Lernen von den Nachbarn in Nordeuropa
Vorbilder in Skandinavien: Bei der Anrechnung von Erfahrungen aus der Berufspraxis gibt es an deutschen Hochschulen noch keine einheitliche Linie. Neue Wege erproben Finnland und Estland.
Die Pflege ist nur einer von vielen Bereichen, in denen es brennt: Schon heute gibt es viel zu wenig Personal. Damit wird es auch immer drängender, mehr Durchlässigkeit zwischen beruflicher und akademischer Bildung zu schaffen. Denn wer könnte die Lücke besser füllen als Menschen, die bereits praktische Erfahrung auf dem Gebiet haben?
Nicht nur zur Verbesserung der Bildungschancengleichheit verständigten sich 2009 die Bundesländer darauf, ein Studium ohne Abitur oder Hochschulreife zu ermöglichen. Doch wie Hochschulen das lösen, dazu gibt es bisher kein einheitliches Vorgehen. Zudem spielt die Anerkennung non-formaler Qualifikationen – das Wissen und die Erfahrungen, die jemand im Berufsleben gewinnt, aber nicht per Zeugnis nachweisen kann – in Deutschland nur eine geringe Rolle.
„Da können wir von Finnland und Estland lernen“, sagt Diplomsoziologe Karsten König, Koordinator des EU-Forschungsprojekts „Promoting the Recognizability of Learning outcomes from vocational education to higher Education“ (Relate). Mit seinem Team von der Fachhochschule (FH) Dresden und der Akademie für berufliche Bildung in Dresden hat König zusammen mit Projektpartnern in Tallinn (Estland) und Kuopio (Finnland) die Verfahren der Anerkennung in den drei Ländern verglichen. Im Fokus: die Berufe im Sozial- und Gesundheitsbereich.
Die Unterschiede liegen bereits in den Strukturen: In Finnland und Estland beraten Studienbüros Interessenten, die kein Abitur haben – wohl aber praktische Erfahrung. Das Personal dort überprüft vorhandene Qualifikationen und entwirft mit den angehenden Studierenden ein persönliches Curriculum. Denn wenn Leistungen anerkannt werden, so König, werden einzelne Seminare oder Vorlesungen überflüssig. Echtes Neuland betreten die beiden Länder aber damit, dass sie in den Studiengängen der Gesundheits- und Sozialpflegeberufe auch die nicht formal nachweisbaren Qualifikationen zu erfassen versuchen – und gegebenenfalls anerkennen.
So gibt es im finnischen Kuopio ein Labor, in dem Arbeitssituationen simuliert werden. Es ist wie ein Krankenzimmer ausgestattet: mit den wichtigsten Geräten, Betten und mit Patientenpuppen. Hier stellen die Studienbewerber ihr Können unter Beweis, etwa indem sie mit dem Patienten „sprechen“ und bestimmte Handgriffe anwenden. Die Leitung entscheidet dann, welches Vorwissen angerechnet werden kann und im Studium nicht mehr vermittelt werden muss. Also zum Beispiel, ob die Pflege korrekt und die Ansprache der Patienten zugewandt und verständnisvoll ist.
Mit dieser Kombination aus Einzelfallprüfung und Simulation werden die Finnen den einzelnen Interessenten zwar gerecht; beides kostet aber viel Zeit und Personal, weshalb die nordischen Partner wiederum stark an dem in Deutschland gängigen pauschalen Anerkennungsverfahren interessiert waren. Damit wiederum hat das Team der FH Dresden Erfahrung: Für die Bachelor-Studiengänge Sozialpädagogik und Management sowie Pflege- und Gesundheitsmanagement suchte es engen Kontakt zur Berufsschule.
Gemeinsam haben die beiden Institutionen in penibler Kleinarbeit Lernergebnisse, die in der Ausbildung erworben werden, in einer Liste erfasst. Anschließend überprüften sie, inwiefern sich diese mit den anvisierten Lerninhalten der Studienmodule deckten. Für bestimmte Kompetenzen – wie Kommunikationstheorie oder die Arbeit mit Kindern – erfolgt die Anrechnung nun pauschal für alle, die die Ausbildung zur staatlich anerkannten Erzieherin oder Pflegerin abgeschlossen haben.
