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Vor einem nach Orientierung lechzenden Publikum entblößt sich in der Corona-Krise die Wissenschaft und zeigt auf offener Bühne ihr innerstes Wesen: Zweifel, Fragen, Auseinandersetzung – und Erkenntnis

Stell dir vor, alle hören dir zu und tun, was du sagst: Davon konnten die meisten Wissenschaftler bislang nur träumen. Zumindest für Virologen wird der Traum in der Corona-Krise wahr. Eine Handvoll Mediziner ist es, die zu Beginn der Corona-Krise vor Kameras, Mikrofone und Politiker tritt, um die Gefahr einzuschätzen und Empfehlungen zu geben: Prof. Dr. Christian Drosten (Berlin), Prof. Dr. Alexander Kekulé (Halle), Prof. Dr. Hendrik Streeck (Bonn), Prof. Dr. Marylyn Addo (Hamburg-Eppendorf), Prof. Dr. Jonas Schmidt-Chanasit (Hamburg) – und natürlich der Präsident des Robert Koch-Instituts, Prof. Dr. Lothar Wieler. An ihren Lippen hängen alle, Öffentlichkeit und Politik.

Ende Februar – es gibt zwei Todesfälle in Deutschland, erste Ausgangssperren in Italien und ein Internetvideo des pensionierten Lungenarztes Dr. Wolfgang Wodarg, das die Pandemie zum Irrtum erklärt – wagt Christian Drosten ein Kommunikationsexperiment: ein tägliches Podcast im Radiosender NDR Info, in dem er, unterstützt von einer Redakteurin, über den aktuellen Wissensstand und von Hörern zugesandte Fragen spricht. Drosten redet lang und ausführlich: Wie gehen die Forscher vor, warum ist eine Studie aussagekräftig und eine andere nicht, warum brauchen manche Erkenntnisse Zeit, wie kann man Schlüsse ziehen? Drosten zweifelt, benennt Ungewissheiten, irrt sich, korrigiert sich. Nennt zum Beispiel das Tragen von Mundschutz erst „höflich“, dann nützlich, rät erst von Schulschließungen ab, dann zu. Alles richtig gut erklärt, aber: Wissenschaft pur. Kann man das dem Publikum zumuten, in einer Situation, in der die Bevölkerung mehr denn je nach eindeutigen Botschaften verlangt? Ja, man kann. Der Podcast ist überwältigend erfolgreich, 20 Millionen Menschen rufen nach Angaben der Redaktion regelmäßig die Folgen ab.

Ein zuhörendes Publikum, das sind schöne Aussichten für die Wissenschaftskommunikation. Während Kekulé im Mitteldeutschen Rundfunk mit einem eigenen Podcast nachzieht, melden sich immer mehr Wissenschaftler zu Wort, Psychologen, Ökonomen, Soziologen, Kulturwissenschaftler, Mathematiker. Viele kommunizieren auf den Plattformen ihrer eigenen wissenschaftlichen Institutionen. So sendet die Leibniz- Gemeinschaft einen täglichen Corona-Podcast, in dem eine Journalistin Wissenschaftler interviewt. Universitäten veröffentlichen wissenschaftliche Beiträge oder Interviews mit Wissenschaftlern auf ihren Onlineportalen. Die Freie Universität Berlin lässt Wissenschaftler wie den Historiker Prof. Dr. Paul Nolte zu Wort kommen, die Universität Bayreuth publiziert Beiträge von Wissenschaftlern aus verschiedenen Disziplinen, auch, um mehr „interdisziplinäres Querdenken“ in den Medien anzuregen, so Christian Wißler von der Pressestelle. Davon profitiert hier beispielsweise die Professorin für Kultur und Technik in Afrika, Prof. Dr. Uli Beisel, die einiges zu afrikanischen Erfahrungen mit Epidemien sagen kann. „Ich wurde schon ganz ungeduldig und wollte mich selbst melden“, sagt sie. „Generell werden in meinem Feld mehr Männer gefragt.“ Aber dann sei die Pressestelle auf sie zugekommen. Anschließend folgte ein Interview im Bayerischen Rundfunk. Sonst sei medial nichts passiert, so Beisel, zum Glück vielleicht, im Homeoffice mit kleinen Kindern und der Vorbereitung eines Semesters mit digitaler Lehre sei für Öffentlichkeitsarbeit wenig Zeit.

Weniger entspannt verfolgt der Sportmediziner Prof. Dr. Perikles Simon von der Universität Mainz das Geschehen. Mit Unterstützung der Pressestelle hat er eine eigene Berechnungsmethode zur Vorhersage des Bedarfs an Intensivbetten veröffentlicht, für die sich aber nur seine Kollegen interessiert hätten. Es sei kein Durchkommen in der Öffentlichkeit für kritische Ansätze, schimpft er. Medien und Politiker hätten zu den Ausgangsbeschränkungen meist dieselben Experten befragt. Sie achteten dabei nicht darauf, welche ökonomischen Interessen im Spiel seien und ignorierten somit auch etwaige Interessenkonflikte ihrer Ratgeber. „Man beschränkt sich momentan besser auf eigene Publikationen“, sagt Simon.

