
// Editorial: Mittendrin //
75 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs spricht sich gut die Hälfte der Deutschen (53 Prozent) „voll und ganz“ oder „eher“ dafür aus, einen „Schlussstrich“ unter die NS-Vergangenheit zu ziehen – so eine im Frühjahr im Auftrag der Zeit durchgeführte repräsentative Befragung. ...
... Zum Teil noch drastischer fallen die Ergebnisse aus, wenn man sich mit den verschiedenen Parteianhängern befasst: So stellen sich 82 Prozent der Befragten, die bei der Bundestagswahl die AfD wählen würden, hinter die Aussage, die Deutschen könnten wegen der NS-Geschichte nicht mehr offen über bestimmte Themen diskutieren. Bei den potenziellen Grünen-Wählern ist eine Mehrheit (60 Prozent) gegenteiliger Meinung. Gleichzeitig findet das Gros der befragten AfD-Anhänger: „Die Zeit des Nationalsozialismus wird viel zu einseitig und negativ dargestellt – sie hatte auch ihre guten Seiten.“ Dem stimmen 58 Prozent „voll und ganz“ oder „eher“ zu. Auch bei der Aussage, dass die zwölf Jahre Nationalsozialismus gemessen an der langen Geschichte Deutschlands einen zu großen Stellenwert einnähmen, unterscheiden sich die AfD-Anhänger von anderen: Insgesamt lehnt eine Mehrzahl der Befragten (57 Prozent) die These ab. Bei den möglichen AfD-Wählern stimmen die meisten (81 Prozent) zu.
Gepaart ist der Wunsch nach einem Schlussstrich mit erheblichen Wissenslücken, was den Holocaust und die NS-Diktatur betrifft, wie eine Umfrage der Forschungsgruppe Wahlen für ZDFinfo vom Juli dieses Jahres zeigt. So konstatiert denn auch der Bielefelder Sozialpsychologe Prof. Dr. Andreas Zick: „Im Bereich der politischen Bildung haben wir unfassbare Defizite.“ Und der Sozialwissenschaftler Prof. Dr. Samuel Salzborn, Ansprechpartner des Landes Berlin für Antisemitismus, sieht bei vielen Deutschen ein Bedürfnis nach „kollektiver Unschuld“ und stellt fest: „Meines Erachtens stehen wir nicht am Ende der Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus, sondern eigentlich – in Bezug auf die Gesellschaft, in Bezug auf die Familien – ganz am Anfang.“
Die Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus und die unrühmliche Rolle der Wissenschaftselite war auch der Ausgangspunkt dafür, warum Dozenten und Studenten der Uni Göttingen am 11. Dezember 1945 erstmals die „Göttinger Universitäts-Zeitung“ – die heutige DUZ – herausgaben. Wie wichtig diese Auseinandersetzung war und welche Themen auf der Agenda standen und zum Teil hitzige Debatten auslösten, das können Sie in unserem THEMA nachlesen (ab Seite 16).
Damit Wissenschaft wirksam(er) wird, muss der Transfer gewährleistet sein. Hier allerdings liegt noch vieles im Argen, wie der Bundestagsabgeordnete und frühere Spitzenmanager Thomas Sattelberger im Interview (ab Seite 42) bemängelt. Er macht bei den Verantwortlichen in Hochschule und Politik ein „mentales Problem“ aus, das den Transfer aus dem Wissenschaftssystem in Wirtschaft, Zivilgesellschaft und Politik torpediere. Und in üblich deutlicher Sprache ruft er nach Hochschulleitungen, „die nicht nur als Geldbettler, sondern auch als Zukunftsgestalter“ auftreten“.
Ein fast schon apokalyptisch anmutendes Jahr neigt sich dem Ende zu. Im Namen des DUZ-Teams wünsche ich Ihnen nun allen, dass Sie wohlbehalten in das neue, hoffentlich sich als erfreulicher entpuppende Jahr 2021 kommen und etwas wohlgemuter in die Zukunft schauen können.
Alle historischen Auszüge lesen Sie ab 18. Dezember 2020 im DUZ Magazin 12.2020, kostenlos in der DUZ APP
DUZ Magazin 12/2020 vom 18.12.2020