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Terrain für Konflikte

Wie Zweifel an wissenschaftlicher Expertise die Dynamik gesellschaftlicher Spannungen widerspiegeln

Gegenwärtig ist der Einfluss wissenschaftlicher Expertise auf politische Entscheidungen wohl so groß wie selten zuvor. Die Festlegung von Klimazielen oder die Durchsetzung von Maßnahmen zur Eindämmung der Corona-Pandemie sind ohne Bezug zu wissenschaftlich generierten Fakten und ohne den enormen Einfluss von wissenschaftlicher Expertise nicht zu verstehen. Das Vertrauen der Bevölkerung in die Wissenschaften ist trotz teils massiver Proteste gegen die Corona-Politik während der Pandemie nicht gesunken, sondern im Gegenteil eher gestiegen. Dies zeigten zuletzt die Zahlen des Wissenschaftsbarometers, das die Haltung der Bevölkerung zu Wissenschaft, Forschung und wissenschaftlicher Politikberatung regelmäßig repräsentativ erhebt. Demnach ist das generelle Vertrauen in Wissenschaft und Forschung von knapp 50 Prozent im Jahr 2019 in der Pandemie auf knapp 75 Prozent im Mai 2020 angestiegen, um sich im November 2021 auf etwas über 60 Prozent einzupendeln.

Parallel dazu lässt sich seit einiger Zeit eine wachsende Politisierung von wissenschaftlicher Expertise in der Öffentlichkeit beobachten, die bis zur grundsätzlichen Ablehnung gegenüber den Wissenschaften und offiziellen Expertendeutungen reicht. Eine wachsende Umstrittenheit von wissenschaftlicher Expertise muss zunächst nicht beunruhigen, sondern sie ist Ausdruck einer gesunden demokratischen Streitkultur. Denn gerade in demokratischen Systemen gibt es traditionell eine ausgeprägte Skepsis gegenüber einem zu starken Einfluss von Experten und vermeintlichen „Wissenseliten“ auf politische Entscheidungen. Auch wird in kritischen Kommentaren immer wieder zu Recht davor gewarnt, dass politische Entscheidungen mit dem Verweis auf wissenschaftliche Expertise häufig nur nachträglich legitimiert und als alternativlos dargestellt werden.

Doch zeigen die Erhebungen des Wissenschaftsbarometers 2021 auch ein erhebliches Potenzial an Wissenschaftsskepsis: 32 Prozent der Befragten sind im Hinblick auf ihr Vertrauen in Wissenschaft und Forschung unentschieden und zwischen sechs und neun Prozent misstrauen der Wissenschaft grundlegend. Diese Zahlen bilden das Konfliktpotenzial und die gesellschaftlichen Konstellationen rund um Corona, Klima und die Impfthematik unseres Erachtens sehr gut ab. Die Zahl der offenen Skeptiker ist relativ gering, und es gibt eine gewisse stille Reserve, die sich mal mehr, mal weniger von wissenschaftlichen Fakten und Argumentationen überzeugen lässt. Vor diesem Hintergrund erscheint die in den Medien vermehrt zu vernehmende These eines „postfaktischen Zeitalters“ als zu dramatisch. Doch lässt sich ein Wandel im Verhältnis von Politik, Gesellschaft, Wissenschaft und Öffentlichkeit nur schwer leugnen. Symptomatisch zeigt er sich an dem scheinbaren Nachlassen der konsensstiftenden Funktion wissenschaftlich-fundierter ­Expertise für politische und gesellschaftliche Streitfragen.

Wie lässt sich dieser Wandel erklären und woher rührt die aktuelle Dynamik im Verhältnis von Politik, Gesellschaft, Wissenschaft und Öffentlichkeit? Aus unserer Sicht handelt es sich um das Ergebnis des Zusammenwirkens unterschiedlicher gesellschaftlicher Veränderungen: Mit der Entwicklung postindustrieller Wissensgesellschaften geht, so eine grundlegende Annahme, auch die Verwissenschaftlichung der Politik einher. Dieser Prozess schreitet jedoch keineswegs unilinear und konfliktfrei voran, nicht zuletzt aufgrund der Logik der Wissensproduktion selbst, die sich durch kontinuierliche Weiterentwicklung und eine beständige Kritik und Infragestellung bestehender Erkenntnisse auszeichnet. In diesem Zuge wurde nicht zuletzt auch vonseiten der Wissenschaft – hier vor allem von den Kultur- und Sozialwissenschaften – der hegemoniale Status von Expertenwissen in den letzten Jahrzehnten kräftig dekonstruiert. Dies zeigt sich beispielsweise an der Wiederentdeckung von Citizen Science in der Forschung. Parallel dazu wurde bereits in den 1990er-Jahren die Entstehung einer neuen, stärker anwendungsorientierten Form der Wissensproduktion propagiert – der viel zitierte Mode 2 der Wissensproduktion.