 „Stark irritiert“ zeigt sich auch der Literatur- und Kulturwissenschaftler Prof. Dr. Johannes Lehmann von der Universität Bonn. Auf deren Internetseite kritisiert er im März in einem Fachbeitrag das Paradigma der „Rettungspolitik“, das sich gegen jede Kritik immunisiere. Auch sei die Streitkultur in der Wissenschaft phasenweise zum Erliegen gekommen und die Medien, vor allem das Fernsehen, hätten eine Art „Selbstgleichschaltung“ vorgenommen, sagt Lehmann, „grauenhaft“. Deshalb habe er sich sehr gerne beteiligt, als der Kommunikationschef der Universität Bonn, Dr. Andreas Archut, aufrief, sich aus dem Homeoffice auf dem Uni-Portal mit Fachbeiträgen oder auch Tipps zu Wort zu melden.

Die Beiträge stehen unter dem Titel „Lebenszeichen“ auf der Website der Uni. Archut sagt, ihm gehe es dabei um den inneren Zusammenhalt an der Hochschule, sichtbar zu bleiben und sich wahrzunehmen, untereinander, aber auch für die Studierenden. Die Pressestelle spielt die Beiträge auch an die Medien. Gleich der erste Beitrag des Philosophen Prof. Dr. Markus Gabriel, der die Grenzschließungen kritisierte und eine Verständigung der Völker forderte, wurde von mehreren Medien in Deutschland, Spanien und der Schweiz aufgegriffen und in rund ein Dutzend Sprachen übersetzt.

Die Medien haben durchaus Interesse an neuen Gesprächspartnern, bestätigt der Pressesprecher der Humboldt-Universität zu Berlin, Hans-Christoph Keller. „Unsere Wissenschaftler werden direkt oder über die Pressestelle angefragt, zum Beispiel die Psychologin Ulrike Lüken, der Physiker Dirk Brockmann, die Sozialwissenschaftler Andreas Reckwitz und Steffen Mau oder auch der Rechtswissenschaftler Christoph Möllers“, sagt Keller. Dass anfangs oft dieselben Protagonisten in der Öffentlichkeit auftraten, habe in der Natur der Sache gelegen, sagt Volker Stollorz, Geschäftsführer und Redaktionsleiter des Science Media Center, das Expertise für die journalistische Berichterstattung über Wissenschaft anbietet und bei der Expertensuche hilft: „Es gibt nicht so viele Leute, die sich in so einem Spezialgebiet wirklich auskennen.“ Der Bedarf an Information sei groß. Zu den 900 beim Center akkreditierten Journalisten seien in der Corona-Krise noch einmal 150 dazugekommen.

Seit März werden die Virologen, die Corona-Expertise besitzen, mit Anfragen überschüttet. Wer sie sprechen will, muss einen sehr großen Namen tragen. Die Pressestellen der betreffenden Unikliniken sind vollkommen überlastet. Ebenso das Robert Koch-Institut und die Pressestellen der zuständigen Behörden und Ministerien in Bund und Ländern. Eine „Expertenverknappung“ nennt Stollorz das Anfang April, und die Organisation der Wissenschaftsjournalisten, die Wissenschaftspressekonferenz (WPK), fordert in einem offenen Brief, die Pressestellen aufzustocken. Alleingelassen mit vielen verschiedenen Aussagen und ohne in der Lage zu sein, die Qualifikation der Experten zu beurteilen, verliert das Publikum die Orientierung. Der Wissenschaftsredakteur der Berliner Zeitung Torsten Harmsen sieht die Medien in einer Leitfunktion: „Wir müssen sortieren, welche Information seriös ist und welche nicht“, sagt er. „Wo mir die Expertise fehlt, stelle ich die Meinungen von Experten zusammen. Es darf aber kein reines Sammelsurium werden.“

Um Ostern verlagert sich die Debatte auf die Strategie nach den Ausgangsbeschränkungen. Vermehrt treten die Wissenschaftler in Teams auf. Im Regierungsauftrag erarbeitet die Leopoldina Empfehlungen, aber auch andere Wissenschaftler legen Vorschläge vor, darunter vier Wissenschaftler von der Helmholtz-Gemeinschaft. Der Medienstar der ersten Stunde, Christian Drosten, zieht sich derweil für ein paar Tage in sein Podcast zurück, um sich vor der Vereinnahmung seiner Person zu schützen und dort in Ruhe auszuführen, was ihm wichtig ist – bis am Gründonnerstag der Bonner Kollege Hendrik Streeck erste Zwischenergebnisse seiner Untersuchung über die Verbreitung der Krankheit in Heinsberg vorlegt und in Aussicht stellt, die Kontaktsperren könnten vielleicht bald gelockert werden.

Es geht um viel. Aber ist es wirklich ein Dienst an der Öffentlichkeit, ungesicherte und vorläufige Ergebnisse herauszugeben? Oder stecken Geltungsbedürfnis und Verflechtungen mit der Politik dahinter, wie die Zusammenarbeit Streecks mit einer PR-Agentur und der Auftrag der nordrhein-westfälischen Landesregierung nahelegen? In jedem Fall ist es ein Wagnis. Noch am selben Tag steht Christian Drosten wieder an der Rampe, zweifelt via Science Media Center und heute-journal die Datenqualität von Streecks Untersuchung an und fordert Manuskripte zum Nachlesen.

Soweit normal: Ein Wissenschaftler erforscht etwas, die anderen lesen und streiten. Nur dass jetzt die Öffentlichkeit live dabei ist – und ratlos von einem zum anderen schaut. Was soll man glauben? Vielleicht mehren sich ja nach den Stimmen der Wissenschaft auch die Stimmen qualifizierter Journalisten und helfen dem irritierten Publikum, aus dem vielstimmigen Konzert der Wissenschaft die wichtigen Stimmen herauszuhören.














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