ich mitarbeite, im November 2019 erhielt weite Beachtung, auch in Deutschland, verpuffte aber nach einem Tag (11).

Schon vor fünfzehn Jahren warnten die nationalen Wissenschaftsakademien Brasiliens, Chinas, Deutschlands, Frankreichs, Großbritanniens, Indiens, Italiens, Japans, Kanadas, Russlands und der USA vor den Folgen der Erderhitzung und forderten beherzte globale Lösungen (12). Unzulängliche politische Umsetzung hat vielerlei Gründe.  Mangelhafte Wissenschaft ist allerdings keiner.

Das Fremdeln mit Wissenschaft ist überraschenderweise in den USA – dem Land mit den meisten Nobelpreisen – ausgeprägt.  Von den anfänglich siebzehn republikanischen Präsidentschaftsbewerbern im Jahr 2016 wollte sich keine(r) zur Evolutionstheorie bekennen. Solcher Verblendung kann wissenschaftlich nicht beigekommen werden. Trotz des offensichtlichen und verbreiteten Politikversagens arbeiten tausende von Wissenschaftlern auf der ganzen Welt unverdrossen weiter, kooperativ über Ländergrenzen hinweg (13).

Wo müssen in der Forschung neue Akzente gesetzt werden?

Wissenschaft schafft Wissen. Aber Wissen führt nicht zwangsläufig zum Handeln. Der Herausforderung, passende Gegenmaßnahmen zu treffen, um die Erderhitzung zu verlangsamen, stehen handfeste materielle Interessen dagegen. Nicht zu unterschätzen sind auch der Status Quo an Verhaftung, Bequemlichkeit und das sozialpsychologische Phänomen der Verantwortungsdiffusion, also der Annahme, dass mit all dem vorhandenen Wissen das Problem schon irgendwie gelöst werden wird, ohne dass man selber etwas tun muss. Es liegt also nicht an mangelhafter Forschung, unvollständigen Daten, dürftigen Modellen oder beträchtlichen Forschungslücken, dass zu wenig getan wird.

Vielleicht müssten mehr Wissenschaftler ihren Elfenbeinturm verlassen und sich politisch engagieren. Albert Einstein und seine Kollegen machten es vor, als sie sich 1955 mit großer Dringlichkeit an die Weltöffentlichkeit wandten, um vor den katastrophalen Folgen eines Atomkrieges zu warnen (14). In ähnlicher Zielrichtung, aber breiter angelegt arbeitet im deutschsprachigen Raum die InitiativeScientists for Future (S4F, ich bin Mitglied im Beirat). Sie ist interdisziplinär und versucht die politische Diskussion zu versachlichen sowie wissenschaftliche Perspektiven in den politischen Meinungsbildungsprozess einzubringen (15). Die Erderhitzung ist ein Beschleuniger von Krisen und Unwuchten, die nicht durch das Justieren einiger Stellschrauben, sondern nur gesamtheitlich anzugehen sind.

Was können Wissenschaftler von Greta Thunberg lernen und wo ist deren Auftreten unter Umständen sogar kontraproduktiv?

Nicht nur Wissenschaftler können von Greta Thunberg lernen. Ihre Vierminutenrede beim Klimagipfel der Vereinten Nationen im letzten September war markerschütternd – und faktisch in jedem Punkt nachweislich richtig (16). „Wie wagen Sie es?“, fragte sie die versammelten Politiker, die Erde zu zerstören. Sachlich ist ihr nicht zu widersprechen, denn die Menschheit ist auf einem Kollisionskurs mit der Natur, dessen Auswirkungen schlimmer sein werden als die Coronakrise. Letztere wird irgendwann überwunden sein, aber die Klimakatastrophe wird die Staaten überwältigen und das Leben auf der Erde für Jahrhunderte zur Hölle machen – es sei denn, ihr würde mit der gleichen Bestimmtheit entgegengesteuert werden und mit dem gleichen Ressourcenaufwand wie gegenwärtig dem Virus.

Und zwar im jetzigen Jahrzehnt. Bislang tut kaum ein Staat der Welt genug, um das Unheil abzuwenden, vor allem nicht die reichen Industrieländer (17). Wenn einer oder mehr kritische Kipppunkte überschritten sind, entwickelt die Natur eine Eigendynamik – positive Rückkopplungen in der Sprache der Kybernetik –, die sich menschlicher Einflussnahme entzieht (18). Der Zug wird abgefahren sein.

