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Große soziale Veränderungen

Brasiliens Hochschulpolitik war auf dem Weg, Menschen aus sozial schwachen Schichten an die Unis zu bringen. Damit ist es vorbei.

Der brasilianische Präsident Jair Bolsonaro misst den Hochschulen allgemein und den Geisteswissenschaften im Besonderen wenig Wert bei. Per Dekret kürzte er im März dieses Jahres mehr als 13.000 Stellen und im Folgemonat 30 Prozent des Budgets von mehreren öffentlichen Hochschulen, die auf Rankings obere Plätze belegen. „Die Uni hat offenbar zu viel Geld, um damit lächerliche Veranstaltungen und Unordnung zu finanzieren“, erklärte Bildungsminister Abraham Weintraub dazu und kündigte an, auch andere Universitäten, die sich „nicht um die Qualität der akademischen Leistung, sondern um Rummel kümmerten“, hätten mit Kürzungen zu rechnen.

Laut Weintraub finden an den Hochschulen parteipolitische Demonstrationen und politische Veranstaltungen statt. Diese Meinung passt zur Einschätzung des Präsidenten, der sich bei einer Rede in den USA beklagte, die Linke habe Universitäten und Schulen infiltriert. Nach den ersten Kürzungen gingen im Mai im ganzen Land Lehrende, Studierende und Sympathisanten aus Protest auf die Straßen. Ein Drittel weniger bedeute bei einem ohnehin knappen Budget das Ende des Hochschulbetriebs, klagen die Betroffenen.

„Ich denke, der Präsident hat letztlich vor, ein gewinnorientiertes System privater Institutionen zu schaffen“, sagt Dr. José Aldolfo de Almeida Neto, Professor für Umweltmanagement und Agrarwissenschaft an der staatlichen Universität Santa Cruz (UESC) in Ilhéus im brasilianischen Bundesstaat Bahia. Er kritisiert: „Wir sind seit Jahren nicht wirklich frei in der Forschung, weil vor allem Forschung in wirtschaftlich relevanten Fächern finanziert wird, aber nicht etwa in den Geisteswissenschaften.“

In Brasilien ist der Staat die wichtigste Finanzierungsquelle der Forschung und fördert sie sowohl direkt in Form von Zuschüssen und Krediten als auch indirekt durch Steuererleichterungen. Im internationalen Vergleich ist die staatliche Forschungsförderung jedoch – ebenso wie die der Unternehmen – vergleichsweise gering. Zu den herausragenden Forschungsinstitutionen in Brasilien gehört das national wie international tätige staatlich finanzierte Butantan-Institut, ein weltweit anerkanntes Zentrum der biomedizinischen Forschung. Es liegt in direkter Nachbarschaft zur Universität von São Paulo. Außerdem zählt dazu die privatrechtliche Stiftung Wissenschaft und Technologie, Cientec, die Forschungseinrichtung des Bundesstaates Rio Grande do Sul. Da Brasilien über bedeutende Vorkommen von Erdöl und Erdgas verfügt und der Energiebedarf im Land stark zunimmt, wird das Thema Energie als Forschungsgegenstand besonders gefördert. Das Technologieforschungsinstitut des Bundesstaates São Paulo, IPT, ist seit mehr als hundert Jahren unter anderem in diesem Bereich tätig. In diesem Institut, das anwendungsorientiert arbeitet, stellen Forschungsaufträge aus der Wirtschaft etwa 30 Prozent des Budgets. „Die brasilianischen Hochschulen sollten sich an den deutschen orientieren: dort gibt es viel mehr aus der Wirtschaft finanzierte Forschungsprojekte als in Brasilien“, sagt Almeida Neto, der als Doktorand in Deutschland war. Die Forschung in Deutschland hat er in guter Erinnerung: Von der großen Freiheit, die ihm sein Doktorvater ließ, bis zur Regelung, dass zwei Fachgebiete in seine Arbeit einzufließen hätten. „Damit wird ein interdisziplinäres Denken gefördert, das für jeden Doktoranden wichtig ist“, sagt er. „In Brasilien gibt es diese Anforderung nicht.“

An den rund 2150 privat finanzierten und überwiegend profitorientierten Hochschulen findet so gut wie gar keine Forschung statt, der höchste angebotene Abschluss ist meist der MBA. Nur die Getúlio-Vargas-Stiftung und die katholisch ausgerichteten PUC-Universitäten, allen voran die von Rio, zeichnen sich unter den privaten Einrichtungen in der Forschung aus. Ansonsten spielt das Ministerium für Wissenschaft, Technologie, Innovation und Kommunikation, MCTIC, eine zentrale Rolle im Forschungs- und Innovationssystem, ihm sind diverse Forschungseinrichtungen untergeordnet, an denen auch deutsche Austauschpartner, Studenten, Lehrende und Forscher, unterkommen.

