„Wo Tauben sind, fliegen Tauben zu“
Lassen sich Wissenschaftszentren von Weltruhm nicht vielleicht doch aus der Retorte schaffen? Jein, sagt der Heidelberger Wirtschafts- und Sozialgeograph Peter Meusburger. Ein Gespräch über Konstruktion, Aufstieg und Fall von Elfenbeintürmen der Wissenschaft.
duz: Herr Meusburger, Berlin, München, Heidelberg beispielsweise sind Wissenszentren in Deutschland. Wieso ballt sich Wissen in bestimmten Regionen?
Meusburger: Das könnte man einfach ausgedrückt als Matthäus-Prinzip bezeichnen: „Wo Tauben sind, da fliegen Tauben zu.“ Je attraktiver eine Universität, je höher ihre Reputation ist, umso mehr zieht sie wiederum herausragende Wissenschaftler und Studierende aus der ganzen Welt an und umso weiter erhöht sich die Reputation des betreffenden Standorts. Das ist ein sich selbst verstärkender Effekt.
duz: Ist dieser Faktor Reputation steuerbar?
Meusburger: Nur teilweise. Die Universitäten und die Politik können das Potenzial, das an einem Ort angeboten wird, bis zu einem gewissen Grad steuern. Das Potenzial besteht zunächst aus Personen, nämlich den an einem Standort tätigen Akteuren mit ihren Kompetenzen, Erfahrungen, ihrer Reputation und ihren weltweiten wissenschaftlichen Beziehungen. Um sehr gute Wissenschaftler zu bekommen, muss eine Hochschule eine entsprechende finanzielle und personelle Ausstattung anbieten. An diesem Punkt ist Reputation teilweise steuerbar. Ob an einem Ort ein kreatives Milieu entsteht und herausragende wissenschaftliche Leistungen erbracht werden, hängt jedoch nicht nur von den Finanzen ab. Entscheidend ist vielmehr die Berufungspolitik einer Universität. Mit bestimmten finanziellen Ressourcen kann man sehr gute oder auch weniger gute Wissenschaftler auf eine Professur berufen. Die größte Kunst besteht darin, bei Berufungen das kreative Potenzial von (Nachwuchs-)Wissenschaftlern zu erkennen und sich nicht auf methodisch fragwürdige Impactfaktoren zu verlassen.
duz: Welche Faktoren spielen außerdem eine Rolle, damit ein Wissenszentrum entsteht?
Meusburger: Immaterielle und informelle Faktoren. Dazu zählen beispielsweise die Fragen, wie die Entscheidungsfindung über neue Forschungsschwerpunkte an einer Universität abläuft, wie die Kriterien für die Evaluierung von Forschungsleistungen festgelegt werden, ob es Respekt vor unterschiedlichen Fach- und Publikationskulturen gibt, welche Freiräume die Wissenschaftler haben, wie der wissenschaftliche Nachwuchs gefördert wird, inwieweit die Wissenschaftler in internationale Netzwerke eingebunden sind, welche Vorbilder Studierende und Nachwuchswissenschaftler an einem Institut vorfinden und vieles andere mehr. Ein Rektorat sollte bahnbrechende Ideen, die in den Instituten entstehen, frühzeitig fördern und nicht erst dann, wenn schon viele andere Universitäten auf den fahrenden Zug aufspringen.
duz: Wo nehmen Wissenszentren ihren Anfang?
Meusburger: Es dauert eine gewisse Zeit, bis eine neue Universität eine hohe wissenschaftliche Reputation erworben hat. Diese Reputation kann sie aber auch in wenigen Jahren wieder verlieren, wenn sich bei Berufungen Fehlentscheidungen häufen. Neue Universitäten haben oft den Vorteil, dass sie noch keine festgefahrenen Strukturen haben und Neues wagen können.
duz: War das schon immer so?
Meusburger: Wenn man in der Wissenschaftsgeschichte zurückblickt, fällt auf, dass manche berühmten Wissenschaftler ihre bahnbrechenden Forschungsergebnisse oder Ideen in jungen Jahren an kleinen oder peripheren Universitäten erbracht haben. Vielleicht hatten sie dort mehr Freiheiten, sich zu entwickeln und zu experimentieren. Allerdings waren solche Universitäten häufig nur die erste Station in einer Professorenkarriere. Die meisten hochkarätigen jungen Wissenschaftler haben schließlich doch einen Ruf an eine der Spitzenuniversitäten angenommen, wo ihnen mehr Ressourcen, internationalere Netzwerke und ein Institut mit höherer Reputation angeboten wurden. Ideale Forschungsbedingungen sind etwas Relatives und werden immer nur an wenigen Universitäten angeboten. Im Laufe der Wissenschaftsgeschichte gab es immer eine Hierarchie der Universitäten. Diese hat sich zwar immer wieder verändert, weil einige Universitäten abgestiegen und andere aufgestiegen sind, aber es gab nie eine Phase, in der alle Universitäten gleiche Leistungen erbracht haben oder für Wissenschaftler und Studierende gleich attraktiv waren.
duz: Wenn eine Hochschule pleite ist und schließen muss, verödet dann automatisch eine Wissensregion?