Greta Thunberg sagt klar, knapp und leidenschaftlich nichts anderes als die renommiertesten Wissenschaftler der Welt (19), aber, wie es scheint, mir mehr Erfolg, weil sie Millionen junge Menschen auf der ganzen Welt mobilisiert. Sie schichtet die Diskussion um: Was geht, reicht nicht mehr. Der Maßstab für Regierungshandeln kann nur sein, was es braucht. Ihr Motto „Auf die Wissenschaft hören“ ist besonders wichtig, und ihre Kristallklarheit hat den Effekt des Kindes im Andersen Märchen: Der Kaiser ist nackt. Die widerliche Wut, die ihr entgegenschlägt – nicht ihren Argumenten, sondern ihrer Person – unterstreicht nur, wie präzise sie den Nerv getroffen hat. Und noch etwas: Ideen werden Realität, wenn sie mit einer Person in Verbindung gebracht werden. Mahatma Gandhi, Nelson Mandela, Willy Brandt, Michail Gorbatschow – und nun Greta Thunberg. Sie ist ein Glücksfall für die Welt.

Wo müssen Forschung und Politik gegebenenfalls ganz andere Akzente setzen: Alle stürzen sich gerade auf Elektroautos, Schadstoffreduzierung usw. – aber sind das die wirklichen Probleme und richtigen Aktivitäten?

Nach dreißig verschwendeten Jahren gibt es keine Patentlösung mehr. Wenn es sie je gab. Aber es ist schon wichtig zu erkennen, dass die Therapie im fortgeschrittenen Krankheitsstadium eine andere ist als früher. Das Überthema ist Dekarbonisierung und Kreislaufwirtschaft. Die Elektrifizierung aller Lebensbereiche und die massive Investition in erneuerbare Energien ist unabdingbar, ebenso die Ausschöpfung aller Energiesparpotenziale. Die deutsche Akademie der Wissenschaften Leopoldina hat einen umfassenden Plan vorgelegt (20).

Inwieweit besteht die Gefahr, dass die Corona-Pandemie und ihre Folgen als perfekte Ausrede dienen, um die Klimaziele zu verschleppen?

Die Gefahr ist real. Zur erdrückenden Gesundheitskrise kommen ja noch die Verheerung der Wirtschaft und der unter einem Schuldenberg zusammenbrechende Finanzsektor. Ein weiterer Schock wird folgen, wenn sich die Corona-Pandemie in Afrika, Nahost, Lateinamerika und Russland ausbreitet.

Die allgemeine Erschöpfung könnte durchaus den Weg zum „Weiter so“ bereiten, aber auch einer „Fin de siècle”-Stimmung. Beides wäre fatal. „Weiter so“ ist eine offensichtliche Sackgasse, nicht weniger das Zelebrieren von Endzeitszenarien. Die Krise, wenn sie denn genutzt wird, kann helfen, in einer ohne sie undenkbaren Dimension die Zukunft zuversichtlich zu gestalten.

Und wo und wie könnte die Corona-Pandemie sogar die Chance für eine echte Kehrtwende sein?

Dient die Wirtschaft den Menschen, oder umgekehrt? Sind Lösungen zu schwierig oder zu teuer? Ist es sinnvoll, auf Fachleute zu hören? Sind Daten, Fakten, Zusammenhänge nützlich? Dies wird nicht die letzte Krise sein. Wenn erkannt wird, dass die Corona-Pandemie kein Ausrutscher war und nach ihrer Überwindung nicht alles so weitergehen kann wie vorher, ist viel gewonnen. Es könnte klarer nicht sein, dass die Vorbereitung auf Krisen stattfinden muss wenn alles gut läuft und Zeit sowie Ressourcen zur Verfügung stehen. Ist die Katastrophe erst einmal geschehen, muss man auf bestehende Kapazitäten zurückgreifen können, nicht diese erst aufbauen müssen.

Die Corona-Pandemie entwickelte sich nicht unvorhergesehen. Warnungen gab es genug, selbst in Trumps Weißem Haus (21). Überraschend war die Überraschung der politischen Entscheidungsträger. Hätten sie die Warnsignale ernst genommen, wären hunderttausende Menschenleben und Billionen Dollar oder Euro wirtschaftlichen Schadens verhindert worden. Genauso ist es mit der Erderhitzung. Vor dreißig Jahren hätte die CO2-Emissionskurve relativ leicht nach unten gebogen werden können – wie letzthin die Coronakurve in Südkorea oder Singapur, aber das wurde versäumt und erfordert nun ungleich schmerzlichere, kostspieligere und schwierigere Schritte.

Die Klimakrise ist in vollem Gange. Fatal wäre es anzunehmen, nach der Überwindung der Covid-19-Pandemie zur Tagesordnung übergehen zu können. Die Arbeit beginnt erst, weil die nächste Katastrophe schon stattfindet und die Buchführung der Natur ihren eigenen Gesetzen folgt. //

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FUSSNOTEN / QUELLEN:

(1) Resolution Schutz des Weltklimas für die heutigen und die kommenden Generationen (A/RES/43/53 vom 6. Dezember 1988; https://www.un.org/Depts/german/gv/gv-bd-early/a-43-49-bd1.pdf, S. 155)