„Günstiges Geschäftsklima“

Im Juli hat das Bildungsministerium offiziell das Projekt „Futurese“ (zu übersetzen etwa mit: „werde zukunftsfähig“) verkündet. Öffentliche Universitäten sollen Fonds aus privatwirtschaftlichen Mitteln gründen können, um so ihre Finanzmittel zu ergänzen. Nach einer Anhörungsphase, in der Anregungen und Kritiken zum Projekt gehört werden sollen, wird der Nationalkongress entscheiden. Bildungsexperten halten es für bedenklich, dass bei der Projektentwicklung weder Unirektoren, noch Wissenschaftler konsultiert wurden. Zudem existieren bereits jetzt mehr als hundert Stiftungen, die private Finanzierungen für Uniprojekte verwalten können. Manche äußern die Befürchtung, Bolsonaro könne das Futurese-Projekt mit anderen Hintergedanken lanciert haben. Im Werbevideo des Ministeriums heißt es: „Es soll ein günstiges Geschäftsklima geschaffen werden.“

Bislang sind öffentliche Universitäten keine Unternehmungen, die ein günstiges Geschäftsklima benötigen. Rund zwölf Prozent der Hochschulen sind zurzeit öffentlich und bis auf eine geringe Einschreibgebühr kostenlos. Die privaten Hochschulen, die mit sechs Millionen die Mehrzahl der Studierenden besucht, können sich meist nur Angehörige der oberen Mittelklasse leisten. Wer ein beliebtes Fach wie Medizin an einer renommierten Fakultät belegen möchte, muss dafür bis zu 2800 Euro pro Monat aufbringen; an der günstigsten Medizinfakultät sind es immer noch 840 Euro. Zum Vergleich: Das brasilianische Durchschnittseinkommen lag 2017 bei 280 Euro im Monat, wobei ein Prozent der arbeitenden Bevölkerung mehr als 6200 Euro monatlich verdienen und die am schlechtesten Gestellten mit 175 Euro auskommen müssen. Seit 2012 gibt es für öffentliche Hochschulen Quoten für Absolventen öffentlicher Schulen, darunter einen gesonderten Anteil für Schwarze und Indigene. Die Hälfte aller Studienplätze sollen so für sozial Schwächere geöffnet werden. In Brasilien ist die soziale Hierarchie eng mit der Hautfarbe verbunden: Der Anteil von Schwarzen unter den Graduierten stieg von 2,2 Prozent im Jahr 2000 auf 9,2 Prozent 2017.

„Die Politik der vergangenen Jahre hat den Hochschulzugang für eine breite Schicht ermöglicht“, sagt Dr. Marcelo Aranha, Professor für Biodiversität an der öffentlichen Universität von Palotina im südbrasilianischen Bundesstaat Paraná. „Ich habe hier Studenten aus Familien, die seit vier oder fünf Generationen zum ersten Mal Zugang zu höherer Bildung haben, das bewirkt große soziale Veränderungen.“ Zurzeit schreibt sich etwa ein Viertel eines Jahrgangs in Brasilien an Hochschulen ein, jährlich erreichen mehr als eine Million Studierende einen Bachelor- oder Masterabschluss und mehr als 16 000 promovieren. Mit einem Anteil von 17 Prozent der 25- bis 34-Jährigen, die einen tertiären Bildungsgang abgeschlossen haben, liegt Brasilien trotzdem weit unter dem OECD-Durchschnitt von 43 Prozent.

International belegt Brasilien mit rund 2450 Hochschulen und acht Millionen Studierenden einen vorderen Platz. Die Bildungsausgaben machten 2018 knapp sechs Prozent des BIP aus, für Forschung wurden 1,17 Prozent des Bruttoinlandsprodukts bereitgestellt. Zu Beginn der Regierungszeit der Arbeiterpartei PT ab 2000 sind hohe Summen in die Bildung geflossen, wurden die Quotenregelungen und Stipendienprogramme geschaffen, die einer breiten Bevölkerung den Zugang zur Universitätsbildung ermöglichte. Doch 2015, als das Land in eine tiefe Wirtschaftskrise gestürzt war, kürzte die damalige Präsidentin Dilma Rousseff umgerechnet knapp 2,3 Milliarden Euro im Bildungsetat.

