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Wiki und die schnelle Lehre

Das Internet befeuert eine Kultur des Tauschens und Teilens. Während die Sharing Economy in weiten Teilen der Gesellschaft angekommen ist, gilt dies längst noch nicht für die Hochschule. Das zeigt die Debatte um Open Educational Resources. Eine Übersicht.

Juniorprofessor Leonhard Dobusch gehört hierzulande einer kleinen Minderheit an. Seine Lehrveranstaltung „Management, Marketing und Informationssysteme“ findet dienstags von 10 bis 14 Uhr in der Wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät der Freien Universität Berlin statt. Das wäre nicht der Rede wert, stellte er nicht wesentliche Inhalte der Veranstaltung ins Internet und damit zur freien Verfügung.

Professor Dr. Dobusch hat auf den Servern der Uni ein Wiki angelegt. Das enthält alle seine Vorlesungsfolien, Literaturlisten und Hinweise auf weiteren Lesestoff. Fast alle Literaturverweise sind mit Links auf Fachartikel zum Download versehen. Es gibt Fragenkataloge, mit denen sich die Studierenden auf die Lehrveranstaltung vorbereiten sollen, und Wiki-Seiten, auf denen sie die Schwächen und Stärken der einzelnen Fachartikel benennen sollen.

„Ich habe die Pflicht, mein Wissen zu teilen“

Digitale Pioniere

Dobusch gibt seine Lehrmethoden preis. Damit legt er eine Haltung an den Tag, die nicht selbstverständlich für Hochschullehrer ist. Er hat nichts dagegen, wenn Kollegen oder andere Nutzer sich bei seinen Materialien bedienen. Vielmehr sagt er: „Ich habe als Hochschullehrer, der von Steuergeldern bezahlt wird, die Verpflichtung, mein Wissen mit anderen zu teilen.“ Was bedeutet das für die Lehre? Welches Potenzial hat die Digitalisierung der Materialien und Methoden? Was passiert mit dem klassischen Präsenzstudium, wenn man alles online lernen kann? Durch die Hochschullandschaft geistert schon länger eine Diskussion um die sogenannten Open Educational Resources – kurz OER. Das ist der offizielle Name für das, was der Juniorprofessor für Organisationstheorie anbietet: digitale Lern- und Lehrmaterialien, die Nutzer frei verändern, kopieren und neu zusammenstellen dürfen. Vorangetrieben wird die Diskussion von Menschen wie Dobusch, den Digitalpionieren unter den Hochschullehrern.

Bildung für alle

Bei der Unesco machte man sich schon im Sommer 2002 Gedanken über das Potenzial von OER. Allerdings hatte die internationale Organisation dabei nicht die Verbesserung der Hochschullehre in den Industriestaaten im Auge, sondern eine neue Art der Entwicklungshilfe. Sie lud Wissenschaftler aus aller Welt nach Paris, um zu diskutieren, wie hochwertige Bildung auch Menschen in ärmeren Ländern zugänglich gemacht werden kann. Der Abschlussbericht formuliert einen Wunsch der Teilnehmer, der wie der Beginn einer neuen Ära klingt: Es sollen freie Lehrinhalte online gestellt werden, die der ganzen Menschheit gehören und denselben Schutzstatus erhalten sollen wie das gesamte Unesco-Weltkulturerbe.

Offene Fragen

Von dieser großen Idee hat sich die Diskussion um OER hierzulande inzwischen weitgehend gelöst. Geblieben ist die Erörterung des Einsatzes freier Lern- und Lehrmaterialien in der deutschen Hochschullandschaft durch ein paar begeisterte Verfechter wie Dobusch, die sich etwa über Finanzierungs- und Geschäftsmodelle sowie Nutzungsrechte austauschen. Angesichts der Tatsache, dass kaum ein Hochschullehrer Inhalte und Materialien digital zur Verfügung stellt, erscheint diese Debatte sehr theoretisch. Andererseits könnten solch ungeklärte Fragen der Grund dafür sein, dass nur eine Minderheit unter den Lehrenden zur Entwicklung von OER beizutragen bereit ist.

Um die Konsequenzen des Einsatzes neuer Technologien beim Lehren und Lernen soll es auch bei der Konferenz der European Association of Distance Teaching Universities gehen, die Ende Oktober an der Fernuniversität Hagen stattfindet.
Da OER wie andere geistige Schöpfungen urheberrechtlich geschützt sind, können sie nicht einfach geteilt, weiterentwickelt oder verändert werden. Es braucht ein Lizenzmodell, das die Nutzungsrechte klärt. Wie dieses aussehen könnte, darüber wird derzeit noch diskutiert. Und solange dies nicht geklärt ist, steht die Frage im Raum, ob man sich strafbar macht, wenn man die Lehrmaterialien anderer nutzt.

