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Jetzt geht es an die Reserven

Es wird eng in Deutschlands Hochschulen. Bis zu 70 000 Erstsemester dürften kommendes Wintersemester in die Hörsäle drängen. Sie alle wollen betreut sein. Nur: Woher bekommt man kurzfristig mehr Personal für die Lehre?

Der Countdown läuft. Nur noch wenige Wochen, dann startet das Wintersemester. Mit ihm rollt eine neue Welle von Studienanfängern auf die Hochschulen zu. Genaue Zahlen gibt es nicht. Schätzungen gehen aber von bis zu 70 000 Erstsemestern aus. Grund für den Ansturm ist die Aussetzung der Wehrpflicht sowie der doppelte Abiturjahrgang in Bayern und Niedersachsen. Es wird also eng in Hörsälen und Seminarräumen. Großes Gedränge droht insbesondere in den chronisch überfüllten Geistes- und Wirtschaftswissenschaften. Die Hochschulen suchen fieberhaft nach Lösungen, wie die Studierendenflut in der Lehre bewältigt werden kann.

Mix von Modellen

Bayern etwa hatte schon frühzeitig die Weichen gestellt, um den Ansturm zu entzerren. Die erste Tranche der Abiturienten, die sogenannten G9er, absolvierten vorgezogene Abi-Prüfungen und konnten quasi im fliegenden Wechsel schon ab Mai mit dem Studium beginnen. Rund 13 400 Studienanfänger zählte der Freistaat in diesem Sommersemester. Das waren etwa 8400 mehr als im Vorjahreszeitraum und ist ein Indiz dafür, dass die Entzerrungstaktik wirkte. Bundesweit werden diverse Modelle geprüft, wie kurzfristig mehr Lehrpersonal akquiriert werden kann.

Die Ideen reichen von der Aufstockung von Teil- auf Vollzeitstellen wissenschaftlicher Mitarbeiter über die Schaffung befristeter Lecturer-Stellen oder Juniorprofessuren bis hin zu Lehraufträgen an Emeriti oder Professoren außeruniversitärer Forschungsinstitute. Eine für viele Hochschulen interessante Lösung ist die Einrichtung sogenannter Lecturer-Stellen, also Universitätslektoren mit erhöhtem Lehrdeputat zwischen zwölf bis 16 Semesterwochenstunden. Auf diese Personalkategorie setzt die Uni Bremen. Über alle Fakultäten verteilt sind rund 30 Lecturers in einem zweistufigen System im Einsatz. Die meisten in den Geistes- und Sozialwissenschaften. Zweistufig heißt: Es gibt Berufsanfänger mit zeitlich befristeten Verträgen, und es gibt die Senior-Lecturers, die das Gehalt der höchsten Stufe des Tarifvertrags des öffentlichen Dienstes (TVöD: E15) bekommen. „Die Einstellung eines solchen Mitarbeiters ist bei uns in Bremen mit dem Berufungsverfahren für eine Professur durchaus vergleichbar“, sagt Prof. Dr. Wilfried Müller, Rektor der Uni Bremen und in der Hochschulrektorenkonferenz (HRK) Vizepräsident für Lehre. So seien einige der Senior-Lecturers Habilitierte. „Die ersten von ihnen haben bereits eine Professur an einer anderen Hochschule in Aussicht.“ Für Müller ist eine Lecturer-Stelle somit karrieretechnisch keine Sackgasse.

Auch die Ludwig-Maximilians-Universität München setzt zur Entlastung auf Lecturers, die zudem Bachelorprüfungen abnehmen dürfen. Dr. Christoph Mülke, Vizepräsident für Wirtschafts- und Personalfragen, gibt jedoch zu bedenken: „Wichtig ist, dass man auf eine ausgewogene Mischung aus Lecturer- und Professoren-Stellen achtet, sonst leidet die wissenschaftliche Reputation einer Fakultät.“ Natürlich seien Lecturers für die Hochschule kostengünstiger. Mülke sieht jedoch durchaus das Problem, „dass sich Mitarbeiter auf solchen Stellen wissenschaftlich nicht wirklich weiterentwickeln können. Die Stellen dürfen kein Abstellgleis für junge Wissenschaftler werden.“ An dem Punkt sind Berliner Hochschulen skeptisch. Sie befürchten, Dozentenstellen mit Schwerpunkt Lehre führten zu einem Heer billiger Lehrknechte. Die Freie Universität Berlin will deshalb lieber mehr Juniorprofessorenstellen aus Mitteln des sogenannten Berliner Masterplans in besonders nachgefragten Fächern wie Jura und Wirtschaftswissenschaften einrichten. „Auch diese kommen einer Verbesserung der Lehre zugute“, teilt das Büro der Hochschulleitung mit.

Einige Hochschulen besinnen sich in der Situation auch auf Professoren im Ruhestand. „Über den Einsatz von Emeriti entscheidet bei uns jeder Fachbereich individuell“, sagt Bremens Rektor Müller. Er schätzt, dass jeder dritte oder vierte Professor nach der Pensionierung weiterhin in der Lehre tätig ist. Außerdem nutzt die Uni Drittmittel, um wissenschaftlichen Mitarbeitern auf Teilzeitstellen zusätzlich Lehraufträge zu erteilen. „Die jungen Mitarbeiter nutzen dieses Chance, um Erfahrungen zu sammeln“, sagt Müller.

