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Expertise verschafft Macht

Politiker sind bei der Entscheidungsfindung auf das Wissen von Experten angewiesen. Nicht selten missbrauchen sie deren Expertise jedoch, um die Wählerschaft zu manipulieren

Wissenschaftliche Erkenntnisse verbessern unser Leben und schützen uns vor Gefahren wie Epidemien, Erdbeben oder Klimakatastrophen. Auch Entscheidungsträger in der Politik, in Ministerien, Verwaltung, Parlament und Parteien benötigen zunehmend belastbare Informationen und verlässliche wissenschaftliche Erkenntnisse über mögliche Auswirkungen ihrer politischen Entscheidungen. Und sie benötigen Handlungsempfehlungen. Wenn die Grenzen zwischen wissenschaftlichem Wissen und politischer Entscheidungsfindung jedoch nicht transparent gemacht werden, führt das zur Diskreditierung sowohl der Politik als auch der wissenschaftlichen Erkenntnis, warnen Wissenschaftler.

Der Einfluss wissenschaftlicher Politikberatung hat in den letzten 30 Jahren bedeutend zugenommen. Neben einer Vielzahl fester und langfristig eingerichteter Beratungsgremien in Regierung, Ministerien und Verwaltung expandiert auch die Anzahl individueller und kommerzieller geleisteter Berater. Schon 2008 stellte die interdisziplinäre Arbeitsgruppe „Wissenschaftliche Politikberatung in der Demokratie“ der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften (BBAW) in ihrer Studie „Wissen – Beraten – Entscheiden“ klar: Wissenschaftliche Politikberatung hat sich als eine eigenständige institutionelle Ebene zwischen Politik und Wissenschaft etabliert. Eine der Ursachen: Die andauernde Ausweitung der Staatsaufgaben habe den Bedarf an spezialisierter wissenschaftlicher Expertise weit über das in den ministeriellen Verwaltungen verfügbare Wissen hinaus steigen lassen. Die gewachsene Abhängigkeit von wissenschaftlicher Beratung zwinge den Staat zur Restrukturierung interner und zum Zugriff auf externe Beratungskapazitäten. Kommissionen und Beiräte seien aber nicht nur eine etablierte Organisationsform wissenschaftlicher Politikberatung, sondern erfüllten – oft unter Einbeziehung der Massenmedien – ebenso strategische Funktionen des Regierens. Auch erreiche die Wissenschaft direkt oder auf dem Umweg über die Medien die Politik und bestimme je nach Bedeutung der Inhalte die politische Agenda mit. 

In ihrer Studie, die auch Grundlage der „Leitlinien guter Politikberatung“ ist, betont die Arbeitsgruppe der BBAW vier generelle Prinzipien guter wissenschaftlicher Politikberatung, die gerade heute an Bedeutung gewonnen haben: 

  • Distanz: „Sie bedeutet in diesem Kontext die wechselseitige Unabhängigkeit von Politik und Wissenschaft, so dass es nicht zu einer Vermischung von partikularen Interessen und wissenschaftlichen Urteilen kommt.“ 
  • Pluralität: „Unterschiedliche Disziplinen und eine Pluralität von Beratern müssen themengerecht im Beratungsprozess vertreten sein. Dies gewährleistet die Vielfalt von Perspektiven, wissenschaftlichen Theorien und Methoden.“ 
  • Transparenz: „Transparenz der Beratung und der Entscheidungsprozesse sichert die Nachvollziehbarkeit von Entscheidungen und das Vertrauen in die Entscheidungsprozesse sowie die Argumente, die sie informieren.“
  • Öffentlichkeit: „Öffentlichkeit sichert den gleichberechtigten Zugang zu allen relevanten Informationen und ist gleichermaßen eine Voraussetzung des Vertrauens. Sie bezieht sich sowohl auf die Gremien und deren Beratungsprozesse als auch auf die Ergebnisse.“

Grenzen ziehen zwischen Wissenschaft und Politik

Aktuell spiegelt der Umgang mit der Klima-Krise und der Corona-Krise deutlich wider: Eine Vielzahl an Beratern, Experten, Wissenschaftlern, Stiftungen, Forschungs- und Beratungsinstitutionen trägt nicht nur dazu bei, Informationsdefizite zu beseitigen, sondern auch, politische Entscheidungen zu legitimieren. So ist ein Markt des Wissens entstanden, auf dem nicht nur politische, sondern auch kommerzielle Interessen eine entscheidende Rolle spielen. Ein Zustand, der sowohl in der Politik als auch in Wissenschaft und Gesellschaft kontrovers beurteilt wird. 

