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Welten konstruieren

Die Wissenschaft schreitet selten geradlinig voran. Ein Plädoyer für mehr Ambivalenz-Toleranz von Peter-André Alt.

Bertolt Brechts Galileo Galilei hat einen Traum, den Traum von der Wirksamkeit wissenschaftlichen Beharrungsvermögens. Ihn speist die Hoffnung, dass autoritäre Dogmen nichts ausrichten können gegen die Überzeugungskraft triftiger Beweise und Indizien. Diese Überzeugungskraft, so weiß Galilei, muss durch unbestechliche Beobachtungskunst, intellektuelle Ausdauer und geistigen Mut immer wieder neu erarbeitet werden. Das ist beschwerlich, denn es fordert weite Wege und einen langen Atem. Die große Fahrt der kopernikanischen Erkenntnis wird am Ende aufgeschoben, weil Galilei, von der Inquisition gezwungen, seine Einsichten widerrufen muss.

Aber nicht nur der Widerstand der alten Autoritäten verzögert den Aufbruch zu neuen Ufern. Zur wissenschaftlichen Erkenntnis gehört generell, dass sie nicht geradlinig verläuft, sondern unter Rückwärts- und Seitenbewegungen. Für Galilei steht das verknöcherte System des Geozentrismus mit seinen scholastischen Setzungen und theoretischen Vereinfachungen gegen die Kraft des klaren Sehens, der Vernunft und Vorurteilslosigkeit. Brecht hat diese Spannung in der ersten Fassung seines Stücks, die er 1938/39 im dänischen Exil niederschrieb, recht schematisch dargestellt. Nur sechs Jahre später, unter dem Eindruck des Atombombenabwurfs über Hiroshima und Nagasaki, konnte er seine einfachen Antinomien nicht mehr aufrechterhalten. Hier die alte Welt der Vorurteile, dort das Fortschrittsdenken der modernen Empirie – das war nun zu simpel. Dass auch eine progressive Wissenschaft sich, wenn sie zur Praxis führt, in ethische Konflikte verstricken kann, bewies die Geschichte der modernen Atomphysik mit schrecklicher Konsequenz. Die reine Vernunft der Forschung wird verschlungen von der Dialektik der Aufklärung. Sie und nicht der Marxismus ist das wahre Gespenst, das im 20. Jahrhundert in Europa umgeht. Nach ihr gibt es keine einfache Trennung zwischen wahr und falsch, zwischen hell und dunkel. Auch die Rationalität des Fortschritts kann zur Magd inhumaner Anwendungen und Zurüstungen, zum Objekt der Manipulation werden.

Die Zahl unumstößlicher Tatsachen ist endlich ...

Das Beispiel zeigt, dass man, wo es um Wissenschaft geht, vorsichtig sein muss mit schematischen Gegensätzen. Heute reden wir wieder von der Spannung zwischen Vernunft und Gegenvernunft, zwischen Fakten und Lügen. Als vor einem halben Jahr überall in Deutschland der großartige „March for Science“ stattfand, hielten viele Menschen Schilder hoch, auf denen stand „Nur die Tatsachen zählen“. Ganz so einfach ist es leider nicht, ganz so leicht macht es uns zumindest die Wissenschaft nicht. Natürlich existieren unumstößliche Fakten, die durch die Forschung gesichert sind. Dass Impfungen Krankheitsrisiken reduzieren, gehört ebenso zu solchen Fakten wie die Notwendigkeit des Klimaschutzes, die sich aus der allgemeinen Klimaentwicklung mit gesteigerten Emissionswerten und zunehmender Erderwärmung ergibt. Es steht außer Frage, dass die Wissenschaft Tatsachen hervorbringt, von denen man etliche als dauerhaft und beständig bezeichnen kann.

Aber wissenschaftliche Erkenntnis schafft auch Zwischenebenen, einen gleitenden Wandel klarer Bezugsgrößen, der aus dem Wechsel von Perspektiven, Haltungen und Methoden resultiert. Jede Physikerin, jeder Mathematiker, jeder Historiker und jede Biochemikerin wird das bestätigen; die Zahl der unumstößlichen Tatsachen, auf die eine Disziplin sich verlassen kann, weil sie seit Jahrhunderten immer wieder neu bestätigt wurden, ist endlich. Vieles von dem, was lange Zeit als unverbrüchlich objektives Faktum gilt, wird irgendwann zum Irrtum erklärt und in die Rumpelkammer der Forschungsgeschichte verbannt. Ohne diese Dynamik wäre die Wissenschaft statisch, im schlimmsten Fall starrsinnig wie die Inquisitionsrichter Galileis.

Zu den ärgerlichen Konsequenzen der Wissenschaftsfeindschaft, die seit einigen Jahren in Kreisen religiöser Fanatiker und populistischer Vereinfacher um sich greift, gehört, dass die Ambivalenz von Forschungsresultaten zunehmend verloren zu gehen droht. Verständlich ist, dass sich die Wissenschaft selbst mit dem Hinweis auf Fakten verteidigt, wenn sie sich dem Vorwurf der Manipulation ausgesetzt sieht. Aber die simple Opposition zwischen Tatsache und Lüge, Wahrheit und Wahrheitsfeinden verkürzt die Sachlage. Natürlich gibt es Fakten, die unhintergehbar sind. Ihren Leugnern müssen wir uns im Namen des Objektivismus entgegenstellen, wo sie auch auftreten mögen.

