Gesellschaft braucht Religionsforschung
Konflikte um religiöse Symbole und Praktiken sowie ein kritischer Austausch in weltanschaulich vielfältigen Gesellschaften machen die Religionsforschung wichtig für eine interessierte und kritische Öffentlichkeit. Davon ist Viola van Melis überzeugt.
Von Haus aus Fachjournalistin, leitet sie das vor zehn Jahren gegründete Zentrum für Wissenschaftskommunikation des Exzellenzclusters „Religion und Politik“ an der Universität Münster. Im Interview erklärt sie, wie und warum die Religionsforschung sich in zunehmend polarisierte gesellschaftliche Debatten einbringen kann und sollte.
Frau van Melis, Sie sagen, trotz Skepsis gegenüber der Kirche bestehe ein großes gesellschaftliches Bedürfnis nach fundierten Informationen über Religion. Wie haben Sie das festgestellt?
Das ist ein Befund aus unserem täglichen Forschungstransfer seit zehn Jahren; Forschung über Religion in den Medien gibt es leider noch wenig. Als Teil des Exzellenzclusters veröffentlichen wir Ergebnisse aus 20 Fächern, die interdisziplinär über „Religion und Politik“ forschen. In den ersten Jahren unserer Tätigkeit waren die öffentlichen Debatten zu diesem Themenkomplex noch wenig differenziert. Jedoch war das Interesse an Religionsphänomenen und die Nachfrage nach allem, was wir aus der Forschung anbieten, von Anfang an sowohl von Medienvertretern als auch aus Politik und Gesellschaft hoch. Allein jede Medienmitteilung schlug sich im Schnitt zehnmal in Print, Online oder Rundfunk im In- und Ausland nieder. Gegenwartsbezogene und historische Themen fanden beinah gleich viel Resonanz. Dabei ging und geht es etwa um Fragen zu Migration, Integration und Identität, um Werte in zunehmend säkularen Gesellschaften, um den Umgang mit religiöser Vielfalt, das Verhältnis von Religionen zu Gewalt und Geschlecht. Die hohe Interdisziplinarität unseres Exzellenzclusters kommt den Fragen der Öffentlichkeit entgegen, weil wir Phänomene und Probleme, mit denen die Menschen heute konfrontiert sind, epochen-, religions- und kulturübergreifend einordnen. Das weitet den Horizont und kann Debatten versachlichen.
Können Sie Beispiele nennen?
Ein Beispiel ist das Forschungsfeld Religion und Gewalt. Der Exzellenzcluster beleuchtet nicht nur aktuelle Phänomene wie islamistischen Terror, sondern untersucht auch in historischer Perspektive die Gewaltaffinität verschiedener Religionen wie Christentum, Islam und Buddhismus – es geht etwa um Gewalt im Alten Testament oder im Koran. Oft lassen sich Klischees widerlegen, etwa die Vorstellung eines durch und durch friedliebenden Buddhismus. Auch Konflikte um öffentliche religiöse Symbole lassen sich in historischer Tiefenschärfe besser verstehen: Wo es heute um Minarett, Kopftuch oder Kruzifix geht, entzündeten sich früher Konflikte an Prozessionen oder Glockengeläut. Die Geschichtswissenschaft zeigt, dass religiöse Vielfalt historisch der Normalfall war.
Die Religionsforschung ist, wie die Geisteswissenschaften insgesamt, sehr zurückhaltend bei der Vermittlung ihrer wissenschaftlichen Erkenntnisse an die Öffentlichkeit. Was machen Sie warum anders?
