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Sehenden Auges

Der Verwaltungswissenschaftler Wolfgang Seibel sucht nach Ursachen und Mustern bei folgenschweren Behördenfehlern.

Die Massenpanik bei der Love Parade in Duisburg, bei der 21 junge Leute an einer zu engen Rampe erdrückt und mehr als 650 Menschen verletzt wurden, ist für Seibel eines der schlimmsten Verwaltungsdesaster“ in Deutschland: „Dort wurden sehenden Auges Leib und Leben von Menschen aufs Spiel gesetzt“, sagt der Forscher, der den Fall mit Studierenden untersucht und ein Buch über „Verwaltungsdesaster“ geschrieben hat. Hauptgrund für das Unglück war nach seiner Überzeugung politischer Druck. Das Techno-Event sollte unbedingt in Duisburg stattfinden.

Das Konzept des privaten Love-Parade-Veranstalters hätte nie genehmigt werden dürfen, sagt Seibel. Das hatten die Mitarbeiter der Bauverwaltung auch klar erkannt, die ausdrücklich darauf hinwiesen, dass die Fluchtwege auf dem Gelände nicht ausreichend waren. Doch die beiden Dezernenten für Recht, Ordnung und Stadtverwaltung ignorierten die Bedenken der eigenen Mitarbeiter und übten so großen Druck aus, dass die Großveranstaltung doch abgesegnet wurde. Sie sorgten sogar dafür, dass ihre Mitarbeiter die letzten Sicherheitsauflagen vor Ort nicht überprüften.

Doch Seibel rechnet nicht damit, dass die Verantwortlichen ernsthaft zur Rechenschaft gezogen werden. Seit Dezember läuft der Prozess, der damit erst mehr als sieben Jahre nach dem Unglück eröffnet wurde. Strafrechtlich sei das „Totalversagen“ schwer zu verfolgen. Dass es aber noch nicht einmal einen parlamentarischen Untersuchungsausschuss des Landtags gab, nennt er einen „Skandal“ und eine Missachtung der trauernden Eltern, die ihre Kinder auf der Love Parade verloren haben. Weder die alte rot­grüne noch die neue schwarz­gelbe Regierung in Nordrhein-Westfalen habe ein Interesse an einer Aufarbeitung gehabt. Dabei habe es sicherlich eine Rolle gespielt, dass die beiden maßgeblichen Dezernenten in Duis­burg der SPD und der CDU angehörten, so Seibel. Um aus Fehlern zu lernen, sei jedoch die gründliche Aufarbeitung entscheidend.

Neben politischer Einflussnahme gehören nach Seibels Recherchen Geldmangel und unklare Zuständigkeiten zu den Risikofaktoren. Daher sieht er auch öffentlich-private Partnerschaften und das „Outsourcing“ öffentlicher Aufgaben kritisch. Besonders gefährdet sind zudem schwache und verwundbare Gruppen. Dazu gehören etwa türkisch­stämmige Bürger, die NSU-Morde wurden zumindest im Nachhinein gründlich untersucht. Der entscheidende Fehler, so Seibel: Die zentrale Ermittlungsführung durch das Bundeskriminalamt unterblieb, weil man nicht wahrhaben wollte, dass es sich um rechtsextremistischen Terrorismus handelte.

Gravierende Koordinationsprobleme

Zu den verwundbaren Gruppen gehören auch Kinder, die etwa durch die Fehler von Jugend­ämtern Opfer von Gewalt werden. Intensiver untersucht hat Seibel den Fall der dreijährigen Yagmur aus Hamburg, die von ihrer Mutter gequält und ermordet wurde. In diesem Fall war die Behörde eigentlich unterrichtet. Es gab aber viele Koordinationsprobleme. Und bei der ent­scheidenden Fallkonferenz thematisierte der Jugendamtsleiter den Fall Yagmur nicht, obwohl die Behörde schon nach Aktenlage eine massive Gefährdung des Kindes hätte erkennen müssen. So gab es bereits staatsanwaltliche Ermittlungen wegen Kindesmisshandlung, die nur aus Mangel an Beweisen eingestellt worden waren.

Inzwischen kann der 64­jährige Konstanzer Wissenschaftler solchen Fällen noch systematischer nachgehen. Für seine Forschung zu schwerwiegendem Verwaltungsversagen wurde ihm im Sommer 2017 ein Reinhart-Koselleck-Projekt der Deutschen Forschungsgemeinschaft zugesprochen. Das fünfjährige Projekt trägt den Titel „Schwarze Schwäne in der Verwaltung“ und ist mit 610.000 Euro dotiert. Der Titel erinnert daran, dass tödliche Fehler von Verwaltungen ebenso wie schwarze Schwäne – eine Metapher des Philosophen Karl Popper – extrem selten sind.

