POLITIK & GESELLSCHAFT

FORSCHUNG & INNOVATION

STUDIUM & LEHRE

KOMMUNIKATION & TRANSPARENZ

ARBEIT & PSYCHOLOGIE

WISSENSCHAFT & MANAGEMENT

75 JAHRE DUZ

 Login

Wie viele bleiben?

Alle sind sich einig: Zu viele Menschen scheitern im Studium. Doch um etwas zu tun, müssen die Hochschule erst einmal erfassen, wer ihre Abbrecher sind. Wer wirft hin? Wer wechselt nur die Uni? Die Politik drängt – und die Hochschulen jagen ein Phantom.

Es ist ja nicht so, dass sich Dr. Werner Link keine Mühe gegeben hätte. Der Referent des Rektors der Fachhochschule Dortmund hatte einen zweiseitigen Fragebogen ausgetüftelt, der den Studierenden auf den Zahn fühlen sollte, die der FH den Rücken kehren. Wechseln die Abtrünnigen die Hochschule? Wenn ja, warum? Brechen sie ganz ab? Was sind die Gründe? Viele Fragen – aber beantworten wollen sie nur wenige Ex-Studenten. Lediglich rund zehn Prozent der Bögen kommen zurück. „Die Abgänger sind schwer zu erreichen“, sagt Link. Einen Zwang zur Mitarbeit gebe es nicht. Andere Hochschulen hätten den Abgängern Belohnungen für ausgefüllte Fragebögen in Aussicht gestellt, erzählt Link – ebenfalls mit geringem Erfolg.

Die Fachhochschule Dortmund ist nicht die einzige Hochschule, die gerne mehr darüber wissen möchte, warum Studierende abbrechen – und was man daraus für die Zukunft lernen kann. Doch während die Hochschulen mittlerweile viel über Absolventen wissen, kommen sie an die Abbrecher nicht so recht ran. Das verwundert kaum: Wer die Hochschule verlässt – sei es, weil er den Anforderungen des Faches nicht gewachsen ist, die Stadt langweilig findet oder lieber in die Arbeitswelt wechselt –, verspürt wenig Anreize, sich zum Abschied noch mit langen Fragebögen herumzuschlagen. Das Interesse, das Informationsbedürfnis einer Hochschule zu befriedigen, mit der er nichts mehr zu tun hat, hält sich in Grenzen.

Aus den wenigen Rückläufen exmatrikulierter Studenten hat der Dortmunder Rektor Prof. Dr. Wilhelm Schwick nur vage Erkenntnisse gewonnen. „Bei viele jungen Leuten passten die Erwartungen nicht zur Realität des Hochschulalltags“, meint er. Ihnen fehle der Grad der Selbstorganisation, der für ein Studium erforderlich ist. Allerdings: „Den typischen Studienabbrecher gibt es nicht“, sagt er. Rückschlüsse, wie sich die Dortmunder Hochschule verbessern kann, will Rektor Schwick aus den wenigen Antworten deshalb nicht ziehen.

Dabei macht die Politik zunehmend Druck, dass sich etwas bewegt. Das Wissenschaftsministerium in Sachsen beispielsweise hat gerade eine Studienerfolgsstrategie vorgelegt. Sie soll Hochschulen helfen, die Abbrecherquoten zu senken. In Niedersachsen lässt das Wissenschaftsministerium derzeit ergründen, wie der Studienerfolg stärker bei der Geldzuteilung an die Hochschulen berücksichtigt werden kann. „Viele fangen an, aber zu wenige schließen ab“, sagt die Ministerin Gabriele Heinen-Kljajic. „Da müssen wir gegensteuern.“ Aktuelle Studien des Deutschen Zentrums für Hochschul- und Wissenschaftsforschung (DZHW) zeigen, dass an den Universitäten jeder dritte, an den FHs jeder vierte Bachelor-Student aufgibt. Insgesamt kommen im Bachelor 28 Prozent der Anfänger nicht zum Ziel. Hohe Abbrecherquoten erschweren es Wissenschaftsministerinnen und Wissenschaftsministern, am Kabinettstisch höhere Bildungsetats auszuhandeln: Warum sollte der Finanzminister Millionen für Studienplätze lockermachen, wenn so viele junge Menschen ohne Abschluss gehen?

