Vision für ein nachhaltiges Leben
Nachhaltigkeit in der Lehre ist essenziell, um den Nachwuchs für das Thema zu sensibilisieren. In den Hochschulen schreitet dies jedoch nur zögerlich voran. Warum es schneller gehen sollte und wo mehr Tempo notwendig wäre, erläutert die Nachhaltigkeitsexpertin Brigitte Biermann im Interview.
Bildung für Nachhaltige Entwicklung an den Hochschulen, am besten bis 2030: Das klingt ambitioniert. Aber ist das wirklich nötig?
Auch wenn sich viele Menschen das nicht bewusst machen: Wir stehen vor einer gewaltigen, die gesamte Gesellschaft betreffenden notwendigen Veränderung. In einem Gutachten des wissenschaftlichen Beirats der Bundesregierung aus dem Jahr 2011 wird sie als „große Transformation“ bezeichnet. Gemeint ist damit ein weltweiter Umbau von Wirtschaft und Gesellschaft, der sich in seinen Auswirkungen mit dem Wandel der Agrar- zur Industriegesellschaft vergleichen lässt. Die Hochschulen sind in dieser Diskussion ein wichtiger Motor, denn wir brauchen Fachkompetenzen zur Umsetzung dieser großen Transformation. Sonst rauschen wir in die Krise. Und deshalb ist Bildung für Nachhaltige Entwicklung so wichtig.
Diese Botschaft kommt in den Fachbereichen unterschiedlich stark an. In den Wirtschaftswissenschaften gibt es viele Studiengänge, die „Nachhaltigkeit“ oder „Sustainability“ im Titel tragen.
Das liegt daran, dass gerade diese Wissenschaften einen großen Druck aus der Wirtschaft verspüren: Denn die ist zunehmend gesetzlichen Anforderungen und staatlicher Regulierung ausgesetzt. Nehmen Sie zum Beispiel das neue Lieferkettengesetz: Es besagt, dass Unternehmen entlang der gesamten Lieferkette eine Sorgfaltspflicht für die Einhaltung der Menschenrechte haben, sie müssen Beschwerdemöglichkeiten einrichten, Abhilfemaßnahmen ergreifen und über ihre entsprechenden Aktivitäten berichten. Dadurch entstehen in Unternehmen neue Aufgaben und es macht Sinn, Studierende darauf vorzubereiten.
Und in den anderen Fächern?
Ich ecke mit dieser Haltung zwar oft an, aber ich sage: Das gehört in alle Fächer. Denn alle Zukunftsthemen, von Klimawandel über Migration bis zu sozialer Ungleichheit, werden von Umwelthemen berührt. In den technischen und ingenieurwissenschaftlichen Fächern liegt der Bezug auf der Hand: Mit hoch entwickelter Technik können wir sicher viele Probleme lösen. Aber es bringt nichts, wenn ihre Anwendung nicht gesellschaftlich akzeptiert ist oder wir Krisen nicht demokratisch bewältigen können. Eine wichtige Aufgabe für die Kultur- und Sozialwissenschaften ist deshalb, zu untersuchen, wie eine dekarbonisierte Gesellschaft funktioniert. Wie entscheiden wir zum Beispiel, wer noch Emissionen produzieren darf? Wir brauchen dringend eine Vision für eine positive Gesellschaft, für ein gutes, aber nachhaltigeres Leben.
Sie haben sich dem Thema Nachhaltigkeit verschrieben, als die Dringlichkeit dieser Fragen nicht zum Mainstream gehörte.
Ja, das stimmt. Ich bin ursprünglich Politikwissenschaftlerin, habe mich aber immer schon für die Zusammenhänge im Spannungsfeld Umwelt – Wirtschaft – Gesellschaft interessiert und interdisziplinär zu Umweltthemen gearbeitet: wie sich Gesellschaft entwickelt, wie und mit welchem Einfluss sich Technologie weiterentwickelt. Anfang der 2000er war das kein Karrierethema.
Es war aber trotzdem entscheidend für ihre Karriere. Sie lehren heute nachhaltiges Produktmanagement – obwohl Sie keine Wirtschaftswissenschaftlerin sind.
