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Lehre im Notbetrieb

Nie zuvor waren mehr historische Quellen und originale Handschriften so einfach und breit zugänglich wie heute. Das Problem: Der wissenschaftliche Nachwuchs muss sie lesen können. Den jungen Historikern das beizubringen, ist eine Wissenschaft für sich. Nun stirbt sie aus. Ein Lehrstück vom Notbetrieb an Unis.

Uralte Handschriften, Münzen, Wappen oder Siegel im Orginal zu lesen und zu entschlüsseln – eine Kunst, die vom Aussterben bedroht ist. Immer weniger Wissenschaftler beherrschen Kodikologie, Numismatik, Heraldik oder Sphragistik. Diese Disziplinen gehören alle zum Fach Historische Grundwissenschaft. Und das droht aus der deutschen Hochschullandschaft zu verschwinden.

In vielen Universitäten ist es nur dem Engagement einzelner Wissenschaftler zu verdanken, dass die Kenntnisse an die Studierenden weitergegeben werden können. Dr. Eva Schlotheuber ist eine von ihnen. Die Professorin für Mittelalterliche Geschichte an der Uni Düsseldorf bietet Kurse in Handschriftenkunde an. Außerhalb der Vorlesungszeit organisiert sie eine Sommerakademie, zusammen mit der Ludwig-Maximilians-Universität München und der Monumenta Germaniae Historica, ein Projekt, das historische Quellen ediert. Dort lernen die Studierenden, wie sie Orginale entziffern und bewerten können.

Immer weniger Lehrstühle

Eigene Lehrstühle für Historische Grundwissenschaft gibt es immer weniger. Von 1997 bis 2011 hat das Fach rund ein Drittel davon verloren. Dies hat die Potsdamer Arbeitsstelle Kleine Fächer ermittelt. Deshalb setzt sie die Historischen Grundwissenschaften auf Platz sieben der Liste der bedrohten Fächer. Nur noch an den Universitäten in Bamberg, Bonn, Erlangen, Köln, München, Passau, Regensburg, Tübingen und Würzburg gibt es eigene Professuren. Das Fach verliert an Bedeutung.

Noch gibt es wie in Heidelberg „ein recht gutes Angebot“, sagt Dr. Klaus Oschema, Historiker an der Universität Heidelberg und Mitglied im Beirat des Mediävistenverbands. Das ehemals eigenständige Mittellateinische Seminar ist zumindest in Teilen als Bestandteil des Historischen Seminars erhalten geblieben. Weiterhin gibt es mehrere Dozierende, die eine Lehrbefugnis für die Historischen Grundwissenschaften besitzen. „Andererseits ist die Abwesenheit einer eigenen Professur durchaus bemerkbar“, sagt der Historiker. „Wir können zwar auch in der Wappenkunde, Siegelkunde und weiteren Teilbereichen Lehrveranstaltungen anbieten. Durch eine eigenständige Professur könnte dies aber systematischer stattfinden“, sagt Oschema. Und das Angebot insgesamt würde nicht auf schwächeren Beinen stehen als früher.

Einst gehörten die Historischen Grundwissenschaften zu den Perlen der deutschen Wissenschaft. „Das Fach hatte ein herausragendes Niveau und genoss international einen sehr guten Ruf“, sagt Eva Schlotheuber, „viele Studierende kamen aus dem Ausland, um hier diese Fähigkeiten zu erwerben.“ Heute können viele angehende Historiker mit alten Handschriften, Akten, Münzen oder Wappen kaum noch etwas anfangen.

