Seltsames Schweigen
Die Taliban wüten seit ihrer Machtübernahme in Afghanistan vor zwei Jahren gegen Mädchen und Frauen. Diese werden systematisch von der Bildung ausgeschlossen, zwangsverheiratet und ausgebeutet. Ein Lichtblick könnten für sie Online-Bildungsangebote sein – wie die „Afghanistan Online University“. Das vom World University Service entwickelte Projekt ist startklar, nur erhält es keine Finanzierung.
„Jeder Mensch hat das Recht auf Bildung. … der Hochschulunterricht muss allen gleichermaßen entsprechend ihren Fähigkeiten offenstehen“ – so heißt es in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte, zu denen sich die meisten Staaten dieser Welt bekannt haben. Mit dem 1979 verabschiedeten Übereinkommen zur Beseitigung jeder Form von Diskriminierung der Frau – der Convention on the Elimination of All Forms of Discrimination against Women – verpflichten sich die Vertragsstaaten zudem, sich aktiv dafür einzusetzen, die Diskriminierung von Frauen in den Bereichen Kultur, Soziales, Bildung, Politik und Gesetzgebung zu beseitigen. Wenn es jedoch darum geht, Frauen in und aus Afghanistan den Zugang zu diesen grundlegenden Rechten zu ermöglichen, scheint die Wertigkeit dieser Rechte angesichts kriegerischer Auseinandersetzungen, gewaltsamer Machtübernahme oder nahender Klimakatastrophen zu schwinden.
Die Welt schien einfach nur zuzuschauen, als Mitte Mai dieses Jahres der afghanische Bildungsminister Habibullah Ara während der Einweihung einer religiösen Schule verkündete: „Afghanische Mädchen dürfen auch weiterhin keine Schulen besuchen.“ „Die Bedingungen erlaubten dies noch nicht“, so seine Begründung. Seit ihrer erneuten Machtübernahme im August 2021 haben die Taliban die Schulen für Mädchen ab der siebten Klasse geschlossen, gegen Ende 2022 wurden Frauen aus Wissenschaft und Hochschule ausgeschlossen. Sämtlichen einheimischen und ausländischen Nichtregierungsorganisationen wurde verboten, weibliche Mitarbeitende zu beschäftigen. Frauen dürfen nicht mehr in der Öffentlichkeit arbeiten, verloren ihre Stellen in Staat und Parlament, auch öffentliche Parks oder Schwimmbäder sind für sie verboten.
Afghanistan erlebe zurzeit unter den Taliban eine systematische und extremste Form der Auslöschung von Frauenrechten, meint auch UN-Sonderberichterstatter Richard Bennett in seinem jüngst veröffentlichten UN-Sonderbericht zur Lage der Menschenrechte in Afghanistan. Frauen in Afghanistan würden ein Leben unter Hausarrest führen. Besonders besorgniserregend sei die fortschreitende Auslöschung von Frauen aus dem öffentlichen Leben, der Anstieg von Gewalt gegen Frauen, die steigende Anzahl von Kinderehen, Drohungen, Belästigungen, willkürlichen Verhaftungen und Folter.
Bereits im Juli 2022 dokumentierte Amnesty International in seinem Bericht, wie das Leben von Frauen und Mädchen in Afghanistan durch die Taliban zerstört wird. Der Bericht zeigt: Das Recht der Frauen auf Bildung, Arbeit und Bewegungsfreiheit wird dauerhaft verletzt, die Möglichkeiten für Schutz und Unterstützung bei häuslicher Gewalt massiv reduziert. Frauen und Mädchen werden wegen geringfügiger Nichteinhaltung diskriminierender Vorschriften inhaftiert, bedroht und auch mit Elektroschocks gefoltert. Den Festgenommenen wird in der Regel das vage „Vergehen der sittlichen Verdorbenheit“ vorgeworfen. Die Zahl von Kinderehen und Zwangsheiraten steigt dramatisch an. Zentrale Ursachen hierfür sehen die Autoren des Berichts in der wirtschaftlichen und humanitären Krise, in fehlenden Bildungs- und Berufschancen für Frauen und Mädchen, im familiären Druck zur Heirat mit Taliban-Mitgliedern und im massiven Druck von Taliban-Angehörigen auf Frauen und Mädchen, sie zu heiraten. Hinzu kommen Rachemorde, Hinrichtungen von mutmaßlichen Widerstandskämpferinnen und -kämpfern im Schnellverfahren und andere Verbrechen. Unzählige Menschen sind einfach „verschwunden“, weil sie unter der vorherigen Regierung gearbeitet haben oder sie verdächtigt werden, am Widerstand gegen die Taliban beteiligt gewesen zu sein. Mehrere Millionen Afghaninnen und Afghanen sind bereits geflüchtet. Hauptzielländer sind der Iran und Pakistan, Tadschikistan, Turkmenistan und Usbekistan.