Alle diese Entwicklungen weisen auf eine Pluralisierung von Wissensformen hin und zugleich auf eine stärkere Öffnung der Wissenschaften gegenüber der Gesellschaft. In der Öffentlichkeit und den Medien scheint die Digitalisierung von zentraler Bedeutung für die Zunahme von Wissenskonflikten zu sein. In sozialen Medien kann jeder zum Wissenproduzierenden werden. Dadurch findet eine zunehmende Fragmentierung der Öffentlichkeit statt. Dieser neue „Strukturwandel der Öffentlichkeit“ (Jürgen Habermas) verhindert (zumindest zum Teil) Verständigungsprozesse über die Geltung von Wissen und befeuert Konflikte um Expertisen.

Bürgerbeteiligung kann Spannungen verschärfen

Im Verhältnis von Politik und Gesellschaft lässt sich zudem ein Trend zur stärkeren Einbeziehung der Bürgerinnen und Bürger in politische Entscheidungsprozesse feststellen, etwa in Form Runder Tische oder anderer Beteiligungsverfahren. Hierbei bringen die Bürger häufig selbst wissenschaftliches Wissen und Argumente in die Debatten ein. Es gibt einen massiven Anstieg der Expertise-Produktion durch zivilgesellschaftliche Akteure, gerade in der Umwelt- und Energiepolitik, aber auch in vielen weiteren Politikbereichen.

Ausgehend davon spiegeln Wissenskonflikte oft weitreichendere gesellschaftliche Konflikte und soziale Spannungen wider, die sich häufig gerade nicht durch besseres Wissen lösen lassen und deshalb politisch ausgefochten werden müssen. So lassen sich Impfskeptikerinnen in der Regel nicht durch den Verweis auf wissenschaftliche Evidenzen und statische Wahrscheinlichkeiten überzeugen, und in der Klimadebatte befeuert der Verweis auf den großen wissenschaftlichen Konsens in der Klimaforschung die Mobilisierung von Gegenwissen, Desinformationskampagnen und nicht zuletzt eine massive politische Abwehrreaktion jener, die sich von den Folgen der Klimapolitik unmittelbar negativ betroffen oder ausgegrenzt fühlen.

Die Dynamik von Wissenskonflikten wird also von unterschiedlichen gesellschaftlichen Entwicklungen und bestehenden politischen Konfliktkonstellationen befeuert. Das Verstehen dieser Dynamiken ist nicht nur notwendig für eine Analyse des Einflusses von Expertise in der Politik, sondern auch für ein Verständnis der aktuellen Herausforderungen demokratischer Politik insgesamt. Denn politische Diskurse und demokratische Entscheidungen sind ohne Konflikte um Ideen, Interessen, Werte und auch Wissen nur schwer vorstell- oder gar wünschbar. Problematisch wird es, wenn diese Konflikte nicht integrativ wirken, sondern wenn politische Entscheidungen nur noch mit Rekurs auf absolute Geltungsansprüche begründet oder zurückgewiesen werden, wenn Gesinnungsfragen nur noch als Wissensfragen artikuliert und diskutiert werden und wenn sich widerstreitende politische Lager abschotten und gegen alle Einwände immunisieren. //

PD Dr. Sebastian Büttner

Sebastian Büttner lehrt als Privatdozent am Institut für Soziologie der FAU Erlangen-Nürnberg.

Foto: Glasow-Fotografie

Prof. Dr. Thomas Laux

Thomas Laux ist Junior-Professor für Europäische Kultur und Bürgergesellschaft an der TU Chemnitz.

Foto: privat​

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