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Wettlauf um die Erkundung der Welt

Spannende Abenteuer, Entdeckungen und Forschungsreisen in Literatur und Film – Empfehlungen von Ulrike Prinz

Mit der Expansion Europas Ende des 15. Jahrhunderts begann die Entdeckung der Welt und auch der Run auf die Eroberung und Besetzung bis dahin unbekannter Länder. Historisch war die Erforschung der weißen Flecken der Landkarte vor allem weißen Männern vorbehalten. Die Literatur erzählt von diesen Herausforderungen. Sie zeichnet auch eine Entwicklung nach, die von den heroischen Taten kühner Männer bis zu stärker fiktionalisierten Erzählungen und eigenen und stärker reflektierten Erfahrungen von forschenden Frauen reicht.

​Johannes Zeilinger: Auf brüchigem Eis. Frederick A. Cook und die Eroberung des Nordpols. Matthes & Seitz, 2009. ISBN: 9783882217469

Der Wettlauf zweier Männer zum Nordpol vor über 100 Jahren ist ein beliebtes Sujet der Literatur. Johannes Zeilinger schildert die packende Abenteuergeschichte der beiden Nordamerikaner – dem deutschstämmigen Frederick Cook und seinem Rivalen Robert Peary – mit hintergründigem Humor und höchster Spannung. Beide Männer behaupteten, den Nordpol entdeckt zu haben. Der Autor schildert das Leben der beiden Männer in Rückblenden, ihren Kampf mit dem Eis, der schneidenden Kälte und Krankheiten – aber auch mit den nicht zu unterschätzenden Schwierigkeiten solcher Entdeckungsreisen: ihrer Finanzierung. Das Sachbuch ist gleichzeitig eine Parabel über den tödlichen wissenschaftlichen Ehrgeiz der Nordpolforscher. 

Christian Jostmann: Das Eis und der Tod. Scott, Amundsen und das Drama am Südpol. C.H. Beck, 2020. ISBN: 978-3-406-76504-9 

Auch um die Eroberung des Südpols gab es ein dramatisches Wettrennen. Der Norweger Roald Amundsen und der Brite Robert Falcon Scott brachen fast gleichzeitig mit ihren Expeditionsteams auf, um zu jenem südlichsten Punkt der Erde vorzustoßen, auf den zumindest kein „weißer“ Mensch jemals zuvor seinen Fuß gesetzt hatte. Amundsen erreicht den Pol vor seinem Rivalen und pflanzt dort sein Zelt auf. Darin einen Brief für Scott, mit der Bitte, ihn dem König von Norwegen zu überreichen. Als Scott einen vollen Monat später am Ziel eintrifft, muss er seine Niederlage anerkennen. Spannend wie ein Roman, aber dicht an den Fakten erzählt der Historiker Christian Jostmann die Geschichte einer weiteren Tragödie im Eis, die für den Engländer und seine vier Begleiter tödlich enden sollte. 

Matthias Glaubrecht: Dichter, Naturkundler, Welterforscher: Adelbert von Chamisso und die Suche nach der Nordostpassage. Galiani Berlin, 2023. ISBN: 978-3-86971-224-6

Als Flüchtling kam Adelbert von Chamisso in den Wirren der Französischen Revolution nach Deutschland. In der Fremdsprache Deutsch begann er zu dichten und als Lyriker ist er uns bisher bekannt. Doch in Berlin war er auch zum Botaniker ausgebildet worden. 1815 nahm er an einer dreijährigen russischen Forschungsexpedition teil, auf der Suche nach der legendären Nordostpassage. Diese wurde nicht gefunden, doch beschrieb der Dichter unbekannte Pflanzenarten und beobachtete Naturgesetze, auf denen Darwin aufbauen sollte. Matthias Glaubrecht hat seine Weltreisetagebücher entziffert und transkribiert und einen bis heute übersehenen Schatz gehoben. In seiner Biografie können wir den ganzen Chamisso entdecken. 

Michael Kraus und Ernst Halbmayer (Hg.): Theodor Koch-Grünberg – Die Roraima-Orinoco-Expedition. Ein Forschungstagebuch (1911–1913). Böhlau, 2023. ISBN: 9783412525545

Zum 150. Geburtstag des Ethnologen Theodor Koch-Grünberg (1872–1924) veröffentlichen Michael Kraus und Ernst Halbmayer das Tagebuch seiner dritten Expedition durch Südamerika. Koch-Grünberg war ein exzellenter Beobachter indigenen Lebens und Vorreiter der teilnehmenden Beobachtung. Auch für seine außergewöhnlichen Fotografien wurde er berühmt. Seine Aufzeichnungen der Mythen der Pemón inspirierten Schriftsteller wie Alfred Döblin, Alejo Carpentier und Mario de Andrade. Dabei zeigt das Tagebuch entspannte Szenen zwischen den Beteiligten, ebenso wie ihre Konflikte und auch die unfassbaren Grausamkeiten, denen die Indigenen während des Kautschukbooms ausgesetzt waren. Umfassende Begleittexte erläutern den Kontext der Forschung und ordnen sie kritisch ein. Das Buch ist etwas für Forschende, Liebhaberinnen und Liebhaber und man holt es sich lieber in der Bibliothek, denn es kostet 100 Euro.