Deutsche Zurückhaltung

Verschläft Deutschland den Anschluss an eine internationale Entwicklung? Sind die Hochschulen anderer Länder viel innovativer und ist Deutschland zu wenig offen für Neues? Von den OER-Befürwortern wird gerne auf die USA verwiesen. Tatsächlich wird OER dort von der Politik und von Stiftungen stärker gefördert. Da engagiert sich zum Beispiel die finanzkräftige William and Flora Hewlett Foundation. Sie finanziert etwa das OpenCourseWare-Programm des Massachusetts Institute of Technology mit, über das die Eliteuniversität Lehrmaterialien und Vorlesungsvideos kostenfrei online stellt. Von politischer Seite aus wurde 2011 ein Programm beschlossen, bei dem bis 2015 zwei Milliarden US-Dollar (179..232.000 Euro) in die Entwicklung von OER-Lehrmaterialien für die Community Colleges flossen. Und es gibt die gemeinnützige peer-to-peer University, eine Plattform, auf der jeder Kurse anbieten und belegen kann und die durchaus als Vorzeigebeispiel für ein erfolgreiches OER-Projekt taugt.

„Es fehlen Anreize“

Verlässliche Zahlen dazu, wie Deutschland hinsichtlich der Förderung oder Verbreitung von OER im internationalen Vergleich liegt, gibt es nicht. Dass der große Durchbruch bisher ausblieb, ist dennoch offensichtlich, sucht man doch an deutschen Hochschulen vergeblich nach nennenswerten OER-Projekten. Es gibt natürlich Hochschulen, die Aufzeichnungen ihrer Vorlesungen online stellen. Andere experimentieren mit den sogenannten Massive Open Online Courses (Moocs), bei denen sich Filme von Vorlesungen und Fragen zum Gelernten abwechseln. Aber von OER im strengen Sinne ist nur wenig zu sehen. Einziges größeres OER-Vorhaben derzeit ist die Hamburg Open Online University, ein Zusammenschluss aller sechs staatlichen Hochschulen Hamburgs. In der Hansestadt dürfen die Verantwortlichen in den kommenden zwei Jahren mit 3,7 Millionen Euro ausprobieren, wie man freie Online-Lehre gestalten kann.

Warum diese Zurückhaltung? „Es fehlen Anreize“, meint Dobusch. OER-Materialien zu erstellen, erfordert Zeit und Geld, Ressourcen, die in den Hochschulbudgets nicht vorgesehen sind, Fördertöpfe gibt es auch nicht und der Mehraufwand ist nicht anrechenbar auf das Lehrdeputat. Dobusch würde sich einen Wettbewerb wünschen, wie ihn vor ein paar Jahren der Stifterverband für Moocs ausgeschrieben hatte. 250 000 Euro stellte der Verband zur Verfügung, über 250 Projektvorschläge wurden damals eingereicht. „Ein Wettbewerb lädt dazu ein, sich mit dem Thema zu beschäftigen“,  sagt Leonhard Dobusch.

Skepsis allüberall

Doch auf politischer Ebene bewegt sich bislang wenig. Anfang des Jahres legte eine Arbeitsgruppe der Länder und des Bundes einen Bericht vor, in dem sie Position zur Nutzbarkeit von OER bezieht und für Unterstützung auf Bund-Länder-Ebene wirbt. Einschneidende Konsequenzen wurden aus dieser Empfehlung aber nicht gezogen. Mit nur 700.000 Euro finanziert das Bundesministerium für Bildung und Forschung in diesem Jahr zwei Forschungsvorhaben, die sich mit OER beschäftigen. Aber auch die Professorenschaft scheint eher zurückhaltend. Neben Fragen zu Nutzungsrechten und Lizenzen könnte eine weitere Ursache eine grundlegende Skepsis gegenüber OER sein. Wie die sich äußert, das hat Dobusch untersucht. Im Auftrag der Technologie-Stiftung Berlin hat er eine Bestandsaufnahme in Sachen OER an Berliner Hochschulen gemacht. Dafür führte er unter anderem qualitative Interviews mit Mitarbeitern aus den Computer¬ und Medienzentren durch. Die Antworten bestätigen die Abwehrhaltung: „Engagierte Professorinnen und Professoren haben kaum Interesse daran, Material über einen engen Kreis hinaus zu teilen.“ Außerdem: „Weniger Engagierte wollen keine Kritik.“ Oder auch, OER gebe das Gefühl, die eigene Lehre nicht richtig zu machen, weil Fremdmaterial genutzt werde.