Das Thema spielt auch eine Rolle, wenn in diesem Jahr die Verhandlungen für die dritte Phase des Hochschulpaktes beginnen. Ein Milliardenprogramm, mit dem der Bund die Länder beim Ausbau der Studienplätze unterstützt. Wer so viel gibt, will Erfolge sehen.

Bislang floss das Geld aus dem Hochschulpakt, ohne dass sich die Politik groß darum kümmerte, ob aus den Studienanfängern tatsächlich zusätzliche Absolventen werden. Den Zuschuss gab es pro Immatrikulation: Je mehr Studenten sich einschreiben, umso mehr Geld überwiesen Bund und Länder aufs Konto der Hochschule. Doch zulassen ist relativ einfach, die eigentliche Arbeit beginnt danach: Als die SPD im Bund noch Oppositionspartei war, forderte sie, die Vergabe der Fördermittel für den Pakt um einen Abschlussbonus zu ergänzen – bis zu 2000 Euro soll es für jeden erfolgreichen Absolventen geben. Der Bonus-Ansatz ist nicht vom Tisch, er steht im Koalitionsvertrag der Bundesregierung. „Insofern besteht schon die Chance, dass wir das Element Abschlussbonus im nächsten Hochschulpakt durchsetzen“, sagt der hochschulpolitische Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion, Dr. Ernst Dieter Rossmann, der duz. Ob das Modell wirklich zum Zug kommt, wird sich erst zeigen, wenn die Hochschulpolitiker des Bundes und der Länder den Hochschulpakt verhandelt haben.

Die Hochschulen sind von solchen Erfolgskontrollen jedenfalls nicht sehr begeistert. „Ich bin skeptisch, ob es sinnvoll ist, Gelder an den Studienerfolg zu koppeln“, sagt Prof. Dr. Volkmar Gieselmann, Prorektor für Studium an der Universität Bonn. Das schaffe einen Anreiz, den Leistungsanspruch zu senken. „Das kann weder im Interesse der Universität noch der Gesellschaft sein“, sagt er. Und Prof. Dr. Horst Hippler, Präsident der Hochschulrektorenkonferenz, sekundiert: „Es besteht das große Risiko von Fehlsteuerungseffekten und Qualitätsverlusten.“

In NRW hat sich die Debatte derweil schon weitergedreht. Anfang des Jahres machte die SPD-Wissenschaftsministerin Svenja Schulze bei den Fachhochschulen Nägel mit Köpfen: Die Quote der Abbrecher soll bis 2016 landesweit um 20 Prozent sinken, heißt es in den Zielvereinbarungen mit den 16 FHs. „Es gibt keinen Grund, auf eine Durchfallquote noch stolz zu sein“, sagt Schulze. „Die hohen Abbrecherquoten in manchen Studiengängen sind angesichts eines eklatanten Fachkräftemangels ein Problem“, so die Ministerin. Hochschulen, „die gerne elitären Dünkel zeigten“, seien „schlicht auf dem Holzweg“. Eine klare Ansage.

Die NRW-Unis rebellieren gegen die Ministerin und haben die Zielvereinbarungen bislang nicht unterzeichnet – auch wegen der Abbrecher-Vorgaben. „Hier wird eine implizierte Schuldzuweisung betrieben, die wieder einmal Negativ-Entwicklungen den Hochschulen in die Schuhe schiebt“, echauffierte sich der Bonner Uni-Rektor Prof. Dr. Jürgen Fohrmann.

Erschwerend kommt hinzu, dass Ministerin Schulze möglicherweise zu schnell vorgeprescht ist. Die Tücke steckt in der Statistik – und sie ist brisant. Denn was so einfach erscheint, ist bisher ein ungelöstes Problem: Wie ermittelt eine Hochschule, welche vorzeitigen Abgänger wirklich gescheitert sind? Ist ein Student, der an eine andere Hochschule wechselt, ein Studienabbrecher? Gilt als Abbrecher jemand, der statt Medizin nun auf Chemie an derselben Uni umsattelt oder eine Ausbildung einschiebt und dann zurückkehrt?