Ich habe in meiner Laufbahn unter anderem Unternehmen in Nachhaltigkeitsfragen beraten und auch zum Produktmanagement. Da ich an einer Hochschule für Angewandte Wissenschaften lehre, war dieser Praxisbezug meine Eintrittskarte. Außerdem gab es einfach nicht so viele Promovierte mit Nachhaltigkeitsschwerpunkt und Produktbezug.
Wie ist das heute?
Da hat sich fachlich viel getan. Nachhaltiges Management kann man inzwischen auch in Bremen oder Berlin studieren. Und im Bachelor-Studiengang Automobil- und Mobilitätswirtschaft an der Hochschule für Wirtschaft und Umwelt (HfWU) kommen Lehrende am Thema Nachhaltigkeit gar nicht vorbei: Man kann sich nur entscheiden, ob man diese Entwicklung in den Unternehmen passiv beobachtet oder die Transformation durch eine entsprechende Ausbildung der Studierenden proaktiv vorantreibt.
Wie sähe denn so ein Ansatz aus?
Ich zum Beispiel vermittle unseren Absolventen sogenannte transformative Skills. Die werden gebraucht, um Transformationsprozesse in Unternehmen anzuschieben und voranzubringen. Dazu gehört, dass die Manager und Managerinnen von morgen die Prozesse und Produkte eines Unternehmens sehr gut kennen und auf dieser Basis individuelle Lösungen finden. Sie müssen etwa wissen, wo in der Wertschöpfungskette am meisten CO2 anfällt: Das wäre zum Beispiel bei einem Smartphone in der Herstellung, bei einem Auto aber erst in der Nutzung. Dann gilt es, zudem die sozialen und technischen Daten zu recherchieren und zu überlegen, wo sich am effektivsten eine Veränderung erwirken lässt. Im Lebensmittelbereich wird zum Beispiel sehr viel über Plastikverpackungen geredet, aber nicht darüber, ob die Lebensmittel selbst nachhaltig produziert werden – was viel mehr CO2 einsparen würde.
Bildung für Nachhaltige Entwicklung ist politisch gewünscht. Müsste sie dann nicht auch zentral vorangetrieben werden?
Es gibt dazu ja inzwischen einige Initiativen in den einzelnen Bundesländern, ich war eine Zeit lang sehr aktiv in entsprechenden Netzwerken. Aber das Problem ist: Wenn ich mich in Gremien treffe, muss ich dafür nicht unbedingt weniger lehren. Diese Entwicklung fordert viel persönliches Engagement. Und gemessen am Aufwand gehen mir die ganzen Prozesse einfach zu langsam, auch an meiner eigenen Hochschule.
Was stößt Ihnen auf?
Ich würde Nachhaltigkeitsthemen gerne grundsätzlich in die Lehre integrieren und tue das in meinen Veranstaltungen auch. Aber andere Kollegen und Kolleginnen, die das nicht wollen, müssen es nicht. So passiert es, dass ich am Vormittag mit Studierenden das Lieferkettengesetz behandele und am Nachmittag hören sie in einer anderen Veranstaltung, dass es kosteneffizient ist, in Billiglohnländern zu produzieren. Das ist vom Prinzip nicht falsch, denn diese beiden Realitäten existieren ja tatsächlich nebeneinander, nicht nur in der Hochschullehre, sondern auch in den Unternehmen. Es ist normal für Transformationsprozesse, dass es viele offene Fragen gibt und wir nicht auf alles eine Antwort parat haben. Aber ich würde mir wünschen, dass wir diesen Konflikt zumindest thematisieren und nach Lösungen suchen. //
Prof. Dr. Brigitte Biermann
hatte von März 2015 bis August 2023 die Stiftungsprofessur im Studiengang Nachhaltiges Produktmanagement der Hochschule für Wirtschaft und Umwelt Nürtingen-Geislingen (HfWU) am Standort Geislingen inne. Sie hat Politik- und Sozialwissenschaften, Philosophie und Recht studiert und 2006 im Fach Philosophie promoviert. Parallel zu ihrer wissenschaftlichen Arbeit war sie im Projektmanagement tätig und ist seit 2018 Geschäftsführerin der Wuppertaler triple innova GmbH, die Nachhaltigkeit in Wirtschaft und Gesellschaft voranbringen will. Zukünftig wird sie als Lehrbeauftragte an der HfWU tätig sein.
Foto: HfWU
DUZ Magazin 09/2023 vom 22.09.2023