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Es braucht mehr Gelassenheit

Die Welt steht Kopf. Das belastet auch den Wissenschaftssektor. Vor welche Herausforderungen dies die Verantwortlichen in Politik und Wissenschaft stellt und um welche Lösungen beide Seiten ringen müssen – dazu ein Interview mit dem Grünenpolitiker Kai Gehring. Interview: Benjamin Haerdle

Herr Gehring: Die Welt ist nicht mehr die gleiche, seitdem Russland die Ukraine mit einem Krieg überzogen hat – und nun droht in Israel der nächste Krieg. Das hat auch Auswirkungen auf die global vernetzte Wissenschaftslandschaft. Welche Folgen hat es für die Wissenschaftsdiplomatie Deutschlands?

Auch die Wissenschaftsdiplomatie vollzieht eine Zeitenwende. Institutionelle Kooperationen mit Russland auf Eis zu legen, war richtig. Als Land der Wissenschaftsfreiheit und als starker Forschungsstandort akzentuieren wir unsere Wissenschaftskooperationen reflektierter als zuvor, stärker interessen- und wertegeleitet. Mit den Leitlinien der China-Strategie und der ersten Nationalen Sicherheitsstrategie geben wir unserem Wissenschaftssystem mehr Orientierung. Bei Cybersicherheit müssen wir Wissenschaftseinrichtungen stärker unterstützen. Und die Internationalisierungsstrategie des Bundesministeriums für Bildung und Forschung ist in Arbeit. Insgesamt gehen wir in der Außenwissenschaftspolitik mit mehr Awareness vor.

Was bedeutet das?

Wichtig ist, unsere Wissenschaftskooperationen mit alten und neuen Wertepartnerländern zu vertiefen. Mit schwierigen, autoritär regierten, illiberalen Partnerländern zusammenzuarbeiten, ist ein Spannungsfeld und im Einzelfall klug abzuwägen. Wir wollen so viel Wissenschaftsfreiheit und Kooperation wie möglich, zugleich unsere Schutzinteressen absichern, unser eigenes Forschungsinteresse stärker konturieren und deutlicher für universelle Wissenschaftsfreiheit einstehen. Durch den Dialog mit der Wissenschaftscommunity hierzulande ist das Problembewusstsein gewachsen, in welchen Forschungsbereichen mehr Vorsicht geboten ist und wo die Risiken die Chancen einer Kooperation übersteigen.

Was heißt das konkret für Hochschulen beispielsweise in China? China ist ein bedeutender Akteur in der Wissenschaft, mehr als 1.350 Hochschulkooperationen listet allein die Hochschulrektorenkonferenz. 

Zur Bewältigung globaler Herausforderungen, wie etwa in der Klima- und Biodiversitätsforschung, sind Wissenschaftskooperationen mit China sinnvoll. Mehr Achtsamkeit ist etwa bei sicherheitsrelevanter Forschung und im Digitalisierungsbereich erforderlich. Es geht um De-Risking: Wir sollten neue Abhängigkeiten oder Wettbewerbsnachteile für unser Land oder die EU vermeiden. Wir müssen unsere technologische und digitale Souveränität sichern. Das ist eine zentrale Lehre aus Putins Angriffskrieg gegen die Ukraine. Darum sollten Hochschulen stets im konkreten Fall prüfen, inwieweit eine Kooperation für alle Seiten gewinnbringend und verantwortbar ist. Dazu gehört ein Bewusstsein, mit Forschungsergebnissen sensibel umzugehen und Hinweise unserer Sicherheitsbehörden ernst zu nehmen.

Die FAU Erlangen-Nürnberg hatte im Sommer vorübergehend verfügt, keine Stipendiaten aus China mehr aufzunehmen, die über das staatliche China Scholarship Council (CSC) den Weg nach Deutschland finden. Ist das die Lösung?

Ich halte es für problematisch, dass Staatsstipendien des Chinese Scholarship Councils an ideologische Bedingungen wie Loyalität zum Einparteiensystem und patriotische Gesinnung geknüpft werden. Das führt den Sinn akademischen Austauschs ad absurdum, denn Studium und Forschung sollten von Neugier, freiem Geist und Kreativität geprägt sein. Die Vorzüge unseres Wissenschaftsmodells und unserer Willkommenskultur sollen chinesische Studierende im Austausch mit deutschen Kommilitonen kennenlernen können. Wissenschaftsfreiheit ist in China nicht gewährleistet, der Staatsapparat ist übermächtig. Darum ist unabhängige Chinakompetenz und gute Beratung für unsere Wissenschaft so wichtig.

Wie könnten denn Auswege aussehen?