Rückendeckung für die Zweifler gibt es vom Statistikexperten Dr. Ulrich Heublein, der beim DZHW für die Studierendenforschung zuständig ist. „Nur wer das Studium ohne Abschluss beendet, fällt unter die Definition Studienabbrecher“, sagt er. Ein Wechsel des Fachs oder der Hochschule zählen die Hochschulforscher nicht als Abbruch, sondern als Schwund: Es sind Studierende, die zwar an der einen Stelle aus der Bilanz verschwinden, aber an anderer wieder auftauchen. Schwund und Abbruch – der Unterschied zwischen den Begriffen ist wichtig in der ganzen Debatte.

Bundesweit können die Statistikexperten beim DZHW schätzen, wie viele Studenten tatsächlich abbrechen. „Die Irrtumswahrscheinlichkeit ist so gering, dass wir die Zahlen als belastbar veröffentlichen können“, sagt Heublein. Für einzelne Hochschulen könne das Verfahren nicht eingesetzt werden. „Auf dieser Ebene kann der Studienabbruch nicht berechnet werden, sondern höchstens hochschulbezogene Erfolgs- und Schwundwerte.“

Aber selbst da hakt es. Wie viele Studenten vorzeitig gehen – egal ob als Abbrecher oder als Wechsler –, könnten die Hochschulen zwar erfassen. Sie tun es aber allenfalls vereinzelt. Eine gesetzliche Verpflichtung fehlt. Weder das statistische Bundesamt noch die Landesämter sammeln Werte für einzelne Unis oder FHs. Zwar übermitteln die Hochschulen für die Berechnung von Studienplätzen Schwundquoten der Studiengänge an das Ministerium. Daraus wiederum lassen sich bislang aber keine hochschulweiten Schwundquoten methodisch sauber berechnen.

Die Unklarheit macht es leicht, sich aus der Verantwortung zu stehlen: Dass viele junge Menschen, die ihr Studium aufnehmen, es nie zu einem Abschluss bringen, ist klar. Aber welchen Anteil die einzelnen Hochschulen daran haben, verschwimmt im Gesamtbild, im Gewimmel aus Wechslern, Abbrechern und Wiedereinsteigern. Das heißt: Jede Uni kann sich hinter der anderen verstecken. Kaum eine Hochschule traue sich, ihre Schwundwerte zu ermitteln, sagt Prof. Dr. Christoph Weiser, Prorektor der Universität Halle. Und an die Öffentlichkeit will damit erst recht kein Rektor. „Das ist eine politisch brisante Frage“, sagt Weiser, „niemand weiß, ob er gut oder schlecht dasteht.“

Experten diskutieren längst eine Idee, mit der man die Statistikprobleme lösen und die Hochschulen stärker in die Pflicht nehmen könnte: eine feste Identifikationsnummer für jeden Studierenden, die  bei jedem Wechsel bleibt. Es bräuchte keine Fragebögen mehr und kein Betteln um Auskunft, wie es die FH in Dortmund probiert: Ein Blick auf die Nummer genügt, um zu sehen, ob jemand, der fehlt, im Seminar einer anderen Uni wieder auftaucht – oder das Studieren ganz hat sein lassen.

Eine Studienverlaufsstatistik lässt die Fachleute schwärmen: „Wenn jeder Studierende dieselbe Matrikelnummer bei einem Hochschulwechsel behalten würde und diese in der Hochschulstatistik erfasst werden dürfte, könnte man die Bildungskarrieren der einzelnen Studierenden besser verfolgen“, sagt Heinz-Werner Hetmeier, der beim Statistischen Bundesamt den Bereich Bildung und Forschung leitet. Man könnte erkennen, wie die Wanderungen zwischen den Fächern aussehen. Man sähe, welche Hochschule ihre Studierenden besonders häufig zum Wechseln veranlasst. Und man wüsste, welche ihnen das Studieren ganz vergrault. Österreich hat bereits eine solche Verlaufsstatistik. Dort werden die Studierenden anhand der Sozialversicherungsnummer identifiziert. Eine Studie zu Studienabbrechern, die die Österreichische Universitätenkonferenz Anfang Juni vorlegte, brachte manch überraschende Einsicht. So wurde der Fall eines Studenten bekannt, der sich zwei Semester lang gleichzeitig in 17 Fächern an vier Universitäten eingeschrieben hatte.

