Lasst viele Blumen blühen!
Die generelle Abschaffung von Lehrstühlen, die die Junge Akademie fordert, ist ein Irrweg.
Ein Gastkommentar von Oliver Günther.
Die Junge Akademie fordert die Abschaffung des Lehrstuhlsystems: Statt der bisher üblichen Arbeitsgruppen („Lehrstühle“), bestehend aus einer Professorin oder einem Professor und einigen haushaltsfinanzierten Doktoranden und Postdocs – oft ergänzt durch drittmittelfinanzierte Mitarbeiter –, sollen nach amerikanischem Vorbild Professuren ohne Personalausstattung geschaffen werden. Die Professuren würden in einem Departmentsystem organisiert. Die Anzahl der Professuren würde signifikant ansteigen, aber im Gegenzug entfiele der haushaltsfinanzierte akademische Mittelbau.
Über gut zwölf Seiten erstreckt sich der Vorschlag der Jungen Akademie, einer an der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften und der Leopoldina angesiedelten Vertretung des wissenschaftlichen Nachwuchses. Ihr Appell klingt progressiv; eine genauere Analyse fördert jedoch diverse Widersprüche zutage.
Mittelbau auflösen
Einigermaßen abenteuerlich erscheint insbesondere die Argumentation der Jungen Akademie zur Finanzierung ihres Konzepts. Der Umbau soll kostenneutral erfolgen, indem man den vorhandenen haushaltsfinanzierten Mittelbau schlichtweg auflöst. Insbesondere sollen Doktoranden und Postdocstellen nur noch aus Drittmitteln finanziert werden können. In traditionell drittmittelschwachen Fächern wie manchen Geisteswissenschaften würde dies vielen leistungsfähigen Studierenden die wissenschaftliche Laufbahn von vornherein verwehren.
Geradezu fatal wäre, wenn die auf die beschriebene Weise geschaffenen neuen Professuren in großer Zahl zeitnah besetzt würden. Das würde der jetzigen Kohorte Stellensuchender helfen; die Rechnung hierfür müssten freilich die Nachwuchswissenschaftler der kommenden Jahrzehnte bezahlen, für die es dann kaum mehr Stellen gäbe.
Nachhaltige Personalentwicklung im Hochschulbereich sieht anders aus. Eine grobe Schätzung ergibt, dass jedes Jahr deutschlandweit wohl etwa 3000 unbefristete Stellen für Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler zu besetzen sind, davon etwa je ein Drittel für Universitäts- und Fachhochschulprofessuren sowie für unbefristete Stellen an außeruniversitären Forschungseinrichtungen. Wenn man die Wahrscheinlichkeit, dass ein Doktorand in der Wissenschaft bleibt, bei 20 Prozent ansetzt, ergibt sich somit ein durchschnittlicher Bedarf an 15 000 Promovierten pro Jahr. Bezogen auf die derzeitige Anzahl von etwa 25.000 Universitätsprofessuren bedeutet dies 0,6 Promotionen pro Professur pro Jahr.
Bei einer durchschnittlichen Promotionsdauer von drei bis vier Jahren wären also zu einem gegebenen Zeitpunkt je Professor gut zwei Doktoranden zu betreuen. Dies dürfte mehr oder weniger den derzeitigen Zahlenverhältnissen entsprechen. Will man hingegen, wie die Junge Akademie, die Verbleibenswahrscheinlichkeit in der Wissenschaft wesentlich höher ansetzen als die oben genannten 20 Prozent, sinkt die bedarfsbezogene Anzahl der Doktorandenstellen im Gegenzug signifikant. Wesentlich weniger junge Menschen als heute hätten überhaupt die Möglichkeit zu promovieren, und Professoren hätten deutlich weniger Doktoranden als jetzt. Daneben stellt sich die Frage der Qualitätskontrolle – bei einem stark reduzierten Pool von promovierten Bewerbern wäre man womöglich darauf angewiesen, auch mittelmäßige Promovierte auf unbefristete Positionen im Wissenschaftsbereich zu übernehmen. Wem wäre damit gedient?