Nicht erst durch den Stellenabbau wird das Fach stiefmütterlich behandelt: Obwohl Historiker bereits 1939 die Bezeichnung Historische Grundwissenschaften vorgeschlagen haben, hält sich bis heute hartnäckig die etwas abwertende Benennung Historische Hilfswissenschaften. „Das klingt, als ob das Fach nur zur Unterstützung der eigentlichen Geschichtswissenschaft diente“, sagt Eva Schlotheuber. „Dabei werden in dem Fach die Grundvoraussetzungen für das historische Arbeiten insgesamt gelehrt“, sagt sie. Nicht nur für die Geschichtswissenschaftler von Bedeutung, sondern auch für angrenzende Fächer wie Philologien, Kunstgeschichte oder Rechtsgeschichte. „Letztlich macht ihre Beherrschung den Unterschied zwischen Geschichtsinteressierten und Historikern aus“, sagt Dr. Klaus Oschema. Denn nur mit diesem Wissen könnten auch ungedruckte und oftmals unbekannte Quellen erschlossen werden – eine wesentliche Voraussetzung für innovative Forschung. „Jeder kann historische Studien in den Sprachen lesen, die er beherrscht. Wirklich neue Einblicke kann nur derjenige eröffnen, der die Fähigkeit besitzt, originale Materialien
eigenständig zu bearbeiten“, sagt Oschema.

Und historische Originale stehen in Zeiten der Digitalisierung so zahlreich zur Verfügung wie nie zuvor. Allein die Deutsche Forschungsgemeinschaft hat 2012 und 2013 rund zwei Millionen Euro für die Digitalisierung von originalen Handschriften und Archivalien bewilligt. Bibliotheken, Archive und Museen machen sie in großer Zahl online zugänglich.

„Die Grundwissenschaften sind dabei auf der Strecke geblieben.“

Was sind dann die Gründe, weshalb kleine Fächer wie die Historischen Grundwissenschaften ihre Wertschätzung verlieren? Für Eva Schlotheuber liegen die Anfänge des Niedergangs bereits in den 1970er- und 1980er-Jahren. Damals wandelten sich die Geschichtswissenschaften: Statt wie bisher die Dinge an sich – zum Beispiel Sprache – zu untersuchen, wurden verstärkt die sprachlichen Bedingungen analysiert, unter denen von Dingen gesprochen wird. „Der Wandel war auch gut“, sagt Schlotheuber, „aber die Grundwissenschaften sind dabei auf der Strecke geblieben“. Eine weitere Ursache liege in der Umstellung auf das Bachelor-Master-System, bei der auf den Fortbestand und die Einbindung der Grundwissenschaften zu wenig geachtet worden sei.

Die Hochschulen würden die Problematik nicht hinreichend erkennen, sagt Oschema. Wenn bereits vorhandenes Personal im Gebiet Geschichte die Kurse abdecke, würde einerseits den Studierenden damit kein Gefallen getan. „Damit droht die Einsicht verloren zu gehen, dass ein guter Lehrer im Fach Geschichte auch ein guter Historiker sein sollte, damit er nicht einfach vorgefertige Textbausteine wiedergeben muss“, sagt Oschema. Andererseits leide die Attraktivität des gesamten Faches darunter: „Ein Gebiet, das nebenbei mit abgedeckt wird, ist kaum noch auf eine Weise produktiv zu bewirtschaften, die attraktive Fortschritte, Entwicklungen und Erkenntnisse generiert.“

Sicherlich warten die Historischen Grundwissenschaften selten mit bahnbrechend-spektakulären Forschungsergebnissen auf, die in den Medien entsprechende Aufmerksamkeit erzielen. Die Studierenden aber scheinen die Attraktivität des Faches durchaus zu erkennen. Die Handschriftenkurse und die Sommerakademien von Eva Schlotheuber seien gut besucht. Wer erstmal angefangen hat, mit historischen Originalquellen zu arbeiten, sei schnell für das Fach gewonnen. „Es macht einfach Spaß, Neuland zu begehen und sich die Quellen selbst zu erarbeiten“, sagt Schlotheuber. Jedoch könnten die Sommerkurse eine geregelte Ausbildung nicht ersetzen.

Die Historischen Grundwissenschaften sind also ein guter Beleg für die Befürchtungen, die vor Jahren zur Einführung der Potsdamer Arbeitsstelle Kleine Fächer führten: Ab einem gewissen Ausmaß des Lehrstuhl-Abbaus ist das Wissen ganzer Disziplinen gefährdet. Eine Abwärtsspirale setzt sich in Gang: Nicht nur bei den Studierenden kommt das Wissen nicht mehr an. Durch den Nichtgebrauch leidet auch die Expertise der Lehrenden. Und ist das Wissen einmal verschwunden, lässt es sich nur schwer wieder herstellen.

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