Aber Wissenschaft ist mehr als Faktenerzeugung durch Beobachtung, Experiment, Hypothese, Regeldefinition. Schon Lessing formulierte 1777: „Nicht die Wahrheit, in deren Besitz irgendein Mensch ist oder zu sein vermeinet, sondern die aufrichtige Mühe, die er angewandt hat, hinter die Wahrheit zu kommen, macht den Wert des Menschen aus.“

Lessings Diktum verlagert den Schwerpunkt von der vermeintlichen Objektivität der Wahrheit zur subjektiven Suche nach ihr. Aus guten Gründen lässt sich bezweifeln, ob man überhaupt einen verbindlichen, kohärenten Wahrheitsbegriff zur Grundlage wissenschaftlichen Erkenntnisstrebens machen kann. Dessen Ziel ist weniger die Gewinnung absoluter Gewissheiten als die Erschließung von Formen und Strukturen, in denen neue Sichtweisen freigesetzt werden. Szientifische oder hermeneutische Erkenntnis gelingt nur dort, wo das Bestehende in Experimenten und Deutungsmustern, in Proberechnungen und Hypothesen simuliert, hinterfragt und als anders vorstellbar gefasst wird.

... aber Wissenschaft ist mehr als Faktenerzeugung

Wissenschaft konstruiert Welten über Modelle und Interpretationen. Sie bietet Alternativen, Versionen, vom Status quo Abweichendes an. Sie nimmt dabei Ambivalenzen, Widersprüche, ja Brüche in Kauf. Sie fordert die Bereitschaft, Perspektiven zu verändern oder sogar komplett zu wechseln. Sie konsumiert keine Freiheit, sondern benötigt sie als ihre Bedingung. Und sie gibt sie jedem, der sie ihr gewährt, neu zurück: als Freiheit der Deutung und Meinungsbildung, des Urteilens und Folgerns. Die Wissenschaft kann unsere angestammten Welten zertrümmern, aber sie baut dafür neue auf, andere, aufregende, unbekannte, manchmal auch noch komplexere, anstrengendere. Sie ebnet keine einfachen Wege, sie ist selten geradlinig. Wer sich auf sie einlässt, gewinnt im Gegenzug zur Freiheit, die jede Gesellschaft der Wissenschaft einräumen muss, neue Blickwinkel und Erfahrungsräume hinzu.

Wenn Freiheit durch Wissenschaft genutzt und gegeben wird, dann ist alles gut und die Welt im Lot. Woher aber kommt der Vertrauensverlust, den die Wissenschaft in den letzten Jahren erlitten hat? Man könnte es sich leicht machen und sagen: Er wird durch jene nicht ganz kleinen Teile der Gesellschaft befördert, die, unduldsam und narzisstisch, denkfaul und selbstgefällig, nur hören wollen, was ihnen in den Kram passt. Diese einfache Deutung ist nicht falsch, aber sie reicht kaum aus, das Problem zur Gänze zu erklären. Denn der genannte Vertrauensverlust ist fraglos auch selbstverschuldet. Wachsende Zweifel an intellektueller Redlichkeit durch schwere Fälle von Fehlverhalten haben der Wissenschaft zugesetzt. Bringt sie die gebotene Selbstkontrolle auf, die nötig ist, um ihre Standards kontinuierlich zu überprüfen? Das fragen sich immer mehr Menschen. Nun sind die Mechanismen der Qualitätssicherung in den letzten Jahren erheblich verbessert worden. Und dennoch wird es uns nicht gelingen, die Vertrauenskrise zu beheben, wenn wir nicht an deren Wurzeln gehen.

Diese Krise nämlich ist ein Resultat der Überforderung der Wissenschaftund das Ergebnis einer selbsterzeugten Produktionsdynamik, die gefährliche Konsequenzen zeitigt. Die wissenschaftliche Publikationstätigkeit hat sich in den letzten 250 Jahren, parallel zur Expansion des literarischen Marktes, permanent erweitert. Zwischen 1760 und 1960 verdoppelte sich die Zahl der Zeitschriftenveröffentlichungen alle 15 Jahre; seit einiger Zeit wächst sie jährlich um acht Prozent. 1995 wurden weltweit 11 000 Wissenschaftsjournale geschätzt, 2012 waren es schon 28 000. 2015 belief sich die Zahl der Forschungspublikationen auf zwei Millionen Bücher und Artikel. Früher las man immer wieder dieselben Texte; heute liest man viele Texte oberflächlich, flüchtig, ohne Wirkung auf das eigene Denken.