Meusburger: Bei der Schließung einer Hochschule gehen immer Arbeitsplätze und Kaufkraft verloren. Wenn jedoch eine Hochschule schließen muss, dann war sie vermutlich nicht gerade herausragend oder sie war von Anfang an unterfinanziert. Und wenn sie keine gute Reputation hatte, dann war sie auch kein Magnet für Talente, von denen die Region hätte profitieren können. Vermutlich wurde sie dann sogar von vielen Abiturienten der eigenen Region gemieden. Entscheidend ist nicht, ob eine Region eine eigene Hochschule hat, sondern ob sie eine gute Hochschule hat, die Professoren und Studierende aus vielen Ländern anzieht und deren Absolventen hervorragend ausgebildet sind. Unter Umständen kann eine Region wirtschaftlich und kulturell mehr davon profitieren, wenn ihre jungen Leute an einer sehr guten Universität in 200 Kilometern Entfernung oder im Ausland studieren, als wenn sie ihren Abschluss an der unterfinanzierten Hochschule in ihrer eigenen Region absolvieren.
duz: Also soll eine Region nicht zwanghaft an einer mittelmäßigen Hochschule festhalten?
Meusburger: Wenn man sich die Wissenschaftsgeschichte anschaut, kann man feststellen, dass seit dem Mittelalter von Wissenschaftlern und Studierenden immer regionale Mobilität erwartet wurde. Mobilität vermittelt neue Denkmuster, neue Erfahrungen und Qualifikationen, sie schafft neue Netzwerke und bereichert die Persönlichkeit. Über längere Zeiträume betrachtet, waren in intellektuellen Blütezeiten Wissenschaftler und Studierende immer sehr mobil und hatten Universitäten ein großes Einzugsgebiet. In Zeiten der intellektuellen Stagnation nahm die Mobilität ab, wurden bei Berufungen Landeskinder bevorzugt und wurden die Einzugsgebiete der Universitäten provinzieller. Selbst wenn jemand in einem Wissenschaftszentrum wie München oder Berlin geboren wurde und aufgewachsen ist, muss er nicht unbedingt dort studieren. Wissenschaftler profitieren davon, wenn sie an mehr als nur einer Universität gearbeitet haben. Wenn ich hier von Mobilität spreche, meine ich nicht, dass ein Wissenschaftler alle paar Jahre seinen Arbeitsplatz wechseln sollte, sondern ab einer gewissen Karrierestufe ist die sogenannte zirkuläre Mobilität wichtiger, bei der man zum Beispiel während eines Freisemesters oder während der vorlesungsfreien Zeit ins Ausland geht.
duz: Neue Medien wie Internet und Mobiltelefone erleichtern die Mobilität. Fördern sie auch die Entstehung eines Wissenszentrums – oder bewirken sie das Gegenteil?
Meusburger: Da muss man differenzieren. Für sogenannte Routine-Aktivitäten sind diese neuen Medien außerordentlich wertvoll. In den frühen 1990er-Jahren musste ich noch nach Washington D.C. fliegen, um Dokumente in der Library of Congress zu recherchieren, heute kann ich das von meinem Schreibtisch in Heidelberg aus über das Internet machen. Durch die Neuen Medien sind auch völlig neue Möglichkeiten des E¬Learning entstanden. Einerseits haben die Neuen Medien also Dezentralisierungstendenzen ausgelöst, die finanziell schwächeren Universitäten zugutekommen. Andererseits ist der Zugang zu vielen Datenbanken, E-Journals und E-Books sehr teuer geworden, sodass nur noch wenige Universitäten finanziell in der Lage sind, die Lizenzen für Zehntausende von E-Journals und E-Books zu finanzieren. Diese hohen Kosten verstärken also wieder den bereits erwähnten Matthäus-Effekt. Wenn es um wissenschaftliche Diskurse, um Bewältigung von Unsicherheit, um kreative Prozesse und um persönliches Vertrauen geht, sind Face-to-Face-Kontakte durch nichts zu ersetzen.
duz: Das globale virtuelle Dorf wird es also nie geben?
Meusburger: Das virtuelle Dorf ist nur für bestimmte Fälle und unter bestimmten Bedingungen vorstellbar, zum Beispiel beim Austausch von Routineinformationen und bei der Kommunikation zwischen Spezialisten, die sich bereits gut kennen, einander vertrauen und ein vergleichbares Vorwissen haben. Viele Prozesse der Wissensgenerierung sind jedoch auf Diskussionen, Experimente und Wissensmilieus angewiesen, die nur an bestimmten Orten möglich sind.
duz: Man kann also keine Wissensinseln aus der Retorte schaffen?
Meusburger: Man kann einen Universitätscampus aus der Retorte schaffen, aber keine Wissenschaftsstadt im europäischen Sinne. Die wenigen Wissenschaftsstädte, die aus der Retorte entstanden sind und wissenschaftlich eine gewisse Reputation haben (z. B. Tsukuba in Japan), haben den Nachteil, dass dort nur wenige Professoren wohnen wollen, weil die Lebensqualität in kultureller und gesellschaftlicher Hinsicht nicht ihren Erwartungen entspricht. Ein Wissensmilieu besteht eben nicht nur aus Institutsgebäuden und Labors. Es lebt von kulturellen Einrichtungen, Lebensqualität und urbaner Ästhetik, es benötigt auch eine Kaffeehaus- und Kneipenkultur, die spontane, nächtelange Diskussionen über Fachgrenzen hinweg begünstigen.
Peter Meusburger
Peter Meusburger
Der Wirtschafts- und Sozialgeograph Professor Dr. Peter Meusburger (geboren 1942 in Lustenau/Österreich) ist seit 2007 erster Seniorprofessor der Universität Heidelberg. Meusburger studierte und promovierte an der Universität Innsbruck. Seit 1983 war er Professor für Geographie an der Universität Heidelberg.
DUZ Magazin 02/2015 vom 23.01.2015