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Keine Hochschulautonomie in Sicht

Istanbul Fast ein halbes Jahr nach den Gezi-Protesten hat sich in der Türkei am politischen System unter der Regierung des Ministerpräsidenten Recep Tayyip Erdogan nur wenig geändert. Der Wunsch der Demonstranten nach mehr Liberalität hat sich vorerst nicht erfüllt. Das gilt insbesondere für die Hochschulen, die auf mehr Autonomie und mehr Freiräume hofften. Nur in wenigen Fällen wagen sich Wissenschaftler zumeist privater Hochschulen derzeit noch an die Öffentlichkeit.

Einer von ihnen ist Prof. Dr. Cengiz Aktar, Dekan der Fakultät für EU-Studien an der privaten Bahçesehir Universität in Istanbul. Nach den Protesten im Istanbuler Gezi-Park erkennt er an den Hochschulen „eine Form der Selbstzensur“. Zwar könnten sich Beschäftigte an staatlichen Hochschulen weiterhin zu heiklen politischen Themen wie der Kurdenfrage äußern, Kritik an der Regierungspolitik werde jedoch immer schwieriger. Seinen Unmut brachte jüngst auch der Ex-Rektor der privaten Özyegin Universität, Prof. Dr. Erhan Erkut, in der Tageszeitung Hürriyet zum Ausdruck: „Die Türkei ist in einer sehr heiklen Phase, aber Universitäten, die der Gesellschaft auch Wege aufzeigen sollten, schweigen, weil in der Türkei akademische Freiheit und Autonomie fehlen."

Dass sich nur wenige Professoren mit Meinungsäußerungen in die Öffentlichkeit trauen, ist für viele nachvollziehbar. Zwar konnten 125 Akademiker der privaten Ankaraner Bilkent Universität im Juni einen Aufruf an die Regierung unterzeichnen, die Gewalt gegen friedliche Demonstranten zu beenden, ohne danach belangt zu werden. Nicht so glimpflich endete allerdings ein ähnlicher Fall an der privaten Izmir Ekonomi Universität. Dort wurden im August zwei Professorinnen entlassen, weil sie ihre Unterstützung für die Proteste offen kundgetan hatten. Mutmaßlicher Hintergrund: Die Universität wird von der örtlichen Handelskammer finanziert, der gute Beziehungen zur Regierung wichtig sind.

Auch die seit 2005 laufenden Regierungsverhandlungen über einen möglichen EU-Beitritt der Türkei, für die Anfang November eine neue Runde eingeläutet wurde, brachten für die Universitäten bislang nichts Neues. Die Regierung Erdogan reformierte zwar einige Gesetze und passte das Zivil-, Straf- oder Stiftungsrecht an EU-Standards an. Zudem hob sie Ende September das Kopftuchverbot für Lehrende an den staatlichen Hochschulen auf, was Kritiker aber nicht als Zeichen von Liberalität, sondern eher als drohende Islamisierung werten. Das zentrale Problem für die Hochschulen blieb aber unangetastet: die Rolle des Hochschulrats Yök (Yüksekögretim Kurulu).

Das 21-köpfige Gremium ist das staatliche Organ, das die Hochschulen seit 1982 kontrolliert und ihnen die Autonomie verweigert. Das zeigt ein Blick auf die Verfassung: Der Yök schlägt Rektoren vor, ernennt die Dekane, kontrolliert die Hochschuletats. Der Vorsitzende des Hochschulrates wird vom Staatspräsidenten bestimmt. Wie sehr sich der Yök in die Belange der Hochschulen einmischt, konnte man voriges Jahr sehen, als an 19 Hochschulen neue Rektoren gesucht wurden. Besonders auffällig war die Ernennung des Rektors der Ankaraner Gazi Universität, Prof. Dr. Süleyman Büyükberber, der für seine konservativen Positionen bekannt ist. An seiner Universität rangierte er auf der Kandidatenliste für das Rektorenamt lediglich auf Platz fünf. Der Yök leitete Büyükberber als einen der Top-Kandidaten an den türkischen Staatspräsidenten Abdullah Gül weiter, der ihn prompt zum Rektor ernannte.

Als Mitte September an den Hochschulen die Feiern zum Akademischen Jahr anstanden, rief das beispielsweise auch den Yök auf den Plan. Weil die traditionellen Abschluss- und Graduiertenfeiern im Juli landesweit von Solidaritätsaktionen begleitet waren, mahnte er die Hochschulen zu mehr Zurückhaltung. Zu groß war die Sorge, dass sich die Proteste des Gezi-Parks auch auf die Universitäten ausdehnen könnten. Prompt fielen die Feiern bescheidener aus als üblich.

Besonders die staatlichen Universitäten spüren die Knute des Hochschulrats. Etwas mehr Autonomie genießen dagegen die privaten Universitäten, die von nicht-gewinnorientierten Stiftungen getragen werden. Sie können beispielsweise selbstständig entscheiden, ob sie ausländische Professoren einstellen wollen oder nicht. Damit tragen sie zu einer spürbaren Internationalisierung des Hochschulsystems bei. Der Yök kann bei den Privaten zwar nicht in die Rektorenwahl eingreifen, kann dafür aber finanzielle Vorgaben machen. Beispielsweise hat das Gremium Privatuniversitäten untersagt, für Sommerschulen Gebühren zu verlangen.