Unsere Art der Leistungsmessung fördert Tagesurteile und Hektik

Publish or Perish – diese Alternative gilt schon, bevor die wissenschaftliche Laufbahn überhaupt dauerhaft eingeschlagen wird. Dass dabei die Qualität ebenso wie die Originalität leiden muss, liegt auf der Hand. Texte werden mehrfach verwertet, Bausteine aus älteren Veröffentlichungen benutzt, Urheberrechtsfragen missachtet. Eigentlich müssten die erfahrenen Hochschullehrerinnen und Hochschullehrer bei der Betreuung des wissenschaftlichen Nachwuchses an das Arbeitsprinzip der Ruhe erinnern und ihre Mentees vor hektischer Betriebsamkeit warnen. Sie schaffen das aber nicht, weil sie selbst im System der unaufhörlichen Leistungsschau feststecken.

Zu ihm gehört der Impact Terror, der Wahn, dass man jedes Paper auf seine Wirkung messen und anhand entsprechender Zitationsnachweise bewerten könne. Dazu zählen die Evaluationen und Rankings, durch die sich rein wirtschaftlich denkende Agenturen und Firmen, aber leider auch zahlreiche Großverlage mit Daten vollfressen, um sie später an die Universitäten, von denen sie stammen, zu verkaufen. Unser System der quantitativen Leistungsmessung ist ein Hybridsystem, das gerade nicht zur Qualitätssicherung beiträgt, sondern zu Tagesurteilen, Nervosität und Managementhektik.

Was für das forschende Individuum gilt, gilt auch für die Wissenschaft als System. Ihre Innovationskraft sollte nicht auf Umtriebigkeit, Dauerreisen und Hektik, sondern auf Ruhe, Gelegenheiten zum Ausprobieren und Mut zur Geduld beruhen. Wissenschaft benötigt Zeit, damit sie seriös sein kann. Zuzugestehen sind ihr Nischen für Verqueres, Schonzonen für Riskantes, aber auch Räume für Irrtümer. Die Voraussetzungen dafür schafft nur eine freiheitlich-demokratische Werteordnung. Daher bleibt das Gebot der Autonomie ohne Alternative. Denn die Selbststeuerung der Wissenschaft – bei Themen, Methoden und Qualitätsprüfung - bildet die Bedingung ihrer Leistungskraft. Nur in Freiheit kann sie ihre besten Möglichkeiten entfalten. Das verlangt eine freie Gesellschaft, zu der eine Politik gehört, die der Wissenschaft Entwicklungsräume in Unabhängigkeit zugesteht. Das verlangt aber auch Bürgerinnen und Bürger, die die Ambivalenzen und Denkoffenheiten, die Zumutungen und Vielfältigkeiten der Wissenschaft aushalten. Die nicht gleich nach dem Staat oder der Zensur schreien, wenn Forschung zu Ergebnissen führt, die ihnen nicht passen oder zu kompliziert und widerspruchsreich sind.

Die Selbstverpflichtung liegt also auf zwei Seiten: bei der Wissenschaft, die ihre Standards aus eigener Initiative kontrollieren muss, ohne das anderen zu überlassen, bei den Bürgerinnen und Bürgern, die sich einer freien Wissenschaft würdig zeigen sollten, indem sie wahrhaft mündig sind. In beiden Punkten haben wir gerade heute offenbar erheblichen Nachholbedarf. Will man die Legitimationskrise der Wissenschaft, die teils selbstverschuldet, teils durch Intoleranz hervorgetrieben wurde, nicht zu negativ sehen, so könnte man sagen: Es gehört zu einer freien Wissenschaftsgesellschaft, dass sie permanent vervollkommnungsfähig bleibt und in bestimmten Abständen Reparaturen vornimmt. Das bildet das bessere Erbe der Aufklärung, die offen und frei ist, wo sie sich ständig selbst korrigiert und auf diese Weise ihre eigene Dialektik, den Umschlag in Ideologie, vermeidet.

Ihre vervollkommnungsverliebte, ihre dynamische und flexible Spielart, die auf Leibniz und sein Ideal der Perfektibilisierung zurückgeht, hätte vermutlich auch Brechts Galileo Galilei gefallen. Er wollte sich mit seinem neuen Weltbild auf große Fahrt machen, musste aber am Ende seinen Lehren vor der Inquisition abschwören. Passen wir auf, dass wir die neue geistige Inquisition – die Hassprediger und Populisten, die rechten Fanatiker und die Ideologen – nicht stark machen, indem wir uns ihre Vereinfachungen aufzwingen lassen. Bieten wir ihnen im Wortsinn die Stirn und zeigen wir ihnen, was im Kopf des Menschen steckt: eine Welt von tausend Möglichkeiten, geschaffen durch Intellekt und Imagination, Vernunft und Phantasie. Erweisen wir uns aber auch andererseits einer freien Wissenschaft würdig, indem wir uns zu ihren Regeln bekennen, einfachen Wahrheiten misstrauen und unbedachte Betriebsamkeit ebenso wie eitle Geltungssucht vermeiden. Wenn wir Wissenschaft in dieser Weise verantwortlich betreiben, erfüllen wir eine Kernidee unserer demokratischen Gesellschaft.



Der Text ist ein Auszug aus Peter-André Alts Rede aus Anlass der Verleihung des Universitas-Preises der Hanns-Martin-Schleyer-Stiftung am 30. November 2017 im Allianz Forum Berlin.

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