Afghanische Online-Universität – Konzept steht, Geld fehlt
Es brauche Bildung als Schlüssel, um diese frauenfeindliche Mentalität zu ändern – so der Appell von Dr. Sima Samar, Frauenrechtlerin, Ärztin, einst Ministerin für Frauenangelegenheiten und Vorsitzende der Unabhängigen Menschenrechtskommission in Afghanistan, in einer Anhörung vor der Enquete-Kommission zum Afghanistan-Einsatz des Deutschen Bundestages Ende Februar 2023.
Demokratie braucht ein starkes Fundament, so ihre Überzeugung, und damit Menschen, die an Demokratie und Menschenrechte glauben, und nicht Verantwortungsträger mit kriminellem Hintergrund. Samar appellierte an die Kommission, Afghanistan trotz aller Rückschläge nicht zu vergessen. Warum das so wichtig ist, erläutert Dr. Kambiz Ghawami, Vorsitzender des World University Service (WUS) in Deutschland. „Für die Zukunft Afghanistans, nach Ende der Taliban-Herrschaft, wird eine gut qualifizierte Generation, wenn nicht sogar Generationen von Persönlichkeiten, benötigt, die sich am Aufbau eines unabhängigen und selbstbestimmten Afghanistan beteiligen.“
Um insbesondere Studentinnen in den Flüchtlingslagern rund um Afghanistan eine Studienmöglichkeit zu eröffnen, hat der WUS gemeinsam mit afghanischen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern sowie internationalen Bildungsexpertinnen und -experten den Aufbau einer Afghanistan Online University (AOU) initiiert. Die Afghanistan Online University ist startklar und der Betrieb könnte kurzfristig aufgenommen werden – eigentlich. Denn was immer noch fehlt, ist eine verbindliche Finanzierungszusage. Dabei hatte das Europäische Parlament bereits im April 2022, auf Initiative seiner Vizepräsidentin Nicola Beer, fast einstimmig der Kommission und dem Europäischen Auswärtigen Dienst empfohlen, die AOU finanziell zu unterstützen. „Wir, die internationale Academic Community, sind aufgerufen, Tausenden von afghanischen Studierenden, Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern beizustehen und ihnen eine Zukunftsperspektive zu ermöglichen. Wir ermöglichen damit auch ein künftiges Afghanistan, das frei und selbstbestimmt mit einer selbstbewussten und starken Zivilgesellschaft seine Zukunft gestalten kann. Je länger der Start der AOU sich verzögert, umso mehr geht die Saat der Taliban auf“, mahnt Kambiz Ghawami.
Das Konzept der AOU wurde vom renommierten Kasseler Berufs- und Hochschulforscher Prof. Dr. Ulrich Teichler gemeinsam mit Hochschulexperten aus Kanada, Großbritannien, Frankreich, Österreich, der Technischen Universität Darmstadt und afghanischen Wissenschaftlern entwickelt. An dem Projekt sollten nicht nur die besten Expertinnen und Experten mitarbeiten, sondern auch deren internationale Netzwerke miteinbezogen werden. Die AOU soll gerade auch Studiengänge in den Sozial- und Geisteswissenschaften anbieten, die unter den Taliban verboten wurden, aber ebenfalls Wirtschaftswissenschaften und IT-Studiengänge in englischer Sprache, die gute Berufsperspektiven auf dem internationalen Arbeitsmarkt eröffnen. Lehre und Forschung sollen afghanische Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler verantworten. „Dadurch wollen wir verhindern, dass wie so oft in der Vergangenheit Exil-Wissenschaftlerinnen und -Wissenschaftler als Taxifahrer oder Pizzabäcker enden“, erläutert WUS-Vertreter Ghawami.
Das Studienangebot soll sich primär an Studentinnen und Studenten in Afghanistan richten und auch Menschen mit geringen finanziellen Mitteln ein Studium ermöglichen. Es soll sich auf die Städte und Regionen konzentrieren, in denen es eine Internetanbindung und Strom gibt. Die meisten Studierenden in Afghanistan hätten Zugang zu PCs, Laptops und Smartphones und könnten somit ein Online-Studium absolvieren, berichtet Ghawami. Natürlich sei das Risiko einer Internetzensur durch die Taliban virulent. Aber auch in anderen diktatorisch geführten Staaten könne man beobachten, dass junge Menschen durchaus kreativ mit solchen Einschränkungen umgehen können, etwa, indem sie Anti-Zensur-Tools nutzen.
