Vom Ziel zur Normalität
Gerade in Zeiten von Krisen und Nicht-Nachhaltigkeit wird deutlich, dass Hochschulen als Zukunftswerkstätten der Gesellschaft in besonderer Verantwortung stehen. Das Verbundprojekt Kultur der Nachhaltigkeit von Hochschulen bietet erste konzeptionelle Überlegungen an und lädt zu einer Diskussion ein.
Ob es um Klimaneutralität oder Fragen sozialer Gerechtigkeit geht: Nachhaltige Entwicklung rückt im Hochschulsystem immer stärker in den Fokus. Als Wissenszentren, Innovationstreiber, Bildungsräume für zukünftige Entscheidungsträgerinnen und -träger sowie als Einrichtungen mit öffentlicher Strahlkraft stehen Hochschulen in der Verantwortung, den dringend notwendigen strukturellen Wandel mitzugestalten. In der Mehrzahl der Bundesländer ist Nachhaltigkeit inzwischen gesetzliche Aufgabe der Hochschulen. Entsprechend angeregt und teils kontrovers wird an Hochschulen diskutiert, welche Rolle Hochschulen im gesellschaftlichen Wandel einnehmen – so auch in der DUZ 9.2023. Die Orientierung von Studierenden an Jobs mit Sinn macht Nachhaltigkeit ebenfalls zu einem wichtigen Faktor für die Attraktivität von Hochschulen. Bei vielen jungen Menschen besteht ein starker Wunsch, Nachhaltigkeit zu einem Kern des Hochschulalltags werden zu lassen.
Ein nüchterner Blick zeigt jedoch: Nachhaltigkeit wird an Hochschulen meist fragmentiert angegangen – in einzelnen Projekten, Lehrveranstaltungen oder im Umweltmanagement. In Anbetracht der Selbstbeschreibung von Hochschulen als Zukunftswerkstätten der Gesellschaft hat die Hochschulrektorenkonferenz (HRK) im Jahr 2018 eine Empfehlung „Für eine Kultur der Nachhaltigkeit“ abgegeben. Darin ließ sie allerdings offen, was diese Kultur konkret auszeichnet und wie sie gestärkt und weiterentwickelt werden kann. Klar ist: Eine Kultur der Nachhaltigkeit betrifft alle Handlungsbereiche (Forschung, Lehre, Transfer, Betrieb, Governance) und die damit verbundene alltägliche Praxis an Hochschulen. Denn hinter diesem Handeln liegen Werte und Annahmen sowie strukturelle Anreize und Rahmenbedingungen, die durch den Blick auf Kultur(en) explizit gemacht werden können. Wenn Nachhaltigkeit zu einer neuen Normalität an Hochschulen werden soll, dann ist es elementar, aktuelle und mögliche Kultur(en) an Hochschulen besser zu verstehen.
Dafür ist es wichtig, zunächst die Grundbegriffe Nachhaltigkeit, Hochschule und Kultur zu betrachten, um dann Kultur(en) der Nachhaltigkeit fassen und untersuchen zu können.
Grundbegriffe: Nachhaltigkeit, Kultur und Hochschule
Die Leitidee der Nachhaltigkeit beschreibt die Gestaltung eines gerechten Lebens für alle heutigen und künftigen Menschen unter Einhaltung ökologischer Grenzen. Spätestens seit der Konferenz der Vereinten Nationen in Rio 1992 und erneut bestärkt durch die Sustainable Development Goals (2015) ist nachhaltige Entwicklung der gemeinsame Handlungsrahmen für die Entwicklung zukunftsfähiger Gesellschaften weltweit. Klimaneutralität, Erhaltung der Biodiversität wie auch eine gerechte Verteilung von Ressourcen und Risiken stellen die Menschheit vor gewaltige Herausforderungen. Nachhaltigkeit betrifft vor diesem Hintergrund auch Hochschulen in allen Handlungsbereichen.
Hochschulen sind insofern spezifische Organisationen, als dass sie zwar von vielfältigen externen Bedingungen (Exzellenzorientierung, Drittmittelförderung etc.) beeinflusst werden, gleichzeitig jedoch einen hohen Grad an Autonomie aufweisen. Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler organisieren sich nicht nur in der eigenen Hochschule, sondern auch in disziplinär geprägten Fachgemeinschaften. Hier wird die Qualität von Forschung durch Begutachtung kontrolliert und die vorherrschenden Reputationsmechanismen prägen wissenschaftliche Karrieren. Hochschulen werden daher auch als lose gekoppelte Systeme und „organisierte Anarchien“ bezeichnet: Unterschiedliche Bereiche (Forschung, Lehre, Verwaltung) haben nur begrenzte Schnittstellen und Entscheidungen sind nur bedingt vorhersehbar. Um Nachhaltigkeit an Hochschulen stärken zu können, ist es daher wichtig, nicht nur die formal-organisatorischen Abläufe zu fokussieren, sondern hinter diese zu blicken: auf die Bedeutungsschemata, Wertvorstellungen und deren Implikationen für alle Routinen und das tägliche Handeln in Hochschulen. In dieses Wechselspiel von Nachhaltigkeit und Hochschule ordnet sich die Frage nach Kultur(en) der Nachhaltigkeit ein.
