Diabetes bekämpfen
Genetische Veranlagung und Hormone können für Adipositas verantwortlich sein. Mit den Mitteln dagegen lässt sich auch Diabetes bekämpfen. Der Neuroendokrinologe Matthias Tschöp hat dafür den Weg geebnet.
Warum sind hier eigentlich so viele Menschen so dick, wunderte sich Prof. Dr. Matthias Tschöp, als er, damals noch Assistenzarzt, am Klinikum der Universität München die Patienten betreute. Es waren die 1990er-Jahre und seit rund hundert Jahren kannte man das für den Zuckerstoffwechsel verantwortliche Hormon Insulin. „Trotzdem laufen immer mehr statt weniger Menschen mit Diabetes und massivem Übergewicht herum“, dachte Tschöp. „Man müsste ein Medikament gegen Adipositas finden!“ Ein Mittel, mit dem sich der Stoffwechsel einstellen ließe, ähnlich wie beim Blutdruck. Dann würde man auch Fälle von Diabetes Typ 2 in den Griff bekommen, die erst im Laufe des Lebens entstehen, also ernährungs- und gewichtsbedingt sind.
Tschöp machte sich in den folgenden Jahren auf die Suche nach einer Lösung. Als Neuroendokrinologe führt er die Ursachen für Diabetes Typ 2 und schweres Übergewicht auf die genetische Veranlagung und die Hormone zurück. Die urzeitliche Programmierung des Menschen, auf Vorrat viel zu essen, führe zu übermäßiger Nahrungsaufnahme, sobald Nahrungsmittel im Überfluss vorhanden seien. Mit fatalen Folgen, wenn sie auch noch so viel Zucker und Fett enthalten, wie es heute der Fall ist. Werbung und ständige Konfrontation mit Appetitanregendem tun ein Übriges. Tschöp argumentiert zudem epigenetisch: „Die Umwelt und das Verhalten führen dazu, dass manche Gene weniger abgelesen werden, was sich auch vererben kann.“
Das „Hungerhormon“ blockieren
Den Schlüssel zur Lösung fand er, indem er das sogenannte „Hungerhormon“ Ghrelin entdeckte, das im Gehirn das Hungergefühl auslöst. Gelingt es, dieses Hormon zu blockieren, so reduziert sich die Esslust. Die Lösung dafür sind bioidentische Moleküle, die es nicht nur zu finden, sondern auch geschickt zu kombinieren gilt. Sie vermögen die Wirkung des Hormons Ghrelin so stark zu blockieren, dass bei den Patienten nicht nur der Blutzuckerspiegel und die Blutfette sinken, sondern dass sie auch an Körpergewicht verlieren – und somit helfen, Diabetes wie auch Adipositas in den Griff zu bekommen. Mit diesem Effekt macht bereits das zunächst nur für Diabetes eingesetzte Medikament Semaglutid von sich reden, und inzwischen sind neuere Präparate in der Zulassung, an deren Entwicklung Tschöp beteiligt war: Sie kombinieren GLP-1 und GIP, zwei Agonisten, die die Wirkung von Ghrelin einschränken. Sie sorgen dafür, dass das Hungergefühl sinkt. Das Sättigungsgefühl setzt schneller ein und ihre Kombination erzeugt ersten Studien zufolge noch deutlich stärkere Effekte als Semaglutid. Das neue Mittel heißt Tirzepatid (Mounjaro/Zepbound, von Eli Lilly) und hat eine EU-Zulassung für Diabetes Typ 2, ist allerdings noch nicht in Deutschland erhältlich, und die Zulassung für die Adipositas-Behandlung steht noch aus. Ein weiteres Mittel mit einer Dreifachkombination ist ebenfalls auf dem Weg (Retatrutid).
Tschöp sieht ein gesünderes Leben für Millionen von Menschen zum Greifen nah: „Zwischen 90 und 95 Prozent aller Diabetiker haben Diabetes Typ 2. Wenn es uns gelingt, ihren Stoffwechsel neu einzustellen, bekommen wir die Diabetes-Pandemie in den Griff.“ Von einer „neuen Ära“ sprach sogar die Schering Stiftung, die Tschöp im August 2023 für seine Forschungsarbeiten mit dem Ernst Schering Preis ausgezeichnet hat, nachdem ihm im Juni die American Diabetes Association (ADA) als erstem Deutschen schon die Banting-Medaille verlieh.
In den USA die Spur gefunden
Die Anwendung der Medikamente ist noch jung, aber wenn sie halten, was sie versprechen, wäre das über Ruhm und Ehre hinaus das Happy End für Tschöps Forschung, die viele Jahre voller Geduld und Beharrlichkeit erforderte – und die rund zwölf Jahre lang in den USA stattfand. Dort hatte der Molekulargenetiker Prof. Dr. Jeffrey M. Friedman 1994 das „Sättigungshormon“ Leptin entdeckt. Manchen Menschen fehlt es und sie neigen zu maßlosem Essen. „Die Entdeckung war ein Durchbruch“, sagt Tschöp. Doch seltsamerweise reichte es nicht aus, Leptin zu substituieren, um die Esslust zu bremsen. So kam Tschöp darauf, das „Hungerhormon“ zu suchen. Mit dieser Forschungsfrage ging er nach seiner Zeit in der Klinik in München 1999 als Postdoc nach Indianapolis und machte sich mit einen Forschungsstipendium des Pharmaunternehmens Ely Lilly auf die Suche – jenes Unternehmen hatte als erstes Leptin synthetisiert. 2000 gelang es ihm dort, Ghrelin zu identifizieren. Nach einem Zwischenspiel am Deutschen Institut für Ernährungsforschung in Potsdam in den Jahren 2002 und 2003 setzte er seine Arbeit in den USA an der University of Cincinnati bis 2011 fort. Zusammen mit dem Chemiker Prof. Dr. Richard DiMarchi, den er beim Pharmakonzern Eli Lilly kennengelernt hatte, suchte und entwickelte er dort die Polyagonisten, mit denen das Hormon in den Griff zu kriegen ist.