Vielleicht berührt der letztgenannte Punkt ein sehr deutsches Verständnis von Hochschullehre, die Einheit von Forschung und Lehre. Die dahinterstehende Frage lautet: Kann man mit diesem Selbstverständnis guten Gewissens fremdes Material nutzen? Gehört zu dieser Einheit nicht, dass Lehrender und Lernender an Hochschulen aufeinandertreffen und nicht bloß in virtuellen Sprechstunden im Netz? Oder aber, könnte OER nicht auch förderlich für die Einheit von Forschung und Lehre sein, weil mit ihr standardisierte Lehrinhalte abgedeckt werden können und Lehrenden mehr Freiraum für die persönliche Betreuung bleibt? Professor Dr. Peer Pasternack, Leiter des Instituts für Hochschulforschung Halle-Wittenberg, betrachtet die Diskussion um die freie Online-Lehre nüchtern: „Erst einmal ist es nur eine neue Medienform. Ob sich aus dieser Formveränderung Inhaltsveränderungen ergeben werden, kann man jetzt noch nicht sagen.“

Kommunikation erfolgt vor allem nonverbal

Das Nutzen und Verändern von Inhalten für die eigene Lehre sieht der Bildungsforscher entspannt, meint aber, dass Handlungsbedarf bei den Urheberrechtsfragen besteht. „Man muss dem Bedürfnis der Autoren, ihre Produkte unverfälscht anbieten zu können, Rechnung tragen. Dafür bräuchte man so etwas wie einen Speicherort für Originale.“ Kritisch findet er, wenn OER dazu dienen soll, Veranstaltungen vom Hörsaal oder Seminarraum ins Internet zu verlagern. Der Kontakt zu Lehrenden sei unabdingbar. „Kommunikation erfolgt zu 70 Prozent über nonverbale Interaktion. Darauf müssten wir im Netz weitestgehend verzichten.“ Ein Präsenzstudium kann OER Pasternack zufolge also nicht ersetzen. Einsatzmöglichkeiten in der Lehre sieht er dennoch. Zum einen als ergänzendes Angebot für Studierende mit Nachholbedarf. „Mit der steigenden Zahl an Menschen, die auf eine Hochschule wechseln, steigt die Heterogenität der Lernenden. Diesen Angebote zu machen, mit denen sie eine Lehrveranstaltung nacharbeiten können, macht Sinn.“ Zum anderen indem man sich auf die OER-Aufgabe, wie sie die Expertenrunde der Unesco definiert hat, besinnt: „Wenn es nicht möglich ist, dass Studierende an einer Universität zusammenkommen, wie es etwa in Entwicklungsländern der Fall ist, kann das Arbeiten mit offenen Bildungsressourcen sicherlich sehr sinnvoll sein“, sagt Peer Pasternack.

Meilensteine der Bewegung

Meilensteine der Bewegung

2001 Das Massachusetts Institute for Technology startet das Projekt „OpenCourseWare“, das Lehrmaterial und Vorlesungsvideos online kostenfrei zur Verfügung stellt.

2002 Die Unesco lädt internationale Bildungsexperten zum „Forum on the Impact of Open Courseware for Higher Education in Developing Countries“ in Paris. In der Abschlusserklärung wird der Begriff Open Educational Resources erstmals verwendet.

2007 OER-Aktivisten treffen sich in Kapstadt. Die Konferenz-Teilnehmer verabschieden die „Cape Town Open Education Declaration“ mit dem an Regierungen sowie Lehrende und Bildungseinrichtungen gerichteten Aufruf, freie Lernmittel zur Verfügung zu stellen.

2011 Der damalige Stanford-Professor Sebastian Thrun bietet die „Einführung in die künstliche Intelligenz“ als Massive Open Online Course an. Mehr als 160 000 Studierende melden sich für den Kurs an, 23 000 davon nehmen an der Abschlussprüfung teil.

2012 Die Unesco greift die Ziele der Kapstadt-Deklaration in ihrer Pariser Erklärung auf.

Das Gerüst für Open Educational Resources

Das Gerüst für Open Educational Resources

Als Open Educational Resources werden freie Lern- und Lehrmaterialien bezeichnet. Derzeit wird diskutiert, welche Lizenz-Modelle für OER-Materialien geeignet sind. Viele sprechen sich für die Nutzung der Creative-Commons-Urheberrechtslizenzen aus, die von der gemeinnützigen Organisation Creative Commons entwickelt wurden, damit Autoren anhand von Standard-Lizenzverträgen der Öffentlichkeit die Nutzungsrechte an ihren Werken einräumen können. Eingrenzen lässt sich, ob die Nutzung nur unter der Nennung des Urhebers erfolgen darf, ob das Material kommerziell genutzt werden darf und ob Veränderungen erlaubt sind:

  • Reuse: Jeder darf das unter freier Lizenz online gestellte Lehrmaterial weiterverwerten.
  • Revise: Jeder darf die Inhalte überarbeiten.
  • Remix: Jeder darf die Inhalte mit anderen Materialien kombinieren und ergänzen.
  • Redistribute: Jeder darf die Inhalte in einem anderen Kontext abermals veröffentlichen.

Konferenz der Fernhochschulen

Konferenz der Fernhochschulen

Anlass Die Europäische Vereinigung der Fernhochschulen (European Association of Distance Teaching Universities, EADTU) trifft sich am 29. und 30. Oktober 2015 in Hagen zu ihrer Jahreskonferenz.
Thema Unter dem Titel „Innovating pathways to learning and continuous professional education“ soll es auf der Konferenz darum gehen, welche Folgen der zunehmende Einsatz neuer Technologien beim Lehren und Lernen hat.

Internet: http://conference.eadtu.eu/

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