Von der Pädagogik her gedacht
Piet van der Zanden hat mit einem interdisziplinären Team einen komplett neuen Ansatz für die Planung von Lernräumen entwickelt. Die Methodik hat er in einem „Kochbuch“ aufgeschrieben.
Herr Dr. van der Zanden, Sie sind ein bisschen berühmt geworden mit ihrem „Kochbuch“, in dem es darum geht, wie man Lernräume an Universitäten zentral standardisiert, gestaltet und verwaltet. Da denkt man als erstes an Architektur, an Gebäudemanagement. Sie arbeiten aber in der IT-Abteilung …
Ich bin Informatiker und Pädagogischer Technologe. Der ganze Veränderungsprozess an der Technischen Universität Delft hat vor gut 15 Jahren mit einem Problem begonnen, von dem man dachte, dass unsere Abteilung es lösen kann. Die Studierendenzahlen der Universität sind so schnell gestiegen, dass die Raumkapazitäten für die Lehre in den einzelnen Fakultäten nicht mehr ausgereicht haben. Deswegen haben die Lehrenden nach neuen Räumen gesucht und sind dann häufig in anderen Fakultäten fündig geworden. Da stellten sie aber fest, dass dort die Technik ganz anders ist. Sie standen einfach vielen Problemen gegenüber.
Sie wussten nicht, wo sie ihren Rechner anschließen können. Sie wussten nicht, wo der Lichtschalter ist. Die Lehrenden waren frustriert und die Studierenden auch. Und meine Abteilung, die nicht nur für IT, sondern auch für audiovisuelle Medien zuständig ist, wurde immer wieder gerufen, um die Probleme zu lösen. Wir haben dann beschlossen, die Technik zu standardisieren. Ganz banal gesagt heißt das, dafür zu sorgen, dass der Lichtschalter immer an der gleichen Stelle ist, dass Verbindungskabel angebracht werden und so weiter. Ich selber habe über Bildungstechnologien promoviert, daher kam mir der Gedanke, ob man nicht auch die Räume gemäß pädagogischen Anforderungen standardisieren kann, sodass jeder Lehrende genau weiß, welche Raumtypen es gibt und dann entsprechend seinem Lehrangebot die Räume buchen kann.
Jetzt liegt die Verantwortung aber nicht alleine in der IT-Abteilung, oder?
Nein, von Anfang an waren außerdem die Abteilung für studentische Angelegenheiten und das Gebäudemanagement involviert. Zu Beginn haben wir als Projektteam nur informell zusammengearbeitet. Aus dieser Zusammenarbeit ist eine Projektbeschreibung entstanden, die vom Präsidium der Hochschule genehmigt wurde. Mittlerweile tauchen wir auch in der Governance-Struktur auf. Das war nötig, um ein eigenes Budget zugeteilt zu bekommen. Wir arbeiten aber weiterhin in unseren Abteilungen.
Und diese Standardisierung ist dann in das Kochbuch eingeflossen. Das ist recht übersichtlich, dort gibt es nur vier verschiedene Typen von Lernräumen. Reicht das wirklich aus?
Wir benötigen tatsächlich nur vier Typen von Lernräumen. Wir brauchen Räume, in denen klassisch Prüfungen geschrieben werden. Die sind groß und mit Einzeltischen bestückt. Wir brauchen Räume für Frontalunterricht. Das sind treppenförmige Hörsäle, in denen man von allen Sitzplätzen aus gut auf die Tafel blicken kann. Wir brauchen Räume für Gruppenarbeit. Und wir brauchen Räume, in denen man Frontalunterricht und Gruppenarbeit mixen kann. Die haben vorne eine Tafel und sind mit Drehstühlen bestückt. So können die Studierenden sich einfach umdrehen, um mit ihren Kommilitonen, die hinter ihnen sitzen, zusammenzuarbeiten. Außerdem gibt es Whiteboards an den Seiten des Raums für Break-out-Sessions.
Eigentlich denkt man: So einfach ist das! Aber die meisten Hochschulen sind von dieser Standardisierung noch weit entfernt. Warum eigentlich?