Eine Lösung liegt in der Diversifizierung unserer Wissenschaftskooperationen. Während wir über China debattieren, wollen viele der ASEAN-Staaten mit uns viel enger kooperieren –allen voran Indonesien. Auch haben wir die Potenziale, die in Lateinamerika und vielen Ländern Afrikas liegen, noch nicht ausreichend gehoben. Nehmen Sie nur das Beispiel Brasilien: Die Kehrtwende zurück zu hohen Hochschulbudgets unter einem wissenschaftsfreundlichen Präsidenten öffnet neue Türen für bilaterale Kooperationen.

Das setzt unter anderem voraus, dass die Top-Forscher überhaupt zu uns kommen wollen. Deutschland hat in der Vergangenheit aber nicht immer alles dafür getan, dass diese sich hier wohlfühlen und länger bleiben. War die Politik aktiv genug?

Internationalisierung hat nicht nur einen Mehrwert für das Wissenschaftssystem in Deutschland, sondern auch für die Gesellschaft und die Wirtschaft in Form von Fachkräften, die wir so dringend benötigen. Ich denke, dass mit der Modernisierung des Fachkräfteeinwanderungsgesetzes einige Hürden für internationale Talente und Spitzenforschende abgebaut werden konnten. Ergänzend dazu braucht es an den Hochschulen noch stärkere Willkommensinfrastrukturen, Wertschätzung für Diversity, mehr englischsprachige Verwaltung und digitale Beratungsangebote. Wir müssen um Spitzenforscher werben, ihnen Türen öffnen und einen unbürokratischen Zugang ermöglichen. Hochschulen sollten die Internationalisierung noch strategischer gestalten. Davon profitieren alle.

Die Talente und Fachkräfte, sollten sie denn wirklich hierbleiben, fehlen dann aber wiederum in deren Heimatländern.

Es geht um Brain Circulation, nicht um Braindrain. Wichtig ist, dass wir im Austausch nicht selektiv mit einzelnen Staaten kooperieren, sondern uns breit aufstellen. Mehr Austausch von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern – zum Beispiel aus dem globalen Süden – und Auslandserfahrungen sorgen bei uns für mehr Diversität an den Hochschulen und dienen dem wissenschaftlichen Fortschritt. Rückkehrende wiederum bereichern durch ihre Erfahrungen bei uns die Wissenschaftssysteme ihrer Heimatländer.

Fortschritt soll auch gerne in Innovationen münden, allerdings steht Deutschland bei globalen Innovationsrankings selten gut da. Wie beurteilen Sie den Innovationsstandort Deutschland?

Wir sind unter anderem dank herausragender Grundlagenforschung ein hochinnovatives Land. Der weltweite Wettbewerb ist härter geworden. Darum müssen wir mit Zukunftsmut agieren, um vorn mitzuspielen. Wir brauchen mehr Gründergeist und Entrepreneurship, damit gute Ideen vom Labor in die Produktion gelangen. Mehr Agilität, weniger bürokratische Hürden, Kulturwandel in Hochschulen und neuer Spirit im Zusammenwirken würden unsere Attraktivität steigern. Für all das hat diese Regierung Vorhaben aufgegleist: In der „Zukunftsstrategie Forschung und Innovation“ sind wegweisende Missionen und ressortübergreifende Zusammenarbeit verankert. Wir verselbstständigen SPRIND – die Bundesagentur für Sprunginnovationen – mit einem Freiheitsgesetz und starten die DATI  –Deutsche Agentur für Transfer und Innovation –, damit sich regionale Innovationsökosysteme stärker entfalten. 

Dabei geht es vor allem um technische Innovationen …

… deswegen rücken wir auch soziale, ökologische und digitale Innovationen stärker in den Fokus. Die Start-up-Strategie antwortet hier genauso wie die jüngst beschlossene „Nationale Strategie für Soziale Innovationen und Gemeinwohlorientierte Unternehmen“.  

Reicht das alles?

Alles zusammengenommen bringt das unseren Standort nach vorne. Insgesamt sind wir auf einem sehr guten Weg, aber klar: Wir alle spüren, dass unser Land dynamischer werden muss.

Ohne eine intakte Hochschullandschaft kann das alles nicht gelingen, zu der zählt auch die Spitzenforschung. Diese zu fördern, ist Ziel der Exzellenzstrategie. Was hat sie bisher bewirkt?

Zu Beginn der Exzellenzstrategie war ich skeptisch. Mittlerweile finde ich, dass Spitzenforschung an deutschen Universitäten sichtbarer geworden ist. Wir haben nicht nur die Spitze profiliert, sondern fördern auch in der Breite, unter anderem mittels des „Zukunftsvertrag Studium und Lehre stärken“ und dessen Dynamisierung um drei Prozent pro Jahr.

Sollte der Bund nicht noch viel mehr unternehmen, um die finanzielle Basis der Hochschulen zu verbessern?