Davon war auch das Austauschprogramm Ciência sem Fronteiras („Wissenschaft ohne Grenzen“) betroffen, für das 2015 noch 800 Millionen Euro ausgegeben wurden. Es war 2012 aufgelegt worden. Die teilnehmenden Studierenden absolvierten in Deutschland jeweils ein Jahr Praktikum und ein Jahr Hochschulstudium und sollten so unmittelbar auf den Arbeitsmarkt vorbereitet werden. Da Praktika in Brasilien selten vorgesehen und Praktikumsplätze kaum verfügbar sind, war das Programm sehr beliebt. Tausende Studierende konnten erstmals ihre Wunschuniversitäten in Deutschland ansteuern – zuvor war der Austausch für Studierende nur über direkte Kooperationen mit Partneruniversitäten gelaufen. Der Deutsche Akademische Austauschdienst (DAAD) half bei der Verteilung der Studenten auf die Hochschulen. Die Hochschulen wiederum suchten ihnen Praktikumsplätze in deutschen Unternehmen und erhielten Gelder von CAPES, der brasilianischen Förderagentur für Hochschulbildung, für die besondere Betreuung der Austauschstudenten.

2016 wurde infolge der kritischen Wirtschaftssituation in Brasilien und der politisch instabilen Situation – Präsidentin Dilma Rousseff wurde 2017 des Amtes enthoben – das Programm „Wissenschaft ohne Grenzen“ eingestellt. „Danach haben CAPES und auch DAAD sich wie zuvor wieder darauf konzentriert, Graduiertenaustausch zu fördern und damit Hochschullehrer zu produzieren, anstatt Fachkräfte für den allgemeinen Arbeitsmarkt“, sagt Dr. Martina Schulze, Leiterin der Außenstelle des DAAD in Rio de Janeiro. Manche der jüngeren Kooperationen mögen darunter gelitten haben, sagt sie, langjährige Kooperationen überstünden solche finanziellen Engpässe besser, man vertraue darauf, dass wieder bessere Zeiten kämen.

Kooperation meist langjährig

Deutschland gehört neben den USA und Frankreich zu den wichtigsten Austauschländern für Brasilien. „Das liegt an den inhaltlichen Schwerpunkten, aber auch daran, dass Deutschland keine Studiengebühren erhebt“, sagt Schulze. Fast ein Viertel der heute aktiven Kooperationen zwischen Deutschland und Brasilien im Hochschulbereich wurde vor mindestens zehn Jahren, viele sogar vor 20 oder 30 Jahren begonnen, nur elf Prozent seien jünger. In die Statistiken sind mehr als 600 Hochschulkooperationen zwischen Deutschland und Brasilien eingetragen, doch nur ein geringer Anteil mit 60 bis 80 Universitäten sei wirklich aktiv, schätzt Schulze.

Dabei haben sich in den vergangenen Jahren grundsätzlich die Beziehungen qualitativ verändert. Früher betrachteten deutsche Forscher Brasilien eher als Forschungsobjekt, etwa um im Bereich der Umweltwissenschaften den tropischen Regenwald zu erforschen. Inzwischen hat Brasilien stark aufgeholt und ist in Bereichen wie Medizin und Immunologie sehr gut aufgestellt. Heute gehe es mehr um wissenschaftliche Zusammenarbeit, sagt Schulze, oft fächerübergreifend, meist in ganzen Fächerbereichen wie Ingenieur- oder Rechtswissenschaften. Natur- und Geisteswissenschaften seien schwächer vertreten.

Und ganz so schlecht, wie die Kürzungspläne der aktuellen Regierung es befürchten lassen, sind die Zeiten nicht: Von Kürzungen ausgenommen blieb bislang ein von CAPES im vergangenen Jahr aufgelegtes sogenanntes Internationalisierungsprogramm. Dafür wurden im ganzen Land 36 Universitäten ausgewählt, die unter anderem mindestens vier Graduiertenprogramme mit sehr guten Rankingnoten vorweisen mussten. Diese Universitäten sollen künftig ihre Doktoranden ins Ausland schicken und von dort Professoren aufnehmen. Ziel ist es, die brasilianischen Graduiertenprogramme zu internationalisieren, das Programm ist von der Exzellenzinitiative inspiriert. 64 deutsche Hochschulen haben in diesem Rahmen bereits Verträge abgeschlossen. //

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