Vieles ist tatsächlich total einfach, aber die Kombinationen und Varianten machen es kompliziert. Zeit braucht es trotzdem. Es hat zum Beispiel drei Jahre gedauert, bis wir auf die Idee mit den Drehstühlen kamen. Wir haben nichts Neues erfunden. Das einzig Neue ist, dass wir die Räume von der Pädagogik her denken. Bei den meisten Universitätsgebäuden steht die Forschung im Mittelpunkt. Alles wird rund um die Labore und die Büros gebaut. Wenn die Institutsleiter darüber entscheiden, wie ihre Gebäude aussehen sollen, dann setzen sie Labore und Büros an die schönsten Stellen. Für die Lernräume muss sich dann irgendwo noch ein Plätzchen finden. Und wenn Architekten ein neues Gebäude entwerfen, dann wollen sie immer viel Licht reinbringen. Aber viel Licht in einem Raum, in dem man auf einen Bildschirm gucken muss, ist doof. Das muss man anders denken – ausgehend von der Pädagogik.
Diese Konzepte lassen sich sicherlich gut in neuen Gebäuden umsetzen, aber die meisten Hochschulen haben Gebäude, die einige Jahrzehnte oder sogar Jahrhunderte auf dem Buckel haben. Kann man das da auch anwenden?
Ja, kann man, meist sogar relativ unproblematisch. Die Technik muss man eh nachrüsten, da geht kein Weg drum herum. Und was die Ausgestaltung der Räume angeht, da lässt sich vieles über die Möbel lösen.
Gibt es Experten, die man bei solchen Prozessen hinzuziehen kann? Das Thema betrifft ja nicht nur Hochschulen, sondern auch andere Veranstaltungsräume, Kongresszentren, Schulen. Da muss es doch Menschen geben, die sich damit auskennen.
Nein, es gibt kaum Experten. Deswegen haben wir das alles alleine durchgezogen und haben viel gelernt. Ein gängiger Fehler ist zum Beispiel, dass die Räume zu niedrig sind. Wenn man einen großen Raum baut, dann muss der so hoch sein, dass vorne ein Bildschirm reinpasst, der so groß ist, dass man auch noch in der letzten Reihe lesen kann, was darauf steht. Daran wird häufig nicht gedacht. Oder man konzipiert den Raum hoch genug und dann kommen die Gebäudetechniker und bauen eine Klimaanlage unter die Decke und man kann wieder nicht lesen, was vorne an der Tafel oder auf dem Bildschirm steht. Diese Fehler sehe ich überall, nicht nur in Hochschulen. Für uns ist die Lesbarkeit ein zentrales Thema.
Warum ist die Lesbarkeit so besonders wichtig?
Wir sind eine technisch ausgerichtete Hochschule. Hier kommen die neuen Studierenden rein und sind unmittelbar mit mathematischen Formeln konfrontiert, die sie noch nie gesehen haben. Wenn sie noch nicht mal erkennen können, wie die griechischen Buchstaben aussehen, wie sollen sie dann überhaupt etwas verstehen? Unsere Inventur hat ergeben, dass alle Bildschirme zu klein waren. Außerdem gab es klassische Tafeln. Tafeln eignen sich sehr gut für die Lehre, vor allem in der Mathematik und den Ingenieurwissenschaften. In diesen Fächern geht es ja häufig darum, Dinge zu erklären. Der Lehrende kann auf einer Tafel, während er erklärt, die Formel aufzeichnen, das ist sehr hilfreich fürs Verstehen.
Hinzu kommt: Man kann kaum einen besseren Kontrast erzeugen, als wenn man mit weißer Kreide auf eine dunkle Tafel schreibt. Die klassische Schiefertafel ist ein tolles Lehrmittel. Wir haben trotzdem 2009 damit begonnen, das digitale Schreiben einzuführen. Wir haben uns dazu entschlossen, weil uns damals schon klar war, dass wir langfristig auf digitale Lehre setzen müssen. Die Studierendenzahlen wachsen immer noch massiv an, so viel Platz für neue Gebäude haben wir gar nicht, also werden einige zukünftig von zu Hause oder von ferne an den Veranstaltungen teilnehmen müssen. Auf jeden Fall war die Umstellung auf das digitale Schreiben ebenfalls ein gigantisches Projekt, das wir aber jetzt zufriedenstellend abgeschlossen haben.
Wie funktioniert das digitale Schreiben denn?
