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Kleine Zellen, großer Streit

Wie gewonnen, so zerronnen – so könnte man die Geschichte des Centrums für Angewandte Regenerative Entwicklungstechnologien Care betiteln. Was als Prestigeprojekt zur Stammzelltechnologie vor acht Jahren in Münster begann, wird nun wahrscheinlich in München realisiert. Eine Aufarbeitung.

Wir schreiben das Jahr 2007. Die schwarz­gelbe Landesregierung in Nordrhein-Westfalen (NRW) ist auf der Suche nach Projekten mit Zukunftspotenzial und spricht darauf Professor Dr. Hans Schöler an. Der international renommierte Stammzellforscher ist seit 2003 als Direktor am Max-Planck-Institut (MPI) für molekulare Biomedizin in Münster im Land. Seit Jahren schon erforscht er äußerst erfolgreich die Reprogrammierung von Stammzellen, unter anderem in den USA. Auf das Ansinnen der Regierung reagiert er mit dem Vorschlag, in Münster ein translationales Centrum für Angewandte Regenerative Entwicklungstechnologien (Care) aufzubauen, das eine Brücke schlagen soll zwischen Wissenschaft und industrieller Anwendung.

Mit diesem „Baby“ begibt sich Schöler auf eine Reise, die 2010 beginnt und zu einer Odyssee werden sollte, die bis heute andauert. Doch der Reihe nach: Im Landtagswahlkampf von 2010 versprechen der damalige Ministerpräsident von NRW, Jürgen Rüttgers (CDU), und die damalige Bundesministerin Annette Schavan (CDU) 80 Millionen Euro für das Projekt Care. 60 Millionen sollen vom Land NRW kommen. Diese Summe wird nie im Haushalt abgesichert, doch das wissen Schöler und seine Kollegen damals noch nicht.

Superzellen aus der Haut

Am MPI hat Schöler mit seiner Forschungsgruppe gezeigt, dass sich auch „normale“ Körperzellen in „Alleskönner“ wie die embryonalen Stammzellen verwandeln lassen. Die sogenannten induzierten pluripotenten Stammzellen (iPS) sollen bei Care in einem Hochdurchsatzscreening in hundertausendfach parallelisierten Experimenten mit möglichen Wirkstoffen in Verbindung gebracht werden – sowohl chemischen als auch biologischen oder Naturstoffen. Diese Wirkstoffflut wird dann eingeengt auf die Kandidaten, die eine pharmazeutische Wirkung zeigen. „Nur die wirklich aussichtsreichen Stoffe würden überhaupt noch klinisch getestet“, erläutert Dr. Ulrich Gerth, designierter geschäftsführender Direktor des Care, Ende 2015 im Gespräch mit dem duz MAGAZIN.

„Wir behaupten nicht, ein neues Medikament künftig in fünf Jahren herzustellen, aber wir können den Prozess vor den klinischen Tests auf jeden Fall deutlich verkürzen“, so Gerth. Zudem würde das oft aufwendige und teure Prozedere deutlich günstiger und sicherer, Tierversuche könnten reduziert werden. Toxikologische Nebenwirkungen etwa auf das Herz oder die Nieren ließen sich lange vor ersten klinischen Tests ausschließen. Die Forscher würden entsprechend Herzmuskel­ oder Leberzellen herstellen und den Wirkstoff an ihnen prüfen. Träte eine unerwünschte Wirkung auf, könnte die Substanz entweder modifiziert oder komplett aussortiert werden.

„Das Institut Care ist förderfähig“

Normaler parlamentarischer Vorgang

Das Potenzial dieser Forschung erkennt auch die rot­grüne Landesregierung in NRW, die 2012 ins Amt kommt. Sie verankert Care im Koalitionsvertrag. Darin heißt es: „Das Institut Care ist förderfähig und soll auf den Weg gebracht werden.“ Im NRW­Landeshaushalt für 2013 sind nun 15,75 Millionen Euro eingeplant, als Anschubförderung bis 2016. Schöler und Gerth sollen beim nordrhein­westfälischen Wissenschaftsministerium einen Antrag auf Förderung stellen.