Hadumod Bußmann: „Ich habe mich vor nichts im Leben gefürchtet“. Die ungewöhnliche Geschichte der Therese Prinzessin von Bayern 1850–1925. C.H. Beck, 5. Auflage 2013. ISBN: 978-3-406-61353-1

Im 19. Jahrhundert haftete Reisen von Frauen noch der Ruch des Sensationellen, ja des Unanständigen an. Doch Therese von Bayern (1850–1925), die Tochter des Prinzregenten Luitpold, entspricht kaum dem Bild einer Frau und Prinzessin zu damaliger Zeit. Angetrieben durch ihren Freiheits- und Forscherdrang unternimmt sie abenteuerliche Expeditionen, nach Skandinavien, Russland und vor allem Südamerika. 1888 reist sie fünf Monate lang in Brasilien auf Schiff, Kanu, zu Pferd oder zu Fuß von der Mündung des Amazonas landeinwärts, dann die Ostküste hinunter bis nach Rio de Janeiro. Hadumod Bußmann schrieb die spannende Biografie der Prinzessin, die gegen massive Widerstände Naturforscherin und Weltreisende wurde. Dabei erwarb sie akademische Würden und gewann politische Einsichten, die der untergehenden Monarchie fremd waren. 

Heike Behrend: Menschwerdung eines Affen: Eine Autobiografie der ethnografischen Forschung. Matthes & Seitz Berlin, 2020. ISBN: 978-3-7518-0304-5

Die Autobiografie der Ethnologin Heike Behrend ist selbst eine Entdeckungsgeschichte. Sie erzählt über ihre Forschungsaufenthalte in Kenia und Uganda. Doch sie inszeniert sich nicht als die heroische Forscherin, vielmehr berichtet sie selbstkritisch davon, was in den meisten Ethnografien ausgespart wird: Konflikte und Scheitern – und die Lehren, die sie daraus zieht. En passant reflektiert sie die kolonialen Kontexte und die Fachgeschichte. In der Perspektive der Erforschten wird sie langsam selbst vom „Affen“, von der „Närrin“ und „Kannibalin“ zum Menschen und zeigt so die Veränderungen des Machtgefüges zwischen Forschenden und Erforschten auf, die sie am eigenen Leib erfahren hat.

Nastassja Martin: An das Wilde glauben. Matthes & Seitz Berlin, 2023. ISBN: 978-3-7518-0117-1

Ebenfalls in einer autobiografischen Beschreibung erzählt die 29-jährige französische Ethnologin Nastassja Martin, wie sie auf einer Forschungsreise von einem Bären angegriffen und fast getötet wird. Packend schildert sie ihren Kampf mit dem Bären, ihre Operationen und die Rückkehr zu ihren Gastgebern, den Ewenen auf der russischen Halbinsel Kamtschatka. Das Buch ist nicht nur eine Aufarbeitung der traumatisierenden Ereignisse, sondern eine Auseinandersetzung mit ihrem Forschungsgegenstand: der Naturbeziehung der Ewenen. Sie taucht tief ein in die Kultur dieser nomadischen Rentierzüchter und Jäger. Deren Sichtweise des Bärenunfalls und ihre Erlebnisse bringen sie zu neuen Überlegungen über das Verhältnis von Mensch und Tier. Ihr Forschungsgegenstand ist nun sie selbst und das Verschwimmen der Grenzen zwischen ihr und dem Bären. ​


Das westliche Kino hat seine eigenen Regeln und für die Leinwand werden Forschungsreisen stärker fiktionalisiert, um den Spannungsbögen und Sehgewohnheiten der Betrachter zu entsprechen. Insbesondere indigene Thematiken bedürfen immer noch einer Übersetzung, wenn sie Erfolg haben sollen. 

Ciro Guerra: El abrazo de la serpiente (Die Umarmung der Schlange). Kolumbien, 2015. 125 Minuten