Lehrende schreiben auf digitalen Tafeln wie auf herkömmlichen Tafeln. Dafür muss man aber erst einmal die richtigen Tafeln finden. Wir haben insgesamt 95 Lehrende gebeten, verschiedene Modelle zu nutzen, und sie dabei beobachtet. Wichtig waren die Haptik, aber auch andere Eigenschaften. Zum Beispiel gibt es einige Lehrende, die mit zwei Händen und zwei Kreiden gleichzeitig auf die Tafel schreiben. Und gerade wenn man Formeln aufzeichnet, schreibt man „Stakkato“, man setzt den Stift immer wieder ab. Beides funktioniert auf den meisten digitalen Tafeln nicht gut.
Wir haben uns am Ende für einen Hersteller entschieden, der den Anforderungen am nächsten kam. Der Wermutstropfen ist, dass die Bildschirme deutlich kleiner sind, als wir uns das wünschen würden. Wir haben jetzt einen Mix aus vier Bildschirmen – auf dem ersten steht die Powerpoint, dann kommen zwei aneinandergereihte „Tafeln“ und dann wieder ein Bildschirm, auf dem zum Beispiel die Formel steht, zu der man am Ende der Erklärung kommen will. Es hat vier ganze Jahre gedauert, bis wir da hingekommen sind. Und man muss die Lehrenden dafür gewinnen, sonst funktioniert es gar nicht. Bei uns nutzen jetzt mehr als 200 Lehrende die digitalen Tafeln.
Wie bekommt man die Lehrenden dazu, sich für die neuen Lehrmittel zu interessieren?
Wie bei der Einführung von neuen Technologien allgemein gibt es sogenannte „Early Adopters“, Menschen, die neue Technik gerne annehmen. Für die haben wir eine Plattform geschaffen, auf der sie sich austauschen können. Damit neue Lehrmittel akzeptiert werden, ist es wichtig, dass der Nutzer auch den Nutzen erkennt. Interessanterweise haben wir festgestellt, dass die digitalen Tafeln eher von älteren Lehrenden angenommen wurden als von jüngeren. Die jüngeren sind mit Powerpoint aufgewachsen. Die älteren Lehrenden freuen sich darüber, dass sie die Tafel mit den IT-Anwendungen verbinden können, die sie in ihrer Forschung nutzen. Interessant ist auch die Frage, was die veränderten Lehrbedingungen mit den Menschen machen. Winston Churchill hat mal gesagt: „Wir formen unsere Gebäude, danach formen sie uns.“ Vielleicht gilt das auch für Lernräume, aber da steckt die Forschung noch in den Kinderschuhen.
Aktuell arbeiten Sie mit Räumen, deren Anforderungen vor zehn Jahren definiert wurden. Was müsste heute ein Lernraum eigentlich bieten?
Es sieht momentan so aus, dass zwei wesentliche neue Anforderungen hinzukommen. Zum einen die hybriden Klassenräume. Es gibt ein paar Universitäten, die damit arbeiten, da steht der Lehrende vor seiner „echten“ Zuhörerschaft und im Hintergrund sieht er auf Monitoren seine digitale Zuhörerschaft. Die andere Anforderung wird die virtuelle Zusammenarbeit im Lernraum sein. Es wäre doch toll, wenn man einen Experten und andere Studierende für gemeinsame Projekte virtuell, aber live in den Lernraum holen könnte. Aber wie gesagt: All das kostet Zeit, vor allem weil der Mensch Zeit braucht, um sich an die Technik zu gewöhnen. //
TUDESC – ein Online-Tool für Lernräume
Das „Cookbook Education Spaces“ ist frei herunterladbar, aber es kann problematisch sein, die Tabelle zu interpretieren. Deshalb hat die TU Delft ihre Erkenntnisse in einen Online-Konfigurator einfließen lassen, der nur in Lizenz verfügbar ist. Man kann dort verschiedene Parameter setzen, wie zum Beispiel die Lesbarkeit, aber auch gesetzliche vorgeschriebene Social-Distancing-Mindestabstände sowie die Raumgröße und Raumart. Der Konfigurator liefert dann einen Vorschlag zu den Abständen und zur Platzierung der einzelnen Sitzplätze.
Mehr Infos: www.tudesc.com
Piet van der Zanden
Dr. Piet van der Zanden ist als Education Expert AV-IT in Learning Spaces an der Technischen Universität Delft tätig.
Foto: Privat
DUZ Magazin 08/2020 vom 21.08.2020