Was war besser in den USA? Tschöp zitiert das Credo „Yes we can“ des früheren US-Präsidenten Barack Obama und sagt: „In den USA schaut man auf das Machbare. In Deutschland stehen dagegen immer die Hindernisse im Mittelpunkt.“ Er ließ sich trotzdem zurücklocken in seine Heimatstadt München, 2011, mit einer Alexander-von-Humboldt-Professur als Leiter der Abteilung für Stoffwechselerkrankungen an die Technische Universität München, als Forschungsdirektor an das Helmholtz Diabetes Center und als Direktor des Instituts für Diabetes und Adipositas am Helmholtz Zentrum München. Zudem ist er inzwischen Sprecher der Geschäftsführung des Helmholtz Zentrums und Vizepräsident der Helmholtz-Gemeinschaft Deutscher Forschungszentren im Bereich Gesundheit.
Kulturschock in Deutschland
Nach anfänglichem Kulturschock ob der Bürokratie, Überregulierung und endloser Gremiensitzungen in Deutschland, ist Tschöp im Wissenschaftsmanagement angekommen und hat sich den Auf- und Ausbau der Forschungsinfrastrukturen zur Aufgabe gemacht. Sein Ziel ist, die translationale Forschung voranzubringen, die Verknüpfung von Forschung und klinischer Versorgung. Das Pfund, mit dem dabei das oft als behäbig geschmähte Deutschland wuchern kann, ist die Grundfinanzierung für Wissenschaftler und Institute: Es gibt bleibende Strukturen und Forschende stehen nicht auf der Straße, wenn es mal mit der Anschlussförderung nicht klappt. „Man kann hier langfristig planen“, sagt Tschöp. „Das ist großartig.“ Er möchte das Beste aus beiden Welten kombinieren – in Deutschland Strukturen schaffen, in denen sich disziplinenübergreifend arbeiten lässt, Berührungsängste mit Unternehmen abbauen und sich dafür einsetzen, dass Daten der Krankenkassen für die Forschung zugänglich werden. Warum nicht jemanden von Google in die Wissenschaft holen, wenn es um künstliche Intelligenz geht? Am Helmholtz Pioneer Campus hat Tschöp in diesem Sinn den Bereich der Biomedizin aufgebaut und sich gegenüber Bedenkenträgern die Yes-we-can-Haltung bewahrt. Jüngst habe ein Mitarbeiter mit einem „Hochrisikoprojekt“ zwei bahnbrechende Entdeckungen gemacht, erzählt Tschöp. So soll es laufen: „Wenn man selber Energie und Optimismus verspürt, gelingt es auch, Leute mit der entsprechenden Einstellung zu rekrutieren.“ //
Matthias Tschöp
Meine Forschung – die Herausforderung:
Wir müssen die Typ-2-Diabetes-Pandemie stoppen und dazu Übergewicht bekämpfen. Dazu bedarf es hocheffektiver Wirkstoffe.
Mein Beitrag:
Zusammen mit dem Chemiker Richard DiMarchi gelang es, Zweifach- und Dreifach-Aktivatoren von Magen-Darm-Hormonrezeptoren zu entdecken, die zum ersten Mal eine Abnahme von mehr als 20 Prozent des Körpergewichts ermöglichen. Eine erste Version dieser Wirkstoffklasse ist bereits zugelassen, andere sind in fortgeschrittenen klinischen Studien.
Drohende Gefahren:
Bisher scheinen nur mildere Nebenwirkungen wie Übelkeit häufiger aufzutreten. Eine Herausforderung ist der Missbrauch als „lifestyle drug“ für Stoffwechselgesunde. Allerdings eignen sich dafür gerade die Polyagonisten nicht sonderlich, da sie mit sinkendem Körperfettanteil an Wirkung einbüßen.
Offene Fragen:
Zwar gelingt es mit den neuen Wirkstoffen, Körpergewicht zu normalisieren, aber die Symptome kommen wieder, wenn die Therapie stoppt. Wir arbeiten deswegen an weiteren Ansätzen, die tatsächlich Heilung bieten könnten.
Mein nächstes Projekt:
Ich möchte die akademischen Forschungsstrukturen in Deutschland so mitgestalten, dass mehr disziplinenübergreifende Forschung möglich ist und Berührungsängste mit Unternehmen abgebaut werden.
Foto: Matthias Tunger / Helmholtz Munich
DUZ Magazin 02/2024 vom 23.02.2024