Die Wissenschaftskommunikation in Deutschland ist überwiegend Naturwissenschaftskommunikation. Die Geisteswissenschaften bleiben bis heute zurückhaltend. Um zu zeigen, dass sich auch ihre Erkenntnisse frisch aus der Forschung öffentlich verbreiten lassen, effektiv und dennoch differenziert, ist unser Zentrum vor zehn Jahren als Teil des Forschungsverbundes entstanden. Unser Team aus Journalisten und Kommunikationsfachleuten arbeitet eng mit den Forschenden zusammen. Wir setzen dabei fast ausschließlich auf Forschungsinhalte, arbeiten deren gesellschaftliche Relevanz nachrichtlich heraus und vermeiden also reine Institutionen-PR. Dadurch gelangen auch Erkenntnisse in die Öffentlichkeit, die zuvor kaum Debattenthema waren, sei es die Frage nach der Notwendigkeit einer aktiven Religionspolitik, nach der Ambiguitätstoleranz oder den Vereindeutigungstendenzen in Gesellschaften. Wir betreiben Transfer in vielfältigen Formaten, in Medienarbeit und multimedialen Social-Media-Angeboten ebenso wie in Ausstellungen, Film- und Konzertreihen, Politikberatung, Bildungsmaterialien und Bürgerdialogen.
Warum gibt es überhaupt das Bedürfnis nach Religionsexpertise?
Breite Bevölkerungskreise werden seit mehr als 20 Jahren mit religiösen Konflikten konfrontiert, ob kirchliches Arbeitsrecht, Moscheebau, Schächten oder Beschneidung. Mittlerweile scheint das Bewusstsein gewachsen, dass sich die Konflikte durch oberflächliche Wahrnehmungen weder verstehen noch lösen lassen. So erklären wir uns das nachhaltige Interesse an durchaus komplexen, tiefer gehenden Analysen, und zwar nicht nur unter Stakeholdern, sondern auch in der breiten Bevölkerung. Beispiel Religionspolitik: Aus diesem Forschungsfeld haben wir kontinuierlich fächerübergreifend Erkenntnisse vermittelt, ob in Hintergrundgesprächen mit Politikern oder in großen Foren für den Dialog zwischen Wissenschaftlern, Religionsvertretern, Konfessionslosen, Politikern und Bürgern. Manches hat inzwischen öffentlich verfangen – etwa die Analyse, dass es für ein friedliches Zusammenleben religiöser Mehr- und Minderheiten einer aktiven Religionspolitik in Bund, Ländern und Kommunen bedarf, damit die Gerichte nicht in allen Konfliktfällen einspringen müssen.
Wie nehmen Theologen am Diskurs einer pluralen und säkularen Gesellschaft teil?
Sie vermitteln ihre Forschungsergebnisse wohl nicht anders an die Öffentlichkeit als Vertreter anderer geisteswissenschaftlicher Fächer, nämlich auf Basis ihrer Forschungen. Die Theologien an deutschen Hochschulen sind bekenntnisgebunden. Deshalb sind Theologen jedoch nicht mit Religionsvertretern zu verwechseln. Wenn christliche oder islamische Theologen hier am Exzellenzcluster öffentlich Kommunikation betreiben, tun sie das aus einem Selbstverständnis heraus, Wissenschaftler zu sein – und arbeiten im Exzellenzcluster wiederum eng mit Vertretern von Fächern der bekenntnisungebundenen Religionsforschung zusammen.
Welche wichtige Rolle übernehmen Sie als Wissenschaftskommunikatoren, wenn es um die Diskussion religiöser Themen in der Gesellschaft geht?
Wir verstehen uns als Mittler dieser Themen und sind wohl oft auch Motor der Forschungsvermittlung. Mithilfe unseres Kommunikations-Know-hows lassen sich immer wieder die verschiedenen Logiken von Politik und Medien mit denen des Wissenschaftssystems behutsam in Einklang bringen. Als Ergebnis unserer inhaltlichen Arbeit – der sprachlichen Formatierung wissenschaftlicher Inhalte für öffentliche Zielgruppen – stellen wir erfreut fest, dass der Öffentlichkeit weit mehr Komplexität, differenzierte Darstellung und Debatte zuzumuten ist als oft angenommen. Um im Forschungstransfer gute Reichweiten zu erlangen, braucht es weniger Vereinfachung, Eventisierung oder Emotionalisierung, als zuweilen unterstellt wird. //
DUZ Magazin 12/2019 vom 13.12.2019