Ein normaler parlamentarischer Vorgang, doch für Schöler ist er nicht recht nachvollziehbar: „Was ich aber nicht verstehe, ist, dass wir trotz der Verankerung im Koalitionspapier anhand eines Antrags Care als Geschäftsmodell darlegen sollten. Eine letzte Sicherheit, wie die wirtschaftliche Entwicklung in zehn Jahren verlaufen wird, ist doch bei wissenschaftlichen Innovationen gar nicht seriös vorhersagbar“, sagt der Professor später in einem Interview mit den Westfälischen Nachrichten (WN).

Wegen „erheblicher Mängel“ abgelehnt

Das für den Antrag geforderte Zahlenwerk erstellt dann die in Münster ansässige Technologieförderung in enger Abstimmung mit dem nordrhein­westfälischen Wissenschaftsministerium. Die Wirtschaftsprüfungsgesellschaft Deloitte & Touche untersucht als Gutachter die Unterlagen. Es folgen mehrere Überarbeitungen, bis im Oktober 2013 das Aus kommt: Wegen „erheblicher Mängel“ sei der Antrag abzulehnen, so die Gutachter. Sie kommen zu dem Schluss, dass das Projekt nicht förderfähig ist. Das ist das Ende für Care in Nordrhein­Westfalen.

Ministerin in Erklärungsnot

Die zuständige Ministerin für Innovation, Wissenschaft und Forschung in NRW, Svenja Schulze (SPD), versucht anschließend die Ablehnung zu erklären: „Das Geschäftsmodell hätte dazu geführt, dass Care ohne weitere Förderung insolvent geht“, sagt sie. „Der Antrag erfüllte daher nicht die rechtlichen und wirtschaftlichen Voraussetzungen für eine Finanzierung aus Landesmitteln. Ich hätte das Projekt gern in und für Münster realisiert, aber ich kann nicht geltendes Recht außer Kraft setzen“, bedauert Schulze, die ihren Wahlkreis in Münster hat. Dass eine Wirtschaftsprüfungsgesellschaft einen Antrag auf Förderung wissenschaftlicher Forschung prüfe, sei in diesem Fall bewusst so geschehen.

„Mit der Idee, die Stammzellforschung an die Entwicklung von Medikamenten heranzurücken, war Care nahe an einer wirtschaftlichen Tätigkeit“, legt Schulze dar. „Und da gibt es ganz klare Regeln, was der Staat finanzieren darf und was nicht. Der verantwortungsvolle Umgang mit Steuergeldern steht für mich an erster Stelle.“ Bei den Wissenschaftlern ernten Schulzes Argumente heute nur noch Unverständnis und Frustration. Der designierte Care­Direktor Gerth mag sich zu all diesen Vorgängen nicht mehr wirklich äußern; es scheint, als sei er der Diskussion müde. Er sagt nur: „Nach vier Jahren fragten wir uns schon, ob seitens der Politik tatsächlich je ernsthaftes Interesse bestand.“

München ins Spiel gebracht

Geschlagen geben sich Gerth und Schöler allerdings nicht. Noch während des Tauziehens in NRW hat Schöler Bayern als alternativen Standort für Care ins Spiel gebracht. Direkt nach der Ablehnung des Antrags im Oktober 2013 sagt er im WN­Interview: „Ich treibe dieses Projekt nicht mehr voran, wenn ein Geschäftsmodell die Voraussetzung für die Förderung wäre.“ Die Entscheidung, aus den USA nach Münster zurückgekehrt zu sein, bereue er nicht, er bedaure „höchstens gelegentlich, dass Münster nicht in Bayern oder Sachsen liegt“.

Die Aussichten für Care in München sind nicht schlecht: Seit Anfang Dezember ist es fest im Nachtragshaushalt für 2016 verankert. Das Projekt ist dem Wirtschaftsministerium von Ilse Aigner (CSU) zugeordnet. Von 2017 bis 2019 soll Care jährlich mit fünf Millionen Euro finanziert werden. Basis für diese Entscheidung ist das weitestgehend unmodifizierte Konzept von Schöler und Gerth, das 2012 bereits zur Aufnahme des Projekts in den NRW­Landeshaushalt führte. Nach Auskunft der Pressestelle des Ministeriums kann jetzt auch in München ein konkreter Antrag auf Förderung gestellt werden. Falle dessen Prüfung positiv aus, könne der Bewilligungsbescheid im Laufe des Jahres 2016 erlassen werden. Das Gutachten, mit dem das Scheitern des Projekts in NRW begründet wurde, liege dem Ministerium vor; man sei sich jedoch darüber im Klaren, dass Innovationsprojekte stets mit Unsicherheiten behaftet seien, so eine Ministeriumssprecherin. „Den möglichen Risiken stehen aber auch erhebliche Chancen gegenüber, die wir uns von dem Projekt versprechen“, sagt sie. Oder, wie Gerth es ausdrückt: „Frau Aigner hat das schon richtig erkannt, es gelten zwar die gleichen Gesetze, es bedarf jedoch des politischen Willens.“
Dass der Antrag in München scheitern könnte, hält man im Ministerium für ziemlich ausgeschlossen. „Wir gehen davon aus, dass wir auf die richtigen Projekte setzen“, sagt die Ministeriumssprecherin. Derweil werden in der bayerischen Opposition Stimmen laut, die den verantwortungsvollen Umgang mit Steuergeldern anmahnen.