Die Kritik an der Kontrolle des Yök gärt unter den Wissenschaftlern schon lange. Dekan Cengiz Aktar von der Bahçesehir Universität fordert, den „Yök komplett abzuschaffen“. Die Unis seien ferngesteuert und hingen finanziell zu sehr von zentralen Entscheidungen ab. Für Prof. Dr. Kerem Altıparmak, Jurist an der staatlichen Universität Ankara, ist das Problem, dass „die, die Gesetze machen, keine wirklich unabhängigen Universitäten wollen“. Der Hochschulrat ist aber nicht das einzige Problem des türkischen Universitätssystems. Auch die Mentalität der Rektoren, Professoren und Dozenten müsse sich ändern. Das fordert zumindest Prof. Dr. David Butorac, kanadischer Philosoph an der privaten Fatih-Universität in Istanbul: „Die Türkei ist eine stark hierarchisch geprägte Gesellschaft." Um aber die Studenten besser auszubilden, brauche man kritisches Denken.

Prof. Dr. Wolfgang Wessels

Deutsch-Türkische Uni

„Logische Erweiterung der intensiven Beziehungen“

Der Kölner Prof. Dr. Wolfgang Wessels koordiniert die Wirtschafts- und Verwaltungswissenschaften an der Türkisch-Deutschen Universität (TDU) in Istanbul. Sie nahm Ende September den Lehrbetrieb auf.

duz: Was erwarten Sie sich für die konkrete Zusammenarbeit an der TDU?

Wessels: Die TDU verstehe ich als eine logische Erweiterung der bereits intensiven deutsch-türkischen Beziehungen. In diesem Sinn wird die TDU die Lücke im Bildungs- und Forschungsbereich zu schließen helfen und einen Beitrag zum Wissenstransfer leisten.

duz: Wie beurteilen Sie die Qualität der Lehre und Studierenden in der Türkei?

Wessels: Durch die enge Zusammenarbeit der türkischen und deutschen Partner waren alle Beteiligten, also renommierte Hochschullehrer aus beiden Ländern, in der Lage, ihre jahrelange Expertise und Erfahrung erfolgreich bei der Planung der TDU-Studiengänge einzubringen. Dies hatte großen Effekt auf die Qualität der Lehre und fand darauf aufbauend auch Niederschlag bei der Qualität der Bewerber und somit den jetzigen Studierenden. Damit wird die TDU dem Ziel der Errichtung eines Leuchtturmprojekts deutsch-türkischer Hochschulkooperation, so hoffen wir, gerecht.

duz: In welchen Disziplinen können deutsche Professoren von ihrem Aufenthalt an der TDU profitieren?

Wessels: Zunächst eröffnet es den Professoren die Möglichkeit, ein anderes universitäres System kennenzulernen. Der Austausch mit den Studierenden und Kollegen an der TDU eröffnet neue Sichtweisen auf das jeweilige Interessengebiet, neue Forschungskooperationen können entstehen. Der Wissenstransfer läuft selbstverständlich nicht nur in eine Richtung, in die Türkei, sondern auch umgekehrt: Wir lernen etwas von unserer Arbeit dort.
Im Internet: www.tau.edu.tr

Die Türkei in Zahlen

Die Türkei in Zahlen

In der Türkei gibt es derzeit 178 Universitäten, 109 staatliche und 69 private. Im Jahr 2003 waren es erst 70. Im Studienjahr 2012 waren rund 4,8 Millionen Studierende eingeschrieben. Insgesamt lehren an den Hochschulen 125.000 Dozenten, davon sind 17.585 Professoren.

Finanzen: Die Türkei gab im Jahr 2012 rund 5,5 Milliarden Euro für ihre staatlichen Hochschulen aus. An den staatlichen Unis werden keine Gebühren fällig, private verlangen zwischen 6600 und 18.500 Euro pro Studienjahr.

Zusammenarbeit: Im kommenden Jahr steht das Deutsch-Türkische Jahr der Forschung, Bildung und Innovation an. Die binationalen Wissenschaftsbeziehungen zwischen den beiden Staaten bestehen seit 1951. Zur Zeit gibt es mehr als 900 deutsch-türkische Hochschulkooperationen.

Der Bildungsminister

Der Bildungsminister

Nabi Avci

Der 60-jährige Professor für Kommunikationswissenschaften ist seit Januar 2013 als Bildungsminister für die Hochschulen zuständig. Er war zwischen 2003 und 2008 Chefberater des Ministerpräsidenten Recep Tayyip Erdogan. Seit 2011 sitzt er im Parlament.

Werdegang: Der Absolvent der Technischen Universität des Nahen Ostens Ankara begann seine Beamtenkarriere 1974 im Bildungsministerium, setzte sie nach dem Militärputsch 1980 aber nicht fort. Stattdessen wechselte der promovierte Kommunikationswissenschaftler als Professor an die Universität in Eskisehir. Im Jahr 2000 ging er an die Bilgi Universität in Istanbul.

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