Auch hierzulande kommt nun Bewegung in die Debatte. Experten aus Politik, Verwaltung und Wissenschaft im Ausschuss für Hochschulstatistik, einem beim Statischen Bundesamt angesiedelten Gremium, forderten den Bundestag voriges Jahr auf, die Einführung einer Studienverlaufsstatistik zu prüfen. „Diese Statistik könnte wichtige Informationen zur Effizienz des Studiums und zur Beurteilung der Studienorganisation liefern“, heißt es im Bericht des Expertenkreises.

Die Meinung der Fachleute fand Gehör: Das Bundesbildungsministerium will Änderungen im Hochschulstatistikgesetz vorlegen. Nordrhein-Westfalen plant eine Initiative über den Bundesrat. Ein schnelles Mittel gegen den Studienabbruch ist aber nicht zu erwarten: „Die Änderung des Hochschulstatistikgesetzes würde erst in acht Jahren verwertbare Ergebnisse bringen, da die Studienanfänger über Jahre in ihrem Studienverlauf verfolgt werden müssten“, teilt das Wissenschaftsministerium in NRW mit. Das dauert der Behörde aber zu lange.

Deshalb brüten im Wissenschaftsministerium schon jetzt Statistikexperten und FH-Chefs über einer Methodik, wie sich der Studienerfolg für jede Hochschule ermitteln lässt. Ein Rechenmodell, das das Ministerium beim DZHW in Auftrag gegeben hatte, fiel durch: zu kompliziert. Das Ministerium schwenkte um, spricht nun nicht mehr vom Abbruch, sondern vom Schwund – auch wenn der Begriff ungenauer ist.

Der Vorschlag aus Düsseldorf wird derzeit diskutiert. Wie das Modell konkret aussehen soll, darüber hüllt man sich in Schweigen. Es solle aber „jederzeit für die Hochschule nachrechenbar sein und auf Daten der amtlichen Statistik basieren“, heißt es aus dem Ministerium. Noch dieses Jahr soll die Methodik fertig sein, doch der Durchbruch lässt auf sich warten. „Ich sehe noch kein Licht am Ende des Tunnels“, sagt der Dortmunder Rektor Schwick. 

Derweil versuchen die Hochschulen, dem Phantom Studienabbrecher anderweitig auf die Spur zu kommen. An der Uni Halle zum Beispiel lässt Prorektor Weiser seit zwei Jahren exmatrikulierte Studenten per E-Mail und per Post nach den Gründen des Abbruchs befragen, ähnlich wie es die FH Dortmund versucht. Die FH Kaiserslautern sucht gezielt den Kontakt zu Studienanfängern, die Probleme haben, Klausuren zu bestehen – potenziellen Abbrechern. Rund 500 der 1600 Studienanfänger nehmen das Angebot pro Semester an. Die Rückmeldungen aus den Beratungen sollen den Studienerfolg vor allem in den naturwissenschaftlichen und technischen Fächern erhöhen: „Wir haben daraufhin in Mathematik, Chemie und Physik Vorbereitungskurse in Kombination mit E-Learning ausgebaut“, sagt Präsident Prof. Dr. Konrad Wolf.

Mehr Wissen erhoffen sich die Hochschulen auch vom DZHW. Im Auftrag des Bundesforschungsministeriums lassen die Hochschulforscher ab dem Herbst bundesweit Studierende zu Gründen des Studienabbruchs befragen. Ergebnisse sollen Mitte 2015 vorliegen.

Diese Cookie-Richtlinie wurde erstellt und aktualisiert von der Firma CookieFirst.com.

Login

Der Beitragsinhalt ist nur für Abonnenten zugänglich.
Bitte loggen Sie sich ein:
 

Logout

Möchten Sie sich abmelden?

Abo nicht ausreichend

Ihr Abonnement berechtigt Sie nur zum Aufrufen der folgenden Produkt-Inhalte: