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Hamburg zeigt Flagge und wagt einen Vorstoß in Sachen frei zugängliche Lehr- und Lernmaterialien, kurz OER (Open Educational Resources). Sechs Hochschulen des Stadtstaates bereiten die Gründung einer Online-Universität vor. Der Ausgang ist noch offen.

Fünfmal so groß wie das Berliner Olympiastadion müsste der Hörsaal schon sein, den Dr. Ramamurti Shankar bräuchte, um all die Studierenden an einem Ort zu haben, die von ihm lernen möchten. Shankar ist Physik-Professor an der amerikanischen Universität Yale. Und er ist bekannt für seine Vorlesung über die Newtonschen Grundsätze der Bewegung. 350.000-mal wurde die eineinhalbstündige Lehrveranstaltung auf Youtube angeschaut.
Ob die Zuschauer dabei am Schreibtisch saßen oder Bier trinkend im Fernsehsessel lümmelten, weiß man nicht. Auch nicht, ob sie überhaupt einen Schulabschluss haben. Sicher ist nur: In einem Hörsaal hätte der Dozent seine Vorlesung sehr häufig halten müssen, um so vielen Zuhörern eine Teilnahme zu ermöglichen.

Die Vorlesungsreihen, die die Uni Yale auf ihrem Youtube-Kanal online stellt, sind Teil dessen, was man Open Educational Resources, kurz OER, nennt. Der Begriff steht für Lern- und Lehrmaterialien, die frei im Internet verfügbar sind. Das können Videos von Vorlesungen sein, Skripte, Podcasts, aber auch ganze Lehrveranstaltungen, mit Diskussionsforen, Arbeitsaufgaben und Lernmaterial. Die große Vision der OER-Gemeinschaft: freier Zugang zu Wissen und Bildung für alle und überall.

Deutsche Hochschulen sind zögerlich

Es gibt einige weitere zaghafte Vorstöße von Universitäten, doch der ganz große Durchbruch blieb bisher aus. „Weltweit stecken die OER noch in den Kinderschuhen, und Deutschland ist ganz weit hinten dran“, sagt Dr. Till Kreutzer, Anwalt für Urheberrecht in Berlin. OER sind sein Steckenpferd. Er berät Schulen und Hochschulen und betreibt zudem die Plattform iRightsinfo, die sich mit urheberrechtlichen Fragen im Internet beschäftigt. „Vor allem die Hochschulen in Deutschland sind sehr zögerlich“, sagt Kreutzer. Als Gründe hierfür sieht er die Angst vor Problemen mit dem Urheberrecht, die Sorge vor der finanziellen Belastung und die Befürchtung, die Lehre könne an Qualität einbüßen.

Die Hansestadt Hamburg wagt einen Vorstoß. 3,7 Millionen Euro hat der Senat aus Mitteln der Behörde für Wissenschaft und Forschung für eine zweijährige Pilotphase zur Verfügung gestellt. Mit dem Geld sollen die sechs staatlichen Hochschulen des Stadtstaates gemeinsam die Hamburg Open Online University gründen. Voraussichtlich im Sommer 2016 soll ein Prototyp der Online-Uni an den Start gehen. „Wir entwickeln ein Konzept für interaktive Lehre im Internet und öffnen es für alle Bevölkerungsgruppen“, sagt Prof. Dr. Sönke Knutzen, Vizepräsident für Lehre an der Technischen Universität Hamburg-Harburg. „Wir betreten damit Neuland und wissen daher noch nicht im Detail, wie genau das aussehen wird.“ Knutzen hat das Projekt initiiert und koordiniert es: „Wir haben absichtlich keinen Rahmen gesetzt. Jetzt in der Anfangsphase versuchen wir, jede Idee so weit wie möglich umzusetzen.“

Und so sieht das Vorgehen aus: In einer ersten, derzeit laufenden Phase suchen er und sein Team an den Hochschulen Pilotprojekte. Für diese Projekte werden sie sogenannte User Story-Analysen erstellen. Dafür führen sie Interviews mit den Projektverantwortlichen und arbeiten heraus, welche Akteure an dem Projekt beteiligt sein könnten. Anschließend wird für jeden dieser Akteure eine Geschichte geschrieben. Da steht drin, warum und wie er oder sie das Angebot nutzen könnte. Mithilfe dieser Geschichten wird dann eine für die Lehrveranstaltung maßgeschneiderte technische Lösung entwickelt. Die Erfahrungen, die sie so mit ihren Pilotprojekten sammeln, sollen dann in eine Art Baukasten münden, mit dem neue Lehrveranstaltungen zusammengestellt werden können. Im Oktober soll eine Webseite online gehen, auf der jeder Kontakt zu den ersten Projekten aufnehmen kann. Insgesamt dauert die Pilotphase bis Anfang 2017.