Kultur umfasst Konventionen, beispielsweise im Denken und Verhalten, die innerhalb von Kollektiven gelten, die durch Kommunikation im Wechselspiel zwischen Individuen und Kollektiv(en) entstehen und die sich dynamisch selbst reproduzieren. Kultur schafft Zusammenhalt nach innen und außen und wird von den Beteiligten als „Normalität“ oder „soziale Realität“ empfunden. Dieses breite Verständnis hilft, um die Selbstverständlichkeiten, impliziten Annahmen und Regeln an und von Hochschulen zu verstehen. Kultur gibt dem individuellen Handeln in einer Gemeinschaft Bedeutung, Sinn und Orientierung. An Organisationen zeigt sich Kultur auf den Ebenen von Artefakten (etwa konkreten Handlungen und Strukturen), darunter liegenden Werten sowie häufig unbewussten Annahmen. An Hochschulen gibt es diverse, teils distinkte (Sub-)Kollektive mit je eigenen Kulturen (zum Beispiel in Fachbereichen oder Statusgruppen). Es gibt also nicht nur die eine Hochschulkultur, sondern unterschiedliche Kulturen, die nebeneinander existieren und (mehr oder weniger stark) im Austausch stehen.
Kultur(en) der Nachhaltigkeit: Ein Arbeitsverständnis
Wie verbinden sich Kultur und Nachhaltigkeit an Hochschulen dann zu Kultur(en) der Nachhaltigkeit? Woran lässt sich dies erkennen? Mit dem folgenden Arbeitsverständnis möchten wir eine Diskussion um die Normalität von Nachhaltigkeit an Hochschulen anregen und diese konzeptionell und praktisch untersetzen. Dabei unterscheiden wir die Zielperspektive einer Kultur der Nachhaltigkeit als konzeptionelle Orientierung und die aktuellen Kulturen an Hochschulen, die nachhaltige Entwicklung in unterschiedlichem Maße fördern oder bremsen.
Kultur der Nachhaltigkeit als Orientierung für die selbstverständlich gelebte Praxis
Aus der Zielperspektive betrachtet wäre eine Kultur der Nachhaltigkeit dann realisiert, wenn die alltägliche, selbstverständliche und damit leichtgängige Praxis an Hochschulen am normativen Kompass der Nachhaltigkeit ausgerichtet ist. Ausdrücken würde sich dies in „normalen“, nachhaltigen Handlungsroutinen – zum Beispiel in Lehre und Forschung, bei Beschaffung und Betrieb, Mobilität – und in den darunterliegenden Werten und Annahmen der Hochschule und ihrer Mitglieder. Eine derart veränderte Kultur wäre unter anderem daran zu erkennen, dass bei allen Prozessen an Hochschulen begründet werden müsste, wenn Nachhaltigkeit nicht als wichtige Orientierung in Entscheidungen eingeflossen ist (Begründungsumkehr). Die Routinen und formalen wie informellen Regeln an der Hochschule würden nachhaltiges Handeln in Lehre, Forschung, Transfer und Betrieb somit als selbstverständlich begünstigen. Dass Nachhaltigkeit in diesem Szenario soziale Norm wird, heißt aber nicht, dass die Hochschule zu einem widerspruchs- oder zielkonfliktfreien Raum würde. Stattdessen könnte es ebenfalls normal werden, dass engagiert um spezifische Pfade einer nachhaltigen Entwicklung gerungen wird. Für die vielfältigen Gruppen der Hochschule mit ihren diversen (Sub-)Kulturen wäre eine Kultur der Nachhaltigkeit dann auch das Ergebnis gemeinsamen Lernens. In der Organisation Hochschule würde eine etablierte Kultur der Nachhaltigkeit als stabil wahrgenommen und über Generationen von Mitgliedern weitergegeben werden – gerade, weil sie über formal-organisatorische Abläufe hinaus fester Teil von Wertorientierungen und Grundannahmen geworden ist. Dazu gehört auch, dass vorhandene Abläufe und Regelsysteme an Hochschulen sowie Anreizsysteme im Hochschul- und Wissenschaftssystem umgestaltet würden, um Nachhaltigkeit im Handeln als Standard stärker zu begünstigen.