Trotzdem müsse man diesen Fällen auf den Grund gehen. Dabei sucht er nach Mus­tern und Regelmäßigkeiten anhand von 20 Fällen in Europa und den USA. Um Verwaltungsdesaster zu vermeiden, müsste das Thema Teil der Ausbildung werden, sagt Seibel. An der Universität Konstanz, wo er seit 1990 als Professor für Verwaltungswissenschaft lehrt, werden tödliche Fehler von Verwaltungen schon lange thematisiert. Von der Politik wurden die Forschungen bislang allerdings eher selten aufgegriffen.

Der im mittelhessischen Braunfels und in Düsseldorf aufgewachsene Seibel selbst hat ursprünglich Politik und Literaturwissenschaft in Marburg studiert, damals eine Hochburg der DKP. Seibel war beim Marxistischen Studentenbund Spartakus engagiert. Doch sein Weltbild hat sich seitdem nach eigenen Angaben „ziemlich verändert“. Inzwischen ist er seit 30 Jahren bei der SPD – auch, weil sein Aufstieg ohne die sozialdemokratische Bildungspolitik nicht denkbar gewesen wäre. Seine Eltern – der Vater war ursprünglich Kellner – haben beide kein Abitur.

Dass er sich dann intensiver mit öffentlicher Verwaltung beschäftigte und ein Aufbaustudium an der Verwaltungshochschule in Speyer draufsetzte, nennt er heute die „Idee seines Lebens“. An der Gesamthochschule Kassel untersuchte er das Versagen von Organisationen. Und seitdem zeigt er immer wieder, dass Verwaltungen durchaus faszinierende Gebilde sind, wenngleich er Bürokratie genauso unangenehm findet wie die meisten anderen Menschen.

Seibel forschte über die Deportationen von Juden aus Ländern wie Belgien, Frankreich und den Niederlanden. „Das waren in weiten Teilen Verwaltungsverbrechen“, sagt er. Mit der Verwaltungsstruktur erklärt er auch die großen Unterschiede bei der Zahl der Opfer – in Frankreich wurden während der NS-Zeit 25 Prozent der Juden deportiert, in den Niederlanden waren es 76 Prozent. Die niederländische Verwaltung wurde nämlich weitgehend ausgeschaltet, sodass es eine direkte Befehlskette von den deutschen Besatzern gab. Dagegen konnten die Franzosen trotz der Kollaboration mit den Deutschen die verbliebenen Spielräume nutzen.

Seit 2016 ist Seibel zudem wissenschaftlicher Leiter eines Ausbildungsprogramms für 220 junge Syrer. Sie werden darauf vorbereitet, ihr zerstörtes Land eines Tages wieder aufzubauen – mit einer rechtsstaatlich organisierten Verwaltung.

Meine Forschung: Wolfgang Seibel

Die Herausforderung

Dass öffentliche Verwaltung in entwickelten rechtsstaatlichen Demokratien das Leben und die körperliche Unversehrtheit von Menschen nicht schützt, sondern gefährdet oder sogar schädigt, ist extrem selten. Aber wenn es passiert, ist dies umso mehr Anlass, den Ursachen auf den Grund zu gehen.

Mein Beitrag

Bislang existiert kein generalisierbares Wissen über die Ursachen dieses seltenen, im Einzelfall aber umso schwerwiegenderen Behördenversagens. Darauf richtet sich meine Forschung.

Drohende Gefahren

Schwerwiegendes Behördenversagen muss schon aus ethischen Gründen unterbunden werden. Dafür wird Präventionswissen benötigt. Wenn es fehlt, werden immer wieder Menschen durch vermeidbare Fehler der Verwaltung zu Schaden kommen.

Offene Fragen

Wir wissen nicht, in welchem Umfang und unter welchen Umständen Systemfehler oder individuelle Fehler für gravierendes Behördenversagen mit Schaden für Leib und Leben von Menschen ursächlich sind.

Mein nächstes Projekt

Ich plane zum Abschluss meiner Forschungen über Verwaltungsversagen ein Buch über Ambivalenz und Grenzen von Pragmatismus und Regelbindung in der öffentlichen Verwaltung.

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