Dass wissenschaftliche Erkenntnisse häufig als rhetorisches Druckmittel benutzt würden, um bestimmte politische Entscheidungen zu erzwingen, betont Dr. Senja Post, Professorin für Wissenschaftskommunikation am Karlsruher Institut für Technologie. So stellt sie in ihrem Aufsatz „Zwischen Expertokratie und Wissenschaftspopulismus“ (erschienen in: Aus Politik und Zeitgeschichte, Juni 2022) fest: „Wenn die Grenzen zwischen wissenschaftlichem Wissen und politischer Entscheidungsfindung nicht transparent gemacht werden, können sich Politiker sowie Bürgerinnen und Bürger dem politischen Druck zu bestimmten Entscheidungen nur dadurch entziehen, dass sie wissenschaftliche Erkenntnis diskreditieren.“ Ihre Empfehlung: „Zugunsten möglichst rationaler, wissensbasierter Auseinandersetzungen erscheint es dagegen wünschenswert, wissenschaftliche Erkenntnis nicht zu politisieren. Dies dürfte es relevanten Akteuren erleichtern, unbequeme wissenschaftliche Erkenntnisse zu akzeptieren und sich stattdessen in Wertedebatten für die eigenen politischen Ziele zu engagieren.“ 

Ähnlich äußert sich Dr. Larz Brozus, Leiter der Forschungsgruppe Globale Fragen der Stiftung Wissenschaft und Politik. Gerade in Krisen habe sich gezeigt, dass die steigende Nachfrage nach Beratungsleistungen nicht zu einer höheren Wertschätzung oder größerem Vertrauen in die Ratschläge und Empfehlungen der Fachleute führte, so der Politikwissenschaftler 2020 in seinem Aufsatz „Politikberatung: nicht unpolitisch, aber distanziert“. Stattdessen hätten sich Skepsis und Zweifel in Öffentlichkeit und Politik vermehrt. Fachlicher Rat, so der Eindruck der Skeptiker, stelle keine belastbare Basis für politische Maßnahmen dar, was seine Relevanz zwangsläufig mindere. Die vom europäischen Thinktank European Council on Foreign Relations (ECFR) europaweit durchgeführte Befragung „Europe’s Pandemic Politics: How the virus has changed the public’s worldview“ zeige das Ausmaß der gesellschaftlichen Skepsis. So habe die Mehrheit der Befragten kein Vertrauen in die Unabhängigkeit der Experten. Mehr als 60 Prozent waren der Ansicht, dass Fachwissen durch die Politik instrumentalisiert, wenn nicht sogar manipuliert wurde. Nicht nur in den USA und in Großbritannien, sondern auch in Deutschland sieht der Politikwissenschaftler die Gefahr, dass die Empfehlungen professioneller Politikberatung von Forschungsinstituten und wissenschaftlichen Thinktanks konkurrierender politischer Lager – je nach Übereinstimmung mit deren Positionen – entweder vereinnahmt oder zurückgewiesen werden. Sei dies nun der Klimawandel, die Weltfinanzkrise oder Migrationsbewegungen – wissenschaftsbasierte Beratung wird zu einer Waffe im politischen Wettbewerb, so Brozus. Den Versuch, gegen jede Expertise eine Gegenexpertise zu mobilisieren und verstärkt den Dialog mit der Gesellschaft zu suchen, um diese über politische Alternativen samt ihren Konsequenzen und Kosten zu informieren, sieht er eher kritisch. Die Entwicklungen in den USA zeigten: Je mehr Publikumsveranstaltungen und Öffentlichkeitsarbeit, desto weniger akribisch erstellte Studien entstehen und auch die öffentliche Glaubwürdigkeit werde dadurch nicht erhöht. Viel wichtiger seien Transparenz und rigide Qualitätssicherungsmaßnahmen. 

Expertinnen und Experten sollten sich über die eigene politische Rolle bewusst sein. Zudem sollte klar kommuniziert werden, dass unterschiedliche Perspektiven auf ein Thema auch unterschiedliche Schlussfolgerungen ermöglichen. Erkennbare Multiperspektivität könne helfen, dem Eindruck der Vereinnahmung entgegenzuwirken. Auch sollte die Branche sich offen mit Irrtümern auseinandersetzen, die häufig als Argumente gegen sie genutzt werden. Gelinge dies, sollte sich fast von selbst eine angemessene Distanz zwischen Beratung und Politik ergeben, die Unabhängigkeit, Glaubwürdigkeit und Relevanz sicherstellt.

Schlüsselrolle der Wissenschaftskommunikation

Wie erfolgreich seriöse Informationen über und aus der Wissenschaft tatsächlich in der Öffentlichkeit ankommen, hängt wohl nicht zuletzt auch davon ab, wie gut die Wissenschaft selbst ihre eigenen Standards in der Kommunikation einhält – zu dieser Schlussfolgerung kommt Holger Wormer, Professor für Wissenschaftsjournalismus an der Technischen Universität Dortmund, in seinem Aufsatz „Von der Wissenschaftskommunikation zur Evidenzbasierten Kommunikation (erschienen in: APuZ, Juni 2022). Dazu gehöre auch der Wille zum Umdenken in den Leitungsebenen der Hochschulen und Forschungseinrichtungen, sich von der wettbewerbsgetriebenen Reputationskommunikation für die eigene Einrichtung zu entfernen und sich hin zu einer eigenständigen Wissenschaftskommunikation zu bewegen. Eine stärker gebündelte Kommunikation, etwa in Kommunikationsverbünden, wo Information strikt von bloßer Selbstvermarktung getrennt tatsächlich zum Dialog einlädt, dürfte in der Öffentlichkeit mehr Vertrauen finden als eine einrichtungszentrierte Hochglanzkommunikation. Wenn Wissenschaftskommunikation eine orientierende Funktion für Politik und Gesellschaft zukommt, sollte sich diese auch an wissenschaftlichen Standards orientieren, meint Wormer. //

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