„Wir wollen problembasiertes Lernen mit offenen Ressourcen und offenen Teams anbieten“, sagt Knutzen. Wie Windkraftanlagen gestaltet werden könnten, damit sie besser von der Bevölkerung akzeptiert werden, ist dem Wissenschaftler zufolge eine Fragestellung, die sich für eine OER-Lehrveranstaltung eignen würde. „Das ist eine Frage, die sich nicht alleine von Ingenieuren beantworten lässt. Dazu könnten auch Designer und Sozialwissenschaftler etwas beitragen, aber auch jeder andere Interessierte“, sagt Knutzen.
Neben der technischen Umsetzung gilt es, Fragen zum Urheberrecht zu beantworten. Etwa, wer die Rechte an veröffentlichten Texten, Grafiken, Zeichnungen hält. Das Gesetz sieht vor, dass Werke, die ausreichend ‚individuell‘ sind, urheberrechtlich geschützt sind. „Die Schwellen liegen da sehr niedrig, sodass fast alles urheberrechtlich geschützt ist“, erklärt Experte Kreutzer. Zudem sei es nicht unwichtig, von wem die Materialien erstellt wurden: „Hierbei besteht ein Unterschied, ob ein Professor oder ein wissenschaftlicher Mitarbeiter sie erstellt.“

Es obliegt den jeweiligen Professoren, zu entscheiden, ob sie ihre Lehrmaterialien als OER veröffentlichen möchten oder nicht. Sind sie damit einverstanden, „muss die Hochschule mit den Lehrenden Lizenzverträge schließen, in denen die Nutzung der Beiträge geregelt wird“, sagt Kreutzer. Komplizierter wird es, wenn die Lehr- und Lernmaterialien gemeinsam von vielen Menschen erarbeitet und weiterentwickelt werden. Dieser Aspekt ist wichtig, weil er genau das betrifft, was OER ausmacht – nämlich das gemeinsame Erarbeiten von Wissen: Die Teilnehmer finden Antworten auf eine Frage, diese Antworten werden weiterentwickelt, zusammengefasst und es werden weitere Materialien hinzugestellt. Wer hat dann die Rechte am Ergebnis? Kreutzer sieht dies als ein lösbares Problem: „Man kann auch dies über Lizenzverträge regeln; bei Wikipedia funktioniert das ja auch.“

Ob das Hamburger Modell Schule macht, kann man heute noch nicht sagen. Dem Erfolgsdruck unterwirft sich Initiator Knutzen aber nicht: „Wir experimentieren, um neue Wege zu finden. Wie das Ganze am Ende aussehen wird, wissen wir daher jetzt noch nicht.“

 

Der Beitrag wurde am 30. Juli 2015 online aktualisiert.

 

Fakten und Hintergrund

Fakten und Hintergrund

  • Begriff Open Educational Resources (OER) lehnt sich an die Begriffe „Open Content“, also Inhalte, die meist im Netz frei verfügbar sind für jedermann, und „Open Source“ an. Das ist Software, deren Kernstück, der Quellcode, frei zugänglich ist und von jedermann kopiert und verändert werden darf. Seit Mitte der 1990er-Jahre setzt sich die Bewegung für den offenen Zugang zu Fachliteratur ein.
  • Vorreiter im akademischen Bereich war das OpenCourseWare-Projekt des Massachusetts Institute of Technology (MIT), in dem die US-Eliteeinrichtung bis heute rund 2000 Kurse unter freier Lizenz online veröffentlicht hat.
  • OER an deutschen Hochschulen Eine Bestandsaufnahme und Potenziale liefert eine Studie der Transferstelle für OER:
    Studie von 2015: http://tinyurl.com/phzblx
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