Alternativen außerhalb der Wissenschaft
Stattdessen sind die Universitäten in der Pflicht, von vornherein ein klares Erwartungsmanagement zu betreiben und den Doktoranden und Postdocs schon während ihrer wissenschaftlichen Weiterqualifikation berufliche Entwicklungswege außerhalb der Wissenschaft aufzuzeigen. Doktorandenschulen können hier eine wichtige beratende Rolle spielen. Wer sich aber für eine Fortsetzung der wissenschaftlichen Laufbahn entscheidet und sich erfolgreich auf eine W1Juniorprofessur mit Tenure-Track beworben hat, verdient eine langfristige persönliche Berufsperspektive in der Wissenschaft. Dazu gehört die Kommunikation klarer Kriterien für die nach vier bis sechs Jahren anstehende Tenure-Entscheidung, die im Erfolgsfall zur Beförderung auf eine nach W2 – in Ausnahmefällen auch nach W3 – besoldete Lebenszeitprofessur führt. Dazu gehört auch die derzeit in den meisten Bundesländern ausgeschlossene spätere Beförderung von verdienten W2Kolleginnen und Kollegen auf die Besoldungsstufe W3 ohne externen Ruf.
Bezüglich der hochschulinternen Governancestrukturen werden von der Jungen Akademie zu Recht die wichtigen Fragen thematisiert, wer Doktoranden und Postdoktoranden auswählt, welcher Professor oder welche Professorin als Betreuer fungiert sowie ob Nachwuchswissenschaftler einen, mehrere oder (bei Postdocs) gar keine Betreuer haben. Fakultäten und Instituten steht es schon heute frei, die Auswahl und Zuordnung von Doktoranden und Postdoktoranden zu zentralisieren beziehungsweise über geeignete Gremienstrukturen abzuwickeln. Moderne Promotionsordnungen sichern schon heute ein Vier oder Sechs-Augen-Prinzip, was die Betreuung und Bewertung von Promotionsprojekten angeht. Und keine Präsidentin, kein Dekan ist rechtlich daran gehindert, die Personalausstattung eines dauerhaft leistungsschwachen Professors einige Jahre nach der Berufung zu kürzen. All das ist durchaus mit dem Lehrstuhlprinzip kompatibel. Es würde zu mehr Ungleichheit führen – leistungsstarke Lehrstühle würden wachsen, während sich dauerhaft leistungsschwache Professoren mit einer stark reduzierten Personalausstattung konfrontiert sähen. Dies wäre gewöhnungsbedürftig, aber warum nicht?
Lehrstuhl als Wettbewerbsvorteil
Noch ein letzter Punkt: In vielen, vor allem empirisch arbeitenden Fächern, ist der Lehrstuhl – auch wenn er inzwischen selten mehr als drei Mitarbeiterstellen umfasst – ein echter Wettbewerbsvorteil beim internationalen Ringen um die besten Köpfe. Gerade im Vergleich mit dem aus den USA bekannten Departmentsystem erlaubt ein Lehrstuhl langfristige Planungssicherheit und Forschungsfreiheit, ohne ständig um das nächste Drittmittelprojekt kämpfen zu müssen. So manche Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler kommen genau deshalb von ausländischen Universitäten nach Deutschland: weil sie hier einen Lehrstuhl bekommen und anderswo nicht. Aber auch die Wettbewerbsposition der Universitäten gegenüber den außeruniversitären Forschungseinrichtungen würde durch die Abschaffung des Lehrstuhlsystems weiter geschwächt werden, und zwar erheblich. Als Gruppen oder Abteilungsleiter an einer außeruniversitären Forschungseinrichtung hat man im Regelfall eine unbefristete Stelle, eine auf Dauer finanzierte Arbeitsgruppe, keine oder eine sehr geringe Lehrverpflichtung und obendrauf meist auch den Professorentitel. Warum sollten die besten Köpfe dann noch an die Universität?
Warum Abschaffung? All diese Probleme scheint die Junge Akademie nicht gesehen zu haben. Gleichwohl wird kühn die Abschaffung des Lehrstuhlsystems gefordert. Warum Abschaffung? Schon jetzt steht es Professorinnen und Professoren frei, ihre Mitarbeiterstellen zu poolen, also gemeinschaftlich zu verwalten, den promovierten Mitarbeitern hohe Autonomie zu gewähren, verstärkt Juniorprofessuren einzuführen (aber bitte mit Tenure-Track!) und so die Vorzüge von Lehrstuhl und Departmentsystem zu kombinieren. Warum schon wieder alles landesweit vorschreiben? Lasst viele Blumen blühen! Der Wettbewerb der Systeme wird zeigen, was für ein Fach, eine Hochschule, eine spezifische Forscherpersönlichkeit der beste Weg ist.
DUZ Magazin 04/2018 vom 27.04.2018