(2) Das Gesetz für den Vorrang Erneuerbarer Energien (Erneuerbare Energien Gesetz, EEG) wurde vom deutschen Bundestag am 25. Februar 2000 verabschiedet und trat am 1. April 2000 in Kraft (Bundesgesetzblatt Jahrgang 2000, Teil 1 Nr. 13, ausgegeben zu Bonn am 31. März 2000, S. 305); https://www.bgbl.de/xaver/bgbl/start.xav?startbk=Bundesanzeiger_BGBl&jumpTo=bgbl100s0305.pdf#__bgbl__%2F%2F*%5B%40attr_id%3D%27bgbl100s0305.pdf%27%5D__1585599699089. Siehe auch:https://www.iwr.de/re/iwr/info0005.html

(3) Gerhard Hofmann, „20 Jahre Erneuerbare-Energien-Gesetz: EEG weiterhin wichtigster Klimaschutz-Motor.“SOLARIFY, 25. Februar 2020; https://www.solarify.eu/2020/02/25/980-20-jahre-erneuerbare-energien-gesetz/

(4) United Nations Environment Programme (UNEP); The Montreal Protocol on Substances that Deplete the Ozone Layer; https://ozone.unep.org/treaties/montreal-protocol

(5) „Wir, die Völker: Die Rolle der Vereinten Nationen im 21. Jahrhundert.” Bericht des Generalsekretärs (A/54/2000 vom 27 März 2000, Teil V: Eine Zukunft für die kommenden Generationen, Seite 43, Paragraph 261); https://www.un.org/Depts/german/millennium/a54-2000.pdf

(6) Statistisches Bundesamt, „Weiteres Rekordjahr: 124,4 Millionen Fluggäste starteten 2019 von deutschen Flughäfen,” Pressemitteilung Nr. 50, 18. Februar 2020; https://www.destatis.de/DE/Presse/Pressemitteilungen/2020/02/PD20_050_464.html

(7) IATA IndustryStatistics, Fact Sheet, December 2019; https://www.iata.org/en/iata-repository/pressroom/fact-sheets/fact-sheet---industry-statistics/

(8) Genesis, 1. Buch Moses, Vers 28: https://www.bibel-online.net/buch/schlachter_1951/1_mose/1/

(9) Enquete-Kommission „Vorsorge zum Schutz der Erdatmosphäre,“ gemäß Beschluss des Deutschen Bundestages vom 16. Oktober und vom 27. November 1987 (Drucksachen 11/533, 11/787, 11/971, 11/1351) – Erster Zwischenbericht vom 2. November 1988 (Drucksache 11/3246); http://dipbt.bundestag.de/doc/btd/11/032/1103246.pdf

(10) Rede von Bundeskanzlerin Angela Merkel im Rahmen der UN-Klimakonferenz COP 23 am Mittwoch, dem 15. November 2017; https://www.bundeskanzlerin.de/bkin-de/aktuelles/rede-von-bundeskanzlerin-merkel-im-rahmen-der-un-klimakonferenz-cop-23-am-15-november-2017-in-bonn-445896

(11) Hierzu verschiedene Quellen:

(12) Joint science academies’ statement: Global response to climate change, June 2005; https://royalsociety.org/-/media/Royal_Society_Content/policy/publications/2005/9649.pdf

(13) Matt Apuzzo and David D. Kirkpatrick, "Covid-19 Changed How the World Does Science, Together."The New York Times; 1 April 2020; https://www.nytimes.com/2020/04/01/world/europe/coronavirus-science-research-cooperation.html?searchResultPosition=1

(14) Das Russell-Einstein Manifest, 9. Juli 1955; http://umich.edu/~pugwash/Manifesto.html

(15) Scientists for Future; https://www.scientists4future.org/; Fakten: https://www.scientists4future.org/fakten/

(16) Greta Thunberg, United Nations Climate Action Summit, 23 September 2019; https://www.youtube.com/watch?v=TMrtLsQbaok

(17) Climate Change Performance Index;https://germanwatch.org/de/17281, https://www.climate-change-performance-index.org/

(18) Joachim Wille, „Kippelemente.“ Klimareporter, Serie von Januar bis März 2020; https://www.klimareporter.de/tag/serie-kippelemente

(19) Um nur einige Beispiele zu nennen:

(20) Nationale Akademie der Wissenschaften Leopoldina, „Klimaziele 2030: Wege zu einer nachhaltigen Reduktion der CO2-Emissionen.“ Juli 2019; https://www.leopoldina.org/uploads/tx_leopublication/2019_Stellungnahme_Klimaziele_2030_Final.pdf

(21) Council of Economic Advisers, “Mitigating the Impact of Pandemic Influenza through Vaccine Innovation.” Executive Office of the [US] President. September 2019; https://mail.google.com/mail/u/0/?tab=wm&ogbl#sent?projector=1; U.S. department of Health and Human Services, Office of the Assistant Secretary for Preparedness and Response, “Crimson Contagion,” Functional Exercise – After Action Report. October 2019; https://int.nyt.com/data/documenthelper/6824-2019-10-key-findings-and-after/05bd797500ea55be0724/optimized/full.pdf

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