Mit den Hochschulpakten sind seit 2006 zig zusätzliche Milliarden Euro in die Hochschulen geflossen, dank Dynamisierung werden es noch einmal 667 Millionen Euro mehr. Im Koalitionsvertrag stehen weitere Vorhaben, die noch anzugehen sind, wie die Best-Practice-Pakte für neue Governancestukturen und Diversitätskonzepte in der Wissenschaft. Was uns Grünen und mir besonders wichtig ist: Hochschulen klimagerechter zu machen. Die Initiative „Nachhaltigkeit in der Wissenschaft“ und die Fördermaßnahme „Transformationspfade für nachhaltige Hochschulen“ sind ein wichtiger Einstieg.

Müsste nicht auch der Begriff der Exzellenzuniversität um solche Kriterien erweitert werden: also Exzellenz nicht nur in der Forschung, sondern auch in der Nachhaltigkeit, der Klimaneutralität oder der Diversität?

Darüber lohnt es sich, gemeinsam weiter nachzudenken. Auch bei der nächsten Runde der Exzellenzstrategie wird es im Kern um herausragende Forschung gehen. Für hervorragende Lehre, internationale Ausrichtung, vielfältiges Personal und klimagerechtere Hochschulen sollten wir andere Förderinstrumente in den Blick nehmen. Längst machen sich viele Hochschulen Gedanken, wie sie Energie sparen und so ihre Ausgaben senken. Potenziale gibt es offenkundig zuhauf.

Bald ist es wieder Zeit, um sich Gedanken zur nächsten Runde der Exzellenzstrategie zu machen. Haben Sie schon Ideen, was geändert werden müsste?

Wissenschaftspolitik und Universitäten sollten dazu im nächsten Jahr in den Dialog treten: Was hat sich bewährt, wo gibt es Nachsteuerungsbedarf? Wie sieht die weitere Finanzierung aus, wenn ein Standort zwei Mal ein Exzellenzcluster eingeworben hat? Spitzenleistung wurde dort nachhaltig bewiesen.

Die Hochschulen sind auch Orte des Miteinanders, des Zusammenkommens, der Debatte. Wie gut füllen sie diese Rolle aus?

Die Hochschule ist für mich ein Zukunftslabor, ein Experimentierraum für Neues, wo nicht nur geforscht, gelehrt und gearbeitet wird, sondern Menschen gemeinsam Zukunftsideen entwickeln und Perspektivenvielfalt erleben. Ich finde sinnvoll, dass Hochschulen in die Stadtgesellschaft und regionale Communitys stärker hineinwirken. In einer Zeit, in der wir die Freiheit der Wissenschaft verteidigen müssen, „alternative Fakten“ und Deep Fakes virulenter werden, sind Dialog und Wissenschaftskommunikation besonders wichtig. Fakten vermitteln ist Stärke von Hochschulen.

Ist aber nicht eher eine Entfremdung zu beobachten, wenn man beispielsweise sieht, wie Hochschulen mit der gendergerechten Sprache umgehen? Das geht Teilen der Gesellschaft deutlich zu weit. 

Mich befremdet, wie vehement dieser Diskus befeuert wird. Es braucht keine Sprachpolizei, sondern mehr Gelassenheit. Wer gendergerecht spricht und schreibt: Willkommen im Club! Unsere Sprache entwickelt sich nun mal. Forschende der Gender Studies und Geschlechterforschung zu attackieren, ist inakzeptabel.

Aber auch die Debattenkultur an den Hochschulen selbst hat sich verschärft. Sehen Sie das mit Sorge, dass dort bestimmte Diskussionen bald nicht mehr möglich sind?

In diesem Land kann jede und jeder an einer Hochschule sagen, was er oder sie denkt. Widerspruch ist möglich und das Meinungsspektrum breit. Lebendige Streitkultur ist gut und kommt ohne Herabwürdigung und Diskriminierung aus. Bei wissenschaftlichen Disziplinen geht es nicht um Meinungsstreit, sondern um akademisch fundierte Debatten, beispielsweise zwischen verschiedenen Denkschulen. Mich sorgt, dass unter anderem Klimaforschende zunehmend zu Zielscheiben werden, meist von außerhalb des Campus. Wissenschaftsfreiheit und damit auch die Forschung und die Forschenden müssen wir besser schützen. Als Gesellschaft täte es uns gut, zu einer Streitkultur zurückzufinden, die Populismus und Polarisierung zurückdrängt. 

Kann die Politik da irgendwas ausrichten?

Parlamente und Regierungen müssen entschieden für Wissenschaftsfreiheit eintreten. Wissenschaftsbasierte Politik ist anti-populistisch und vernünftig. Für unser gesellschaftliches Klima und die Debattenkultur ist Politik stilbildend, aber letztlich sind wir alle als Bürgerinnen und Bürger verantwortlich. //

Kai Gehring

Der Sozialwissenschaftler sitzt seit 2005 für Bündnis 90/Die Grünen im Bundestag. Derzeit ist er Vorsitzender des Ausschusses für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung und stellvertretendes Mitglied im Haushaltsausschuss des Bundestags. 

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