Aktuelle Hochschulkulturen, die nachhaltige Entwicklung fördern oder bremsen
Es kann davon ausgegangen werden, dass jede Hochschule bereits eine mehr oder weniger starke Orientierung an Nachhaltigkeit in ihrer Organisationskultur etabliert hat. Die aktuell bestehenden Konventionen – im Denken, Bewerten, Handeln und Kommunizieren – unterstützen oder hemmen Nachhaltigkeit auf unterschiedliche Weise. Dabei gibt es nicht die eine richtige Kultur von oder an Hochschulen. Stattdessen liegt es nahe, dass es viele kontextspezifische Varianten und Ausprägungen geben kann, nicht zuletzt aufgrund der diversen und in Wechselwirkung stehenden Teilkulturen einer Hochschule. Mit Blick auf die Hochschullandschaft gehen wir davon aus, dass zum derzeitigen Stand keine Hochschule Kultur(en) der Nachhaltigkeit vollständig im Sinne der Zielperspektive realisiert hat – Nachhaltigkeit ist bisher keine selbstverständlich gelebte Normalität. Um den Weg zu einer Normalität von Nachhaltigkeit gehen zu können, ist es wichtig, die unterschiedlichen Ausprägungen im Status quo zu erkennen, also aktuelle Bedeutungs- und Handlungsschemata zu verstehen und hemmende sowie förderliche Faktoren zu erfassen. Hierbei spielen auch Unterschiede entlang der spezifischen Merkmale einer Hochschule eine Rolle, zum Beispiel hinsichtlich Größe, Fächerprofil, Geschichte und struktureller Rahmenbedingungen.
Vom Ziel zur Normalität: Einladung zur Diskussion
Um über die Etablierung von Kultur(en) der Nachhaltigkeit verhandeln zu können, ist beides nötig: eine explizite Formulierung von Zielperspektiven und kritische Analysen aktueller Kulturen der (Nicht-)Nachhaltigkeit. Letzteres beinhaltet nicht nur eine Beleuchtung aktueller Routinen und Normalität an Hochschulen, sondern auch eine Betrachtung der Rahmenbedingungen in der Hochschulpolitik, bei Fördermittelgebern und des öffentlichen Diskurses über Wissenschaft. Dies kann die Grundlage dafür sein, Transformationspfade an Hochschulen und im Hochschulsystem zu entwerfen, zu erproben und zu evaluieren. Mit dem skizzierten Arbeitsverständnis laden wir dazu ein, Diskussionen über Kultur(en) der Nachhaltigkeit mit der Frage zu verbinden, inwiefern Nachhaltigkeit Selbstverständlichkeit, also in allen Handlungsbereichen von Hochschulen gelebte Normalität ist.
Es gibt zahlreiche Ansätze zur Stärkung von Nachhaltigkeit; sei es die Neuausrichtung von Rahmenbedingungen und Anreizen im Hochschulsystem an Erfordernissen der Nachhaltigkeit oder konkrete Prozesse an einzelnen Hochschulen. Einige Schritte in diese Richtung sind unter anderem die zunehmende Berufung von Zuständigen in der Hochschulleitung und Steuerungsgremien für Nachhaltigkeit, die strategische Ausrichtung von Hochschulen entlang ihrer Beiträge zu einer nachhaltigen Gesellschaft, die Überarbeitung von Berufungsleitlinien oder die systematische Förderung nachhaltigkeitsbezogener Kompetenzen in der Lehre aller Fachbereiche. Jeder dieser konkreten Schritte trägt zu Nachhaltigkeit im Hochschulsystem bei. Der Blick auf Kultur(en) der Nachhaltigkeit sensibilisiert letztlich dafür, dass die zentrale Aufgabe darin besteht, Nachhaltigkeit nicht fragmentiert oder als Zusatz in einzelnen Bereichen zu denken, sondern als gelebte Normalität in der gesamten Hochschule und im Hochschulsystem. Wenn Kultur der Nachhaltigkeit ernst gemeint wird, bleibt am Ende die Frage: Inwiefern ist Nachhaltigkeit nicht nur erklärtes Ziel, sondern eine Selbstverständlichkeit? //
Verbund „Kultur der Nachhaltigkeit an Hochschulen“ (KuNaH)
Der KuNaH-Verbund beschäftigt sich mit der Beschreibung, Erfassung und Etablierung von Kultur(en) der Nachhaltigkeit an Hochschulen. Verbundpartner sind die Universität Tübingen, die Freie Universität Berlin, die Leuphana Universität Lüneburg, die Hochschule für nachhaltige Entwicklung Eberswalde und das Karlsruher Institut für Technologie. Der Verbund wird im Rahmen der Fördermaßnahme „Transformationspfade für nachhaltige Hochschulen“ vom Bundesministerium für Bildung und Forschung gefördert. www.kunah.de
Mitmachen: Für das Jahr 2025 ist eine großangelegte Befragung von Studierenden und Mitarbeitenden an Hochschulen zur Kultur der Nachhaltigkeit geplant. Hochschulen, die teilnehmen möchten, kontaktieren bitte die Projektverantwortlichen.
Jorrit Holst
ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut Futur der Freien Universität Berlin.
Foto: privat
Prof. Dr. Thomas Potthast
ist Professor für Ethik, Theorie und Geschichte der Biowissenschaften sowie Sprecher des Internationalen Zentrums für Ethik in den Wissenschaften (IZEW) an der Universität Tübingen. Er leitet das Verbundprojekt.
Foto: Mira Bell
Weitere Autorinnen und Autoren:
Hilke Fritz, Benjamin Nölting, Mandy Singer-Brodowski, Marius Albiez, Carina Betz, Daniel J. Lang, Stefanie Meyer, Susanne Ober, Oliver Parodi, Stefan Schaltegger, Christian Scheiding, Maike Weynand
DUZ Wissenschaft & Management 02/2024 vom 08.03.2024