Geplant sind mit der AOU rund 5000 Studienplätze, die in Kooperation mit Hochschulen in Deutschland, aber auch weltweit angeboten werden. Eine Reihe von Anfragen und konkreten Angeboten von Hochschulen seien bereits eingegangen, wie Kambiz Ghawami berichtet – aber: „Wir warten noch immer auf eine verbindliche politische Zusage der Finanzierung seitens der Bundesregierung und der EU-Kommission. Sobald diese vorliegt, können wir starten.“
Programm „Empower Future Female Afghan Leaders“ (EFFAL)
Auch das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ) will gemeinsam mit dem Deutschen Akademischen Austauschdienst (DAAD) rund 5000 Afghaninnen bis Ende 2027 dabei unterstützen, in den Nachbarländern Bangladesch, Kirgistan und Pakistan zu studieren. Dafür stellt das BMZ dem DAAD für das Programm „Empower Future Female Afghan Leaders“ an die sieben Millionen Euro zur Verfügung. „Damit schaffen sich die Frauen eine Perspektive für einen guten Job und einen gesicherten Lebensunterhalt. Und sie können ihr Land beim Wiederaufbau unterstützen, sobald es die Rahmenbedingungen in Afghanistan wieder zulassen“, erklärt Entwicklungsministerin Svenja Schulze. DAAD-Präsident Prof. Dr. Joybrato Mukherjee ergänzt: „Das neue Stipendienprogramm ist daher ein wichtiger Baustein, um gemeinsam mit unseren internationalen Partnerorganisationen jungen Frauen die Vorbereitung auf ein Studium zu ermöglichen und geflüchtete Afghaninnen mit Bachelor- und Masterstipendien an Hochschulen in der Region zu fördern.“
In Bangladesch vergibt der DAAD Bachelorstipendien an der Asian University for Women in Chittagong. In Kirgistan werden Masterstudiengänge an der American University of Central Asia (AUCA) gefördert. In Pakistan wird der DAAD über Partnerorganisationen Bachelor- und Masterstipendien primär für geflüchtete Afghaninnen anbieten. Der DAAD arbeitet in diesem Programm mit dem UN-Flüchtlingskommissariat (UNHCR), dem Jesuit Worldwide Learning, der Asian University for Women und der American University of Central Asia zusammen. „Die Universitäten wurden an den Standorten ausgewählt, wo sich aktuell die meisten geflüchteten afghanischen Studentinnen und Studenten aufhalten. In den drei ausgewählten Ländern befinden sich derzeit rund 1,5 Millionen afghanische Staatsbürgerinnen und Staatsbürger. Die ausgewählten Universitäten in Kirgistan und Bangladesch zählen zu den renommierten Universitäten in der Region. Die Zusammenarbeit mit der Frauenuniversität in Bangladesch dient der expliziten Frauenförderung. In Pakistan wird der DAAD gemeinsam mit Partnerorganisationen wie dem UNHCR die Stipendien an mehreren Universitäten anbieten, an denen jeweils eine größere Zahl afghanischer Flüchtlinge eingeschrieben ist“, schildert Katharina Koufen, Pressereferentin des BMZ, warum das BMZ sich für diese erste Hilfe entschieden hat.
Das BMZ hatte sich bisher, angesichts der katastrophalen humanitären Lage seit Machtübernahme der Taliban, auf die Basisversorgung der Bevölkerung (ohne Zusammenarbeit mit den Taliban) konzentriert. Maßnahmen im Hochschul- oder Wissenschaftsbereich wurden dadurch nicht gefördert. Die jetzt investierten sieben Millionen Euro werden sicherlich nicht ausreichen. Denn bei Studiengebühren von 15 000 US-Dollar pro Jahr und Einschreibegebühren von 600 US-Dollar zum Beispiel bei der Asian University for Women scheint hier ein Studium für mittellose afghanische Studentinnen eher unwahrscheinlich. Und so meint Katharina Koufen denn auch: „Die Idee zur Unterstützung universitärer Online-Angebote für afghanische Frauen, die weiterhin in Afghanistan leben, ist nach der Schließung der Universitäten für Frauen in Afghanistan durch die Taliban-Regierung am 20.12.2022 aus Sicht des BMZ prüfenswert.“
Auch der DAAD findet grundsätzlich digitale Angebote in einer solch schwierigen Situation für bedenkenswert. „Da es derzeit keine Möglichkeiten für Hochschulprojekte vor Ort gibt, ist der Blick in den virtuellen Raum und auf digitale Angebote sicherlich lohnend. Verschiedene Organisationen und Angebote können mit ihrer jeweiligen Expertise dazu beitragen, mehr für geflüchtete Afghaninnen und Afghanen zu tun“, so DAAD-Pressesprecher Michael Flacke. Dann dürfte der Afghanistan Online University doch eigentlich nichts mehr im Wege stehen – oder? //
Afghanistan Online University
Ende 2021 haben afghanische Exil-Wissenschaftlerinnen und -Wissenschaftler mit Unterstützung des World University Service (WUS) ein Konzept für die Afghanistan Online University (AOU) erarbeitet. Es sieht insbesondere Studienangebote für afghanische Studentinnen in Afghanistan und in den Flüchtlingslagern in den afghanischen Nachbarländern vor. Das Angebot soll von Hochschulen in Deutschland und weltweit bestritten werden.
In einer Entschließung am 7. April 2022 hat das Europaparlament die EU-Kommission dazu aufgefordert, die AOU zu fördern. Bis heute haben sich weder die EU-Kommission noch die Bundesregierung abschließend zu diesem Projekt geäußert oder eine finanzielle Unterstützung zugesagt.
Website: https://afghan-online-university.org/about-us
Email: ghawami@wusgermany.de
DUZ Magazin 09/2023 vom 22.09.2023