Stiftung geplant

Neben staatlichen Mitteln sollen Spendengelder für die Care­Grundfinanzierung sorgen. Eine Stiftung ist in Planung, deren Tochter das Institut, die Care GmbH, sein wird. „Die Kommerzialisierung der Forschungsergebnisse läuft wiederum über eine eigene Verwertungsgesellschaft“, erklärt Gerth. Einige Pharmaunternehmen, aber auch Zulieferer haben laut Gerth mit „letters of intent“ ernsthaftes Interesse bekundet. Verschiedene Forschungsprogramme, die bereits für Münster in Planung waren, sollen nun wieder reaktiviert werden.

Schöler soll attraktive Projekte an Land ziehen

„2016 wird es darum gehen, Forscher konkret für Care anzuwerben“, erklärt Gerth. So könnten beispielsweise mit Hilfe der iPS­Technik neurodegenerative Krankheiten wie Parkinson, Multiple Sklerose oder Alzheimer im Labor nachgebildet und ihre Ursachen erforscht werden, um so entsprechende Wirkstoffe zu finden. Hier wird Care nach Angaben von Gerth auf den Erfahrungsschatz des Max­Planck­Instituts in Münster zurückgreifen. Professor Schöler soll sich in hervorgehobener Stellung weiter für das Care engagieren und attraktive Projekte an Land ziehen. „Das Care wird aber keine exklusive Max­Planck­Veranstaltung, es ist offen für alle Forscher“, stellt Gerth klar. Seiner neuen Aufgabe sieht der Biochemiker mit Freude entgegen. Sollte in München alles gut laufen, hätte die Odyssee ja vielleicht tatsächlich ein Ende.

Der Wissenschaftler: Hans Schöler

Der Wissenschaftler

Hans Schöler, Jahrgang 1953, ist seit 2003 Direktor des Max-Planck-Instituts (MPI) für molekulare Biomedizin in Münster. Er wurde in Heidelberg promoviert und habilitiert, leitete dort eine Forschungsgruppe und ging später als Professor für Reproduktionsphysiologie an die Universität von Pennsylvania in den USA. Seit 2004 ist er dort Außerordentlicher Professor für Biochemie. Er ist außerdem Professor an der Uni Münster und der Medizinischen Hochschule Hannover und unter anderem Mitglied der Deutschen Akademie der Naturforscher Lepoldina.

Glossar: Induzierte pluripotente Stammzellen

Glossar: Induzierte pluripotente Stammzellen

Im Gegensatz zu embryonalen Stammzellen können induzierte pluripotente Stammzellen (iPS-Zellen) von jedem Spender, etwa aus den Hautzellen, gewonnen werden.

IPS-Zellen werden gemeinhin als ethisch unbedenklich angesehen. Man nennt sie pluripotent, weil sich aus ihnen sämtliche Zelltypen des Organismus bilden lassen. Da sie bereits die Krankheitsmerkmale eines Patienten enthalten, können Forscher mit iPS-Zellen Wirkstoffe passgenauer entwickeln, deren Nebenwirkungen effizienter untersuchen und so die Entwicklung von Medikamenten beschleunigen. Künftig soll es möglich sein, nicht nur die Symptome einer Krankheit zu behandeln, sondern auch deren Ursache. Gesunde Zellen könnten geschützt werden, bereits kranke sich regenerieren.

Internet: www.mpi-muenster.mpg.de/70520/pm_mpimuenster_20120322_koerper_de.pdf

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