Der Film kassierte mehrere Preise und wurde für den Oscar nominiert. Guerra inspirierte sich an den Aufzeichnungen des Ethnologen Theodor Koch-Grünberg und des Botanikers Richard Evans Schultes. Mit mächtigen Schwarz-Weiß-Bildern, die den Fotografien Koch-Grünbergs nachgebaut sind, transportiert er uns zum Rio Negro in die Zeit von 1903 bis 1941, in der die Forscher unterwegs waren. Guerra erzählt die Geschichte aus der Perspektive des Schamanen Karamakate. Der lebte völlig einsam und zurückgezogen, wie eine Person ohne Gefühle und Erinnerungen – bis er auf den amerikanischen Ethnobotaniker Evan (Richard Evan Schultes) trifft, der nach der psychoaktiven Pflanze Yakruna (Psychotria viridis) sucht. Für den potenziellen Biopiraten Evan wird Karamakate zum strengen Lehrer, der seine verlorenen Erinnerungen wiederfindet. Den Weißen lehrt er, dass ein Fluss weit mehr als zwei Ufer haben kann, weil er der Anakonda entstammt. Seine Lehren sind die Botschaft an das Publikum: „Wenn die Weißen nicht lernen, sind wir verloren.“ https://www.filmaffinity.com/es/film917148.html

Isabel Coixet „Niemand will die Nacht“ (Nadie quiere la noche). Spanien, 2015. 104 Minuten

Eine historische Person inspirierte die spanische Filmemacherin Isabel Coixet zu ihrem Film: Josephine Peary. Sie ist die Ehefrau von Robert Peary, dem die Entdeckung des Nordpols zugeschrieben wurde (siehe oben) – obwohl seine „Entdeckung“ heute in Zweifel gezogen wird. Josephine Peary reist 1908 ihrem Mann nach, der im Eis verschwunden ist. Auf seinen Spuren muss sie feststellen, dass ihr Mann ein Verhältnis mit einer Inuit-Frau hatte. Die beiden Frauen, die „zivilisierte“ und die „naturverbundene“, nähern sich an. Gemeinsam stellen sie Kleider aus Robbenfell her, um die Männer auszurüsten. Doch als das Essen ausgeht und es hart auf hart kommt, lässt Josephine Peary die Inuit-Frau zurück. Der Film eröffnet eine fiktionalisierte Perspektive, die in den Expeditionsberichten der Männer nicht vorkommt. 

Juan Carlos Valdivia: Yvy Maraey: Tierra sin mal (Land Without Evil). Bolivien, 2013. 107 Minuten 

Das Abenteuermovie in den bolivianischen Gran Chaco von Juan Carlos Valdivia ist nicht auf ein großes Publikum ausgelegt, wie „El abrazo de la serpiente“ von Ciro Guerra. Valdivia möchte etwas verfilmen, was nur in der Vorstellungswelt der Leute existiert: Yvy Marae – das „Land ohne Übel“. Dazu begibt sich Andrés (der Autor selbst) mit Yari (Elio Ortíz, im echten Leben Guarani und Ethnologe) auf einen Roadtrip in die Tiefen des bolivianischen Chaco. Sein Film ist eine Reise ins Innere einer anderen Welt, die auf Mündlichkeit basiert. Für Andrés ist Schreiben gleich Denken, während Yari das Fühlen betont und für die Guarani wiederum ist das Universum selbst der zu entziffernde „Text“. Yvy Maraey ist ein Film über die Annäherung von Personen und Kulturen, in dem auch die gegenseitigen Klischees aufs Korn genommen werden. Der große Reiz dieses Kinos liegt in der Darstellung anderer Realitäten und in der Anerkennung kultureller Differenz. https://www.youtube.com/watch?v=gaB791daZjQ (hier ist der gesamte Film online zu sehen).

Arami Ullón: „Apenas el sol“ (Nichts als die Sonne). Paraguay/Argentinien/Schweiz, 2021. 75 Minuten

Im Dokumentarfilm „Apenas el sol“, der neben zahlreichen Auszeichnungen 2022 den Schweizer Filmpreis für den besten Dokumentarfilm erhielt, ist der indigene Ayoreo selbst der Forscher: Mateo Sobode Chiqueno durchstreift mit seinem kleinen Kassettenrekorder die karge Landschaft des paraguayischen Chaco. Er ist der Chronist seines Volkes und sammelt seit 1979 die Zeugnisse seiner Landsleute. Er möchte wissen, wie alt die Menschen bei ihrem ersten Kontakt mit Weißen waren, fragt sie nach ihrem Glauben und den alten Praktiken. Er sammelt Zeugnisse aus einem anderen Leben und von seinem traumatischen Ende. Am Ende möchte Mateo ein letztes Mal in seine Heimat zurückkehren. Die Zuschauerinnen und Zuschauer würden am liebsten mit ihm kommen. Mit ruhigen Einstellungen und poetischen Bildern zeigt Ullón die ganze Grausamkeit des Kolonialismus. //

Dr. Ulrike Prinz 

ist Ethnologin und Wissenschaftsjournalistin. Sie lehrte Kunstethnologie und Ethnohistorie an der Universität München, war Referentin am Goethe-Institut München und São Paulo und als Chefredakteurin der Zeitschrift „Humboldt“ für den Kulturaustausch mit Lateinamerika tätig. Heute arbeitet sie unter anderem für das Journalistennetzwerk RiffReporter.

Foto: Margaretha Pawlischek

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