Auf die Plätze
Was kann die wissenschaftliche Politikberatung lernen aus der Corona-Zeit? Braucht es einen Pandemierat? Sollen wir ein neues Peer Review aufsetzen? Oder einfach alles so lassen, wie es ist?
Lesen Sie im Folgenden, welche Vorschläge im Ring sind und welche Schlüsse Akteure und Beobachter aus dem Zusammenspiel von Wissenschaft und Politik in den vergangenen Monaten ziehen.
Die Berliner Politikwissenschaftler Dr. Dagmar Simon, Geschäftsführerin von Evaconsult, und Dr. Andreas Knie, Professor an der TU Berlin, nehmen die Corona-Ereignisse zum Anlass, eine Erweiterung des Peer Review wissenschaftlicher Ergebnisse vorzuschlagen. Die Corona-Krise habe gezeigt, dass die Umsetzung wissenschaftlicher Ergebnisse wahrscheinlicher werde, wenn Politik und Gesellschaft eine Art Haftungsgemeinschaft eingingen und die Wissenschaft nicht einfach fertige Ergebnisse präsentiere wie im Fall der Klimaforschung und dann auf die Umsetzung warte. Also sollten zu den wissenschaftlichen Peers Fachkollegen aus den jeweiligen gesellschaftlich relevanten Gruppen hinzukommen, schreiben Knie und Simon im Juni in den Mitteilungen des Wissenschaftszentrums für Sozialforschung Berlin (WZB), wo Knie Professor ist und wo beide bis Ende 2019 in der Forschungsgruppe Wissenschaftspolitik zusammengearbeitet haben.
Peers für den Impact
Diese zusätzlichen Peers könnten den sogenannten Impact bewerten, also: Welche Wirkung kann die vorliegende Forschung in der Gesellschaft erzielen, wie gut lässt sie sich umsetzen? „Der Adressat der Forschung muss erkennbar sein. Wenn die erweiterten Peers zufrieden sind, ist die Umsetzung von Ergebnissen schneller und effizienter zu koordinieren“, erläutert Knie gegenüber der DUZ. Gesellschaftliche Relevanz solle zum Faktor für wissenschaftliche Reputation werden. Knie und Simon versprechen sich von ihrem Vorschlag auch mehr gesellschaftliche Akzeptanz: „Wenn bestimmte Fragen öffentlich von der Wissenschaft auch kontrovers diskutiert werden, wirkt das durchaus glaubwürdig“, sagt Simon. Knie kritisiert: „Über den fehlenden Impact des deutschen Wissenschaftssystems wird nicht öffentlich diskutiert, das ist ein Tabu. Dabei hören wir aus der Industrie immer wieder Kritik über die mangelnde Fähigkeit der Wissenschaft, sich auf ihre Probleme einzustellen und an ihnen zu arbeiten. Nicht ohne Grund sind die Drittmittel aus der Industrie an den Hochschulen zurückgegangen.“
Über mehr gesellschaftliche Beteiligung an Forschung würde sich auch Dr. Steffi Ober vom Naturschutzbund Deutschland freuen, die sich mit der Plattform Forschungswende für größeren Einfluss der Zivilgesellschaft und ihrer Organisationen auf die Forschungsagenda einsetzt. Eine Integration ins Peer Review findet sie sinnvoll, sieht allerdings ein Ressourcenproblem: „Wer soll das machen, und was hat man davon?“ Ihr liegt an größerem Einfluss auf Förderentscheidungen etwa bei der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) und dem Bundesforschungsministerium (BMBF). In der Corona-Krise war sie von der Aufmerksamkeit beeindruckt, die die Wissenschaft genoss. „Sobald die Bürger persönlich betroffen sind und den Nutzen sehen, investieren sie Zeit und Aufmerksamkeit“, sagt sie. Die Reputation der Wissenschaft in der Öffentlichkeit sei gestiegen, wenngleich abzuwarten bleibe, wie sich das langfristig entwickle. Obers Schlussfolgerung: „Wir müssen für die Menschen die Zusammenhänge erfahrbarer machen, stärker in die Zukunftsplanung einsteigen, Zukunftswerkstätten veranstalten.“
Einfach Wissen vermitteln
Genau an diesem Punkt ist der Kommunikationsforscher Prof. Dr. Hans Peter Peters vom Forschungszentrum Jülich ins Grübeln gekommen. Für ihn hat sich in der Corona-Krise der Wert der klassischen Wissensvermittlung bewiesen, die bei der Bevölkerung auf ein hohes Vertrauen gestoßen sei. Die primäre Funktion der Wissenschaft sei es, Wissen zu schaffen, und Wissenschaftskommunikation müsse es gesellschaftlich nutzbar machen. „Natürlich lassen sich die Leute nicht mehr alles vorsetzen. Man muss sich schon Mühe geben und auf Kritik eingehen! Und in manchen Fällen macht es auch Sinn, kollaborativ Wissen zu erarbeiten“, sagt Peters. „Aber man rekurriert jetzt zu stark auf die Beziehungspflege. Das ist einerseits verständlich, denn Vertrauen ist wichtig. Ohne Vertrauen bleibt wissenschaftliches Wissen fruchtlos und sinkt die gesellschaftliche Unterstützung für die Wissenschaft. Andererseits ist Vertrauen Mittel zum Zweck und darf nicht das Hauptziel der Wissenschaftskommunikation sein.“
Relevantes Wissen einfach zur Verfügung zu stellen, sei in der organisierten Wissenschaftskommunikation in letzter Zeit zu kurz gekommen. Namentlich verweist Peters hier auf die Aktivitäten von Wissenschaft im Dialog und das Jahr der Wissenschaft. Er warnt mit Blick auf die USA: „Es geht nicht darum, Menschen mit allen Mitteln zu überzeugen, dass sie bestimmte Ziele etwa im Bereich Klimaschutz unterstützen oder ihr Verhalten verändern. Wenn Wissenschaft beteiligt ist, sollte die Kommunikation auf Evidenz und Rationalität basieren.“ Peters veranschaulicht das mit einem Beispiel aus der Forschung einer Studentin über Besuchergruppen in im Bau befindlichen Kernkraftwerken vor einigen Jahrzehnten. Die Besucher seien tief beeindruckt von den dicken Mauern gewesen – aber, so Peters: „Die Dicke der Mauer ist gar kein Zeichen von Sicherheit. Überzeugungsversuche da-rauf aufzubauen, finde ich nicht gut.“
Oje, das gibt Ärger
Also zurück zur klassischen Wissensvermittlung. Hier kommt die Nationale Akademie Leopoldina ins Spiel, die im April ungewohnterweise ins Kreuzfeuer einer breiten Öffentlichkeit geriet, deren größter Teil bis dahin vermutlich noch nie von ihr gehört hatte. Der Grund: die dritte Ad-hoc-Stellungnahme zum Umgang mit der Pandemie mit Vorschlägen zu den Lockerungen, die zunächst keine Erleichterungen für die Kindertagesstätten vorssahen, verfasst von einer Arbeitsgruppe aus 24 Männern und zwei Frauen. „Als ich die Zusammensetzung sah, dachte ich, oje, das gibt Ärger“, räumt Leopoldina-Vizepräsidentin Prof. Regina Riphahn, Ph.D., im Gespräch mit der DUZ ein. Der für die Zusammenstellung der Corona-bezogenen Ad-hoc-Gruppen verantwortliche Akademiepräsident Prof. Dr. Gerald Haug beeilte sich Besserung zu geloben. Künftig will die Akademie ihre Arbeitsgruppen weiblicher besetzen: Die Quote von 30 Prozent Frauen, die schon für die Aufnahme neuer Mitglieder gilt, soll nun auch für Arbeitsgruppen gelten. Zudem will man aktueller arbeiten. Riphahn findet, mit fünf Ad-hoc-Stellungnahmen habe die Leopoldina in der Krise das auch schon gut umgesetzt. Für die eigentliche Aufgabe, wissenschaftlich fundiertes Wissen zur Verfügung zu stellen, sieht sie keinen Änderungsbedarf. In der Corona-Krise hätten zwar Öffentlichkeit und Politik verstärkt Rat gesucht, die Aufmerksamkeit sei stark gewachsen. „Für uns liegt keine Grenzverschiebung zwischen Politik und Wissenschaft vor“, sagt Riphahn aber. „Wir erarbeiten Stellungnahmen auf wissenschaftlicher Basis und zeigen Optionen auf. Daran hat sich nichts geändert. Wir müssen deutlich machen, dass wir unabhängig sind und unsere Mitglieder auf der Basis ihrer wissenschaftlichen Exzellenz berufen werden.“
Wie viel Wert man auf der Abnehmerseite, der Politik, eben darauf legte, zeigte sich ausgerechnet im Zusammenhang mit jener Stellungnahme, die den öffentlichen Aufschrei verursachte: Auf sie hatte die Politik, namentlich die Bundeskanzlerin, erklärtermaßen gewartet, um darauf ihre Strategie für den Weg aus dem Lockdown aufzubauen, sodass Teile des Publikums sich fragten, wer nun eigentlich regiere? Für Ernst Dieter Rossmann, SPD, lange Jahre Bundestagsabgeordneter und Vorsitzender des Ausschusses für Bildung, Forschung und Technologiefolgenabschätzung, zunächst keine Frage: Die Politik natürlich. Auch in der Corona-Krise. „Die Wissenschaft hat das Primat der Politik anerkannt, es gab keine Diktatur der Weisen“, sagt er. Die Politik habe sich Expertise eingeholt, nicht nur auf Bundesebene, sondern auch in den Ländern. Die Wissenschaft habe geliefert, neben der Leopoldina auch die Allianz der Wissenschaftsorganisationen, die Helmholtz-Gemeinschaft und natürlich das Robert-Koch-Institut. „Wir wurden gut beraten“, findet Rossmann.
