Was sich die Sozialwissenschaftler im neuen Programm wünschen
In Brüssel wird seit Monaten die Forschungsförderung der EU für die Jahre 2014 bis 2020 verhandelt. Geistes- und Sozialwissenschaftler befürchten, dass sie unter die Räder kommen. Sie fordern nun eigene Forschungsprogramme.
Der offene Brief, der an die EU-Forschungskommissarin Máire Geoghegan-Quinn gerichtet ist, spricht eine deutliche Sprache. Die Geistes- und Sozialwissenschaftler Europas machen sich darin für ihre Disziplinen stark, davon hängt ihrer Meinung nach die Zukunft des Kontinents ab: „Ein Klima nachhaltiger und breiter Innovation kann in Europa nur etabliert werden, wenn die Europäischen Gesellschaften sich ihrer Möglichkeiten und Hindernisse bewusst sind – dieses Wissen wird von den Sozial- und Geisteswissenschaften bereitgestellt“, heißt es. Bis Ende des Jahres können ihn Wissenschaftler unterzeichnen, können damit der Bedeutung ihrer Arbeit Ausdruck verleihen – und ihrer Zukunftsangst.
Verfasst hat den Brief Anfang November eine breite Allianz von geisteswissenschaftlichen Vereinigungen (www.eash.eu). Unter ihnen sind Net4Society, ein europäisches Netzwerk der Nationalen Kontaktstellen für Geisteswissenschaften, sowie der europäische Zusammenschluss nationaler Wissenschaftsakademien (Allea). Schon in den ersten Tagen unterzeichneten über zehntausend Befürworter. Der offene Brief erreicht die irische EU-Kommissarin in einer Zeit, in der sie sich gerade mit ihren Kollegen über das achte Forschungsrahmenprogramm abstimmt. Der Entwurf dafür trägt den Namen Horizon 2020. In ihm geht es um viel Geld: Rund 80 Milliarden Euro an Forschungsförderung will die Kommission in den Jahren 2014 bis 2020 verteilen. Historiker, Philosophen oder Sprachwissenschaftler treibt dabei jedoch eine große Sorge um, nämlich die, dass für sie nicht genug abfällt. Bislang jedenfalls war das so. Gerade einmal gut 600 Millionen Euro erhielten sie im laufenden 7. Rahmenprogramm von den insgesamt 55 Milliarden Euro.
Ende November wollte die Kommission ihren Vorschlag für die Verteilung der Forschungsgelder vorlegen. Er ist quasi die Basis für die anschließenden Verhandlungen mit dem Parlament und dem Rat. Bis Redaktionsschluss dieser Ausgabe lag das Papier noch nicht vor. Anfang November umriss Geoghegan-Quinn in einer Rede vor der British Academy jedoch, wohin die Reise gehen soll. Die Kommission sieht demnach eine Dreiteilung der Forschungsförderung vor, in der die Geisteswissenschaften eine zentrale Rolle spielen sollen: Eine Säule ist für die Exzellenzforschung gedacht. In sie sollen etwa das Programm des Europäischen Forschungsrates (ERC) und das Marie-Curie-Programm einfließen. Zweitens werden Forschungsfelder definiert, in denen die EU besonders wettbewerbsfähig sein will, zum Beispiel in der Nano- oder Biotechnologie. Drittens werden sogenannte gesellschaftliche Herausforderungen benannt, etwa Nahrungsmittelsicherheit oder demografischer Wandel.
Speziell für die Geistes- und Sozialwissenschaften sieht die Hochschulrektorenkonferenz (HRK) Fördermöglichkeiten in zwei Bereichen. Erstens könnten sie ihre Forschung über die Förderlinien des ERC finanzieren, sagt HRK-Präsidentin Prof. Dr. Margret Wintermantel. Zweitens müsste ihnen auf den Gebieten der gesellschaftlichen Herausforderungen die Möglichkeit eigener Beiträge eingeräumt werden. „Es hat mich gefreut, bei einem persönlichen Gespräch in Brüssel zu hören, dass Frau Geoghegan-Quinn diese Auffassung explizit teilt“, sagt Wintermantel. Die EU müsse nun deutlich machen, dass die Geisteswissenschaften nicht nur eine „nachrangige Begleitforschung zur Technikforschung“ seien.
Die Autoren des offenen Briefes sehen das ähnlich. Sie fordern zum einen eine eigene sogenannte gesellschaftliche Herausforderung, die sozial- und geisteswissenschaftlich getrieben ist. Gemeint ist damit „ein eigenes Forschungsprogramm für die Sozial- und Geisteswissenschaften“, sagt Angela Schindler-Daniels. Sie ist Koordinatorin bei Net4Society und eine der Mitautorinnen. Zum anderen fordert Net4Society künftig ein Budget von fünf Milliarden Euro für die geistes- und sozialwissenschaftliche Verbundforschung.
Darüber hinaus sei es für die Geistes- und Sozialwissenschaften sinnvoll, interdisziplinär in den anderen von der EU geplanten Feldern mitzuarbeiten, sagt Dr. Charlotte Fiala, Leiterin des Brüsseler Büros der Freien Universität Berlin. Doch das sei nicht immer praktikabel. So sei etwa der Vorschlag, in der Herausforderung „Integration, Innovation und Sicherheit“ die Sozialwissenschaften mit der Sicherheitstechnologie zu verknüpfen, wenig überzeugend. „Hier wird etwas zusammengeführt, was nicht zusammenpasst“, kritisiert Fiala. Die Geistes- und Sozialwissenschaftler unterschieden sich schon in ihren Fragestellungen von den Forschern, die sich mit Sicherheitstechnologie befassen: So fragten die einen, wie Terrorismus entstehe, die anderen entwickelten Technologien. Zudem zeigten bisherige Projekte, dass die Geisteswissenschaften nie den Ton angeben, sagt Schindler-Daniels.
Nicht nur „das Experiment, auch bloßes Nachdenken kann Forschung und Wissenschaft sein“, sagt der Literaturwissenschaftler und frühere Präsident der Deutschen Forschungsgemeinschaft, Prof. Dr. Wolfgang Frühwald. Im Bereich von „Moral, Ästhetik und Geschichte bleibt die Forscherpersönlichkeit, die in Einsamkeit und Freiheit ihre Monografie schreibt, von großer Bedeutung.“ Das müsse sich auch in der Forschungsförderung widerspiegeln
DUZ Europa 10/2011 vom 02.12.2011