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Es reden nur wenige

Präsenzlehre ändert nichts an Dozentenzentrierung, und digital können sich mehr Studierende einbringen – die Mischung macht’s. Eine Reaktion von Dr. Andrea Schütte auf die Forderung zur Rückkehr in die Präsenzlehre

Es ist eine illustre Liste von mittlerweile über 5000 Hochschullehrerinnen und -lehrern, die den offenen Brief zur Rettung der Präsenzlehre an den Hochschulen unterschrieben haben. Ein Titel reiht sich an den anderen, gern auch mit Nennung der Leitungsfunktion. Man fordert „eine – vorsichtige, schrittweise und selbstverantwortliche – Rückkehr zu Präsenzformaten“.

Das fordern und wünschen sich derzeit sicher alle Lehrenden, Sekretärinnen, Beschäftigte im nichtwissenschaftlichen Bereich der Hochschulen und auch viele Studierende. Der analoge Alltag, der von Gespräch, Kontakt, Begegnung lebt, wird von allen herbeigesehnt. Das gilt auch für „die Hochschulleitungen, die Bildungsministerien und die Politik“, denen der Brief implizit unterstellt, die Präsenzlehre einkassieren zu wollen. Wer einmal mit Juristen aus den Justiziariaten der Hochschulen gesprochen hat, die derzeit kurz vor dem Burnout stehen, weil sie Tag und Nacht für die Rechtssicherheit von sich ständig verändernden Prüfungsformaten sorgen müssen, wer sich einmal mit Studiengangskoordinatorinnen ausgetauscht hat, die vor die Aufgabe gestellt sind, eine Online-Klausur für 400 Studierende organisieren zu müssen, der weiß, dass auch die Verantwortlichen in der Leitung der Bildungseinrichtungen natürlich Präsenzformate zurückhaben wollen – und das nicht nur für Prüfungsphasen.

Wie wichtig die Beziehungsebene für Bildungsprozesse ist, muss nicht diskutiert werden. Die Wahrnehmung der Studierenden, ihrer Wünsche, Bedürfnisse, Interessen, Stärken und Schwächen ist, wenngleich in Zeiten der Massenuniversität nur schwer zu gewährleisten, eine der Grundvoraussetzungen für erfolgreiche Lehre. Aber diese Anforderung allein an Anwesenheit zu binden, ist nicht durchdacht. Mehr noch: Die Anwesenheit kann diese Grundvoraussetzung allein nicht sicherstellen, denn Präsenz ist nicht identisch mit Beziehung. In diese Richtung zielt auch Kerstin Stüssels Einwand auf den offenen Brief, mit dem sie die Bedeutung von „Präsenz und professorale[m] Charisma“ infrage stellt (DIE ZEIT, 25.06.20).

Der offene Brief spricht auch die Präsenzlehre vor der Pandemie an. Das zielt natürlich auf die fehlende Anwesenheitspflicht für Studierende in vielen Bundesländern. Sicher ist es unglaublich frustrierend für Lehrende, wenn sie nach intensiver Vorbereitung vor einem ausgedünnten Auditorium stehen. Oder wenn in Sprechstunden Fragen gestellt werden, die ein regelmäßiger Seminarbesuch überflüssig gemacht hätte. Oder wenn das Niveau der Prüfungen weit hinter der Komplexität der Seminarlehre zurückbleibt. Die Gründe für Abwesenheit von Studierenden sind vielfältig und reichen von Ignoranz bis zu inhaltlicher und terminlicher Überforderung. Das müssen wir als Entscheidung von Erwachsenen akzeptieren.

Aber es gibt ein probates Mittel, um fehlende Anwesenheit unaufgeregt hinzunehmen: Digitalität! Denn Studierende sind wohl von der Anwesenheit entbunden, nicht aber vom Workload. Wer nicht kommt, hat seine selbstständig erarbeiteten Ergebnisse digital einzureichen, sonst wird die Teilnahme nicht kreditiert. Das geht auch analog: Man verabredet für die Hausarbeit ein Schlusskapitel, in dem die Arbeitsergebnisse in den Horizont der Seminarinhalte gestellt werden. Beide Maßnahmen führen dazu, dass diejenigen Studierenden, die am Lernerfolg Interesse haben, wieder präsent sind.

Warum? In der Hochschuldidaktik spricht man vom Constructive Alignment: Lernende sind dann motiviert, wenn die Lerninhalte eine für sie (!) deutliche Verbindung zum Prüfungsinhalt oder Seminarlernziel haben. Das geht auch weniger disziplinarisch: Lernmotivation entsteht durch das Erleben von Handlungskompetenz und Autonomie. Dafür wird in dozentenzentrierten Veranstaltungen wenig Raum geschaffen, gern mit der Begründung, die Studierenden müssten sich schon selbst