Mehr Personen durchlassen
Er will aber dafür werben, künftig weniger auf der Basis von Interessen und Werten und mehr nach wissenschaftlichen Kriterien Entscheidungen zu treffen. Das Modell des Scientific Advisors in der Politik lehnt er ab, aber es sei gut, Wissenschaftler in den Reihen der Politiker zu haben. Rossmann nennt die Kanzlerin, seinen Parteifreund Prof. Dr. Karl Lauterbach und Prof. Dr. Andrew Ullmann, FDP, als Beispiele. Die Frage sei, ob Wissenschaftler das Gefühl haben, an die Politik herankommen zu können. „Wir müssen über die personelle Durchlässigkeit von Wissenschaft zu Politik diskutieren“, meint Rossmann.
Pandemierat für die Kanzlerin
Die Grünen möchten dafür Strukturen schaffen. Dr. Anna Christmann, Ausschuss-Kollegin von Rossmann, lobt die Zusammenarbeit in der akuten Phase der Pandemie zwar als „Sternstunden der Wissenschaftskommunikation“, meldet aber nun Ernüchterung. Die Zusammenarbeit zwischen Wissenschaft und Politik sei intransparent, es sei unklar, wo welche Expertise hingehe, aus welchen Quellen sich beispielsweise das Kanzleramt oder der Gesundheitsminister informierten. Und andersherum werde Wissenstransfer blockiert: „Ich habe Start-up-Vertreter getroffen, die gute Ideen für die Corona-Bekämpfung hatten, aber nicht wussten, an wen sie sich damit wenden konnten“, erzählt sie. „Wir vergeben Chancen in Wissenschaft und Wirtschaft, wenn wir es nicht schaffen, die Verbindungen, die wir haben, in Strukturen abzubilden.“
Die Grünen fordern deshalb, einen Pandemierat einzuberufen. Er solle beim Kanzleramt angesiedelt werden und auch dem Bundestag berichten. „Das würde ihn vom Robert-Koch-Institut unterscheiden, auf das wir Abgeordnete nämlich keinen Zugriff haben, wir können dort nur indirekt über das Gesundheitsministerium anfragen“, so Christmann. Der Pandemierat solle dafür sorgen, dass die Politik rechtzeitiger und besser auf die Herausforderungen der Pandemie vorbereitet sei, sodass einem Chaos wie beim Beginn des neuen Schuljahres im Herbst vorgebeugt werden könne. Zudem könne zwar die Wissenschaft an der Besetzung mitwirken, aber die Politik müsse dafür sorgen, dass der Pandemierat so zusammengesetzt sei, dass er, anders als etwa die Arbeitsgruppen der Leopoldina, die gesellschaftlichen Gruppen und Interessen abbilde. „Der Unterschied zu einer Institution wie der Leopoldina wäre, dass der Pandemierat ein Mandat hätte und näher an der Exekutive arbeiten würde“, sagt Christmann. Grundsätzlich erhofft sie sich von neuen Strukturen mehr Dynamik: „Wir müssen die institutionelle Behäbigkeit aufbrechen, die vielerorts Einzug gehalten hat.“
Im Notfall einfach abgekupfert
Vielleicht wird das Zusammenspiel von Politik und Wissenschaft aber hoffnungslos überschätzt? Mitte August veröffentlichten vier Wissenschaftler aus Schweden und der Schweiz eine Studie über die Politik in den ersten Wochen in der Pandemie. Demnach haben die Regierungen nur vordergründig auf die Wissenschaft gehört und sich vielmehr einer alten Kulturtechnik befleißigt, die der Normalbürger früh im Leben als „abschreiben“ kennenlernt: Sie kopierten einfach, was die anderen machten. So einfach kann es manchmal sein. //
DUZ Magazin 09/2020 vom 18.09.2020