Die Gesellschaft braucht Soziale Innovationen
Hochschulen nutzen ihr Potenzial zu wenig, um Soziale Innovationen voranzubringen.
Gründe dafür sind fehlende organisatorische Rahmenbedingungen und ein mangelndes Bewusstsein der eigenen Rolle im sozialen Innovationsökosystem.
Ob die Einführung der Sozialversicherung, des Frauenwahlrechts oder modernere Konzepte wie Homeoffice, Food- oder Carsharing – sie alle sind Soziale Innovationen, die mit einer Veränderung bestimmter gesellschaftlicher Praktiken einhergehen. In aller Regel reagieren solche neuen sozialen Praktiken auf bestehende soziale Herausforderungen. Der Trend zum Homeoffice etwa diente vor der Corona-Pandemie bereits der besseren Vereinbarkeit von Beruf und Familie, Foodsharing beugt der Verschwendung von Lebensmitteln vor und verhilft obendrein bedürftigen Menschen zu einer Mahlzeit. Soziale Innovationen sind für eine Gesellschaft ungemein wichtig, denn jede Form von gesellschaftlichem Fortschritt beruht letzten Endes auf Sozialen Innovationen. Sie zahlen nicht nur auf klar umfasste Themen ein, sondern nehmen sich auch der großen gesellschaftlichen Herausforderungen an: der Bekämpfung des Klimawandels und seiner Folgen, der Beseitigung von Armut und sozialer Ungleichheit oder des Pflegenotstands.
Soziale Innovationen sind häufig eine Folge technologischer Innovationen. Das Smartphone hat beispielsweise innerhalb von nur wenigen Jahren viele Aspekte des sozialen Miteinanders verändert und soziale Begegnungsräume zunehmend ins Netz verlagert. Auch Carsharing wäre kaum möglich, wenn nicht Buchungssysteme entwickelt worden wären, die es den Nutzern ermöglichen, in das gemietete Auto einzusteigen und damit zu fahren.
Was sind Soziale Innovationen?
Soziale Innovationen sind neue gesellschaftliche oder soziale Praktiken (Handlungsweisen, Organisationsformen, Haltungen, Werte), die von bestimmten Personen, Gruppen oder Organisationen ausgehen, auf die Lösung von Problemen zielen und damit direkt oder indirekt gesellschaftliche Bedarfe decken. Sie können in Wechselwirkung mit technologischen Innovationen stehen und gehen häufig aus informellen oder kollaborativen Kontexten hervor.
Trotz der offensichtlichen Wichtigkeit Sozialer Innovationen spielen diese in der Innovationspolitik und in der Auseinandersetzung mit Innovationen eine Nebenrolle. Beim Wort Innovationen denken viele zunächst einmal an technologische Innovationen. Soziale Innovationen erscheinen nachgeordnet und zweitrangig. Auch sind sie im Unterschied zu technologischen Innovationen wenig erforscht. Obwohl das Konzept der Sozialen Innovation bereits seit Ende der 1980er-Jahre existiert, erfährt es erst in den letzten Jahren vermehrte Aufmerksamkeit. Angesichts neuer globaler Herausforderungen werden die Rufe lauter, auch Soziale Innovationen stärker zu fördern. Ein gesellschaftliches Umdenken hin zu mehr Nachhaltigkeit, einer größeren gesellschaftlichen Verantwortung von Unternehmen, aber auch jedes Einzelnen schafft seit einigen Jahren ein Klima, in dem Soziale Innovationen stärker in den Fokus rücken und auch die Politik die Bedeutung und die Notwendigkeit Sozialer Innovationen verstärkt adressiert. Ein Beispiel ist etwa die Hightech-Strategie 2025 der Bundesregierung, in der nahezu in jedem der beschriebenen Handlungsfelder auch auf Soziale Innovationen verwiesen wird.
Unklar bleibt jedoch häufig noch, was mit dem Begriff „Soziale Innovation“ eigentlich genau gemeint ist. Muss eine Soziale Innovation zwingend ein soziales Problem lösen oder für den Menschen positive Veränderungen hervorbringen oder geht es nicht vielmehr ganz grundsätzlich um eine Veränderung sozialer Praktiken? In der Forschung dominieren zwei Kategorien von Definitionen: ein normativer, am Gemeinwohl orientierter Ansatz und ein soziologisches Verständnis, das Soziale Innovationen ganz neutral als Wandel gesellschaftlicher Praktiken versteht. Der normative Ansatz zielt entsprechend auf die Beantwortung der Frage „Welcher Innovationen bedarf es für eine bessere Gesellschaft?“, wohingegen der soziologische Ansatz eher die Frage „Was kann man über Veränderungen in der Interaktion von Menschen feststellen?“ in den Blick nimmt. Wird von Sozialen Innovationen im Kontext globaler oder auch regionaler gesellschaftlicher Herausforderungen gesprochen, wird meist der normative Ansatz verfolgt. Um die Entstehung Sozialer Innovationen, ihre Bedingungen, Wege und Resultate genauer verstehen zu können, ist jedoch der soziologische Ansatz sinnvoller. In diesem Artikel legen wir den normativen Ansatz zugrunde. In jedem Fall gilt: „Es handelt sich erst dann um eine Soziale Innovation, wenn diese auch Akzeptanz und Verbreitung gefunden hat“, so Hartmut Kopf, Honorarprofessor für Soziale Innovationen an der Hochschule Bonn-Rhein-Sieg.
Die Annahme liegt nahe, Hochschulen müssten als Räume von Forschung und Entwicklung sowie des disziplinenübergreifenden Diskurses und der Auseinandersetzung mit aktuellen gesellschaftlichen Themen als echte Keimzellen Sozialer Innovationen fungieren. Es gibt schließlich kaum Orte, an denen so viel Wissen, so viele Ideen und geistige Kreativität zusammenfließen. Aus der Innovationsforschung weiß man, dass Innovationen häufig an den Schnittstellen unterschiedlicher Disziplinen entstehen. Wer wäre hierfür also geeigneter als der Hochschulsektor? Tatsächlich aber sind an den meisten Sozialen Innovationen NGOs beziehungsweise Non-Profit-Organisationen (80 Prozent) sowie private Firmen (67 Prozent) beteiligt. Hochschulen haben nur an der Entstehung von knapp 15 Prozent der Sozialen Innovationen mitgewirkt. //
MEHR INFOS
Projekt WISIH: Wege und Indikatoren Sozialer Innovationen aus Hochschulen
Internationales Symposium von CRISES im April 2021 in Montréal
Gillwald, K. (2000). Konzepte sozialer Innovationen, WZB Discussion Paper, No. P 00-519
Howaldt, J. & Jacobsen, H. (2010). Soziale Innovation. Auf dem Weg zu einem postindustriellen Innovationsparadigma
Müller, S. & Kopf, H. (2015). Schlussbericht Forschungsprojekt: Soziale Innovationen in Deutschland
Roessler, I.; Hachmeister, C.-D.; Ulrich, S. & Brinkmann, B. (2020). Soziale Innovationen aus Hochschulen. Verbreitung, Hemmnisse, Fördermöglichkeiten
DUZ Magazin 11/2020 vom 20.11.2020