Trotzdem hält es Karsten König für wichtig, dieses pauschale Verfahren um ein Einzelgespräch zu ergänzen. „Die Kompetenzen sind die eine Seite. Wir wollen aber auch herausfinden, ob jemand Interesse am wissenschaftlichen Denken und Schreiben hat“, sagt er. „Stellt man erst im Studium fest, dass einem das schwer fällt, kann das sehr belastend sein oder sogar zum Studienabbruch führen.“ Allerdings wüssten noch zu wenige Berufstätige von den Möglichkeiten einer akademischen Bildung. Die Hochschulen sollten deshalb nicht nur feste Beratungsstellen für diese Zielgruppe einrichten, findet König – sondern über Unternehmen, Wirtschaftskammern und Arbeitsämtern den Kontakt zu potenziellen Studierenden suchen.
Aus der Praxis
Aus der Praxis
Initiativen in Deutschland zur Anrechnung beruflicher Qualifikationen für ein Hochschulstudium
ANKOM-Initiative
„ANKOM – Übergänge von der beruflichen in die hochschulische Bildung“ ist eine Initiative des Bundesministeriums für Bildung und Forschung (BMBF). Von 2011 bis 2014 wurden 20 Projekte an Unis, Fachhochschulen und einem Bildungswerk gefördert, um Übergangsmaßnahmen an Hochschulen zu implementieren. Allerdings, betont Stefanie Schröder vom Deutschen Zentrum für Hochschul- und Wissenschaftsforschung (DHZW), kann nicht ein einzelnes Projekt als „Blaupause“ gelten: „Jede Hochschule muss die Bedingungen vor Ort berücksichtigen, um eine gute Anrechnungspraxis zu entwickeln.“
Internet: http://ankom.dzhw.eu/
Bundesweite Datenbank
Auf der Plattform Dabekom können bundesweit Studienangebote recherchiert werden, in denen die Anerkennung beruflicher Qualifikationen möglich ist – pauschal oder individuell. Auch die Anbieter der beruflichen Aus- und Weiterbildung und die Hochschulen selbst können hier fündig werden. Die Plattform wird von der Fachhochschule Bielefeld betrieben.
Internet: http://www.dabekom.de/
Übersicht
Weitere Initiativen, Empfehlungen und Studien zum Thema:
Internet: http://tiny.cc/c8rx5x
Das Relate-Projekt
Das Relate-Projekt
Ziel von Relate ist es, Ergebnisse aus vorangegangenen europaweiten Initiativen zur Durchlässigkeit zwischen Berufs- und Hochschulbildung zusammenzuführen und diese an nationale Rahmenbedingungen anzupassen. Der Fokus dieser EU-Forschungsinitiative liegt dabei auf den Sozial- und Gesundheitspflegeberufen.
Studie zur Verzahnung
Studie zur Verzahnung
Die Zahl der Azubis wird weiter sinken, die Zahl der Studierenden weiter steigen. Die Folge: Der Fachkräfte-Mangel verschärft sich. Diese Prognose liefert auch eine aktuelle Studie der Bertelsmann-Stiftung. Doch statt die beiden Bildungssysteme gegeneinander auszuspielen, sollten den Autoren zufolge berufliche Bildung und Hochschulbildung besser miteinander verzahnt werden. Die Anerkennung von Qualifikationen müsse in beide Richtungen verbessert werden: sowohl für Studienabbrecher, die in eine Ausbildung wechseln, als auch für Berufstätige, die sich an der Hochschule weiterbilden wollen. Bislang zeigen die Fachhochschulen, darunter auch einige private, die größte Bereitschaft zur Durchlässigkeit.
DUZ Karriere Letter 10/2015 vom 04.12.2015