Auch an Fachhochschulen wie der in Köln unterstützen verstärkt wissenschaftliche Mitarbeiter die Lehre: Einige von ihnen erhalten, befristet auf bis zu vier Jahre, statt Teilzeit- Vollzeitstellen. „Diese Mitarbeiter kommen in der Lehre vor allem für die Betreuung von studentischen Projekt- und Übungsgruppen zum Einsatz“, erläutert Vizepräsident Prof. Dr. Rüdiger Küchler.

Die Uni Hamburg greift dagegen regelmäßig auf Wissenschaftler an außeruniversitären Instituten zurück. Hamburgs Vizepräsident für Lehre Prof. Dr. Holger Fischer sagt: „Das Interesse gerade der Jüngeren dort ist ganz gut. Viele möchten auf diesem Weg Lehrkompetenz erwerben. Das wäre ihnen am Institut sonst nicht möglich.“ Die Uni engagiert darum gern Forscher der Helmholtz-, Leibniz- oder Max-Planck-Institute vor Ort. Zwischen zehn und 20 solcher Lehraufträge hat sie bereits vergeben. Das funktioniere gut, aber wie stark die Unterstützung ausfalle, sei nicht immer absehbar.

Mit dem Vorstoß ist Hamburg zwar kein Einzelfall. Doch das Echo bei den außeruniversitären Organisationen ist verhalten: „Die Präsidenten haben die Anfrage der Hochschulen nach mehr Lehrkooperationen in ihre  Forschungseinrichtungen hineintragen. Die Institute vor Ort werden die Möglichkeiten prüfen“, erklärte Prof. Dr. Karl Ulrich Mayer, Sprecher der Allianz der Wissenschaftsorganisationen und Präsident der Leibniz-Gemeinschaft, im Frühsommer gegenüber der duz, um Mitte Juli in einer Pressemitteilung nachzulegen: „Die Wissenschaft ist auf hervorragend ausgebildeten Nachwuchs angewiesen. Daher bekennen wir uns zu einem verstärkten Engagement in der Lehre für die Zeit der doppelten Abiturjahrgänge“. Zu diesem zeitlich befristeten Bekenntnis ließ sich die Allianz erst auf Bitten von Bundesforschungsministerin Dr. Annette Schavan hinreißen. Konkrete Versprechen sind damit nicht verbunden.

Gymnasiallehrer an die Uni?

Ein ganz anderer Vorschlag kommt vom bayerischen Philologenverband. Er würde gern Gymnasiallehrer für Veranstaltungen wie sprachpraktische Übungen an Unis einsetzen. „Für verdiente Gymnasiallehrer ergäbe sich so die Möglichkeit, einen Teil ihrer Unterrichtsverpflichtungen an der Universität abzuleisten und diese Zeit auch für eine Promotion zu nutzen“, erklärt der Bundesvorsitzende der Philologen, Heinz-Peter Meidinger. Gespräche mit dem Wissenschaftsministerium hätten bereits stattgefunden. Allerdings hält sich die Begeisterung der Hochschulen in Grenzen.

Doch welche Reserven auch mobilisiert werden, ein Problem bleibt: „Die größte Unsicherheit ist die Frage, ob die Grundhaushalte der Hochschulen stabil bleiben“, sagt HRK-Vize Müller. Viele Maßnahmen zur Verbesserung der Lehre seien befristet finanziert. Müller betont: „Es wäre fatal, wenn eine ganze Generation von Akademikern unter der Situation leidet.“

Dr. Andreas Keller

„Provisorien tun nicht gut“

Frankfurt Wird der Lehrengpass im Sinne der Gewerkschaften gelöst? Antworten von Dr. Andreas Keller, dem Hochschulexperten bei der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW).

 

duz: Wie bewerten Sie die Modelle gegen den Lehre-Engpass?

Keller: Kritisch. Im Januar hat die GEW eine Studie vorgestellt, die belegt, dass in den kommenden Jahren ein Vielfaches mehr an Wissenschaftlern in den Hochschulen gebraucht wird. Wissenschaftliche Mitarbeiter, Emeriti oder andere Aushilfen befristet auf volle Stellen zu setzen, damit sie in der Lehre aushelfen, löst das Problem nicht nachhaltig.

duz: Was kritisieren Sie konkret?

Keller: Das wichtigste, auch vom Wissenschaftsrat empfohlene Ziel erreicht man auf diese Weise nicht: nämlich das Betreuungsverhältnis nachhaltig zu verbessern. Das gelingt nur durch mehr Dauerstellen. So wird die Professionalität der Lehre gesichert. Denn Provisorien tun der Lehrqualität nicht gut. Etwa wenn es sich um Aushilfsdozenten handelt, die noch keine Erfahrung in der Lehre haben.

duz: Was spricht gegen den Einsatz von erfahrenen Emeriti?

Keller: So wird der überfällige Generationswechsel in der Wissenschaft hinausgezögert. Statt pensionierte Hochschullehrer zu reaktivieren, sollten die hoch qualifizierten Wissenschaftler, die sich in prekären Beschäftigungsverhältnissen durchschlagen müssen, eine Perspektive bekommen. Gerade in der Lehre sind sie oft sehr motiviert. Dann wären wir, als GEW, auch zu Gesprächen darüber bereit, nach angelsächsischem Vorbild Lecturer-Stellen mit höherem Lehrdeputat einzurichten – wenn diese entfristet werden. Dafür müssen Bund und Ländern noch zusätzliches Geld bereit stellen.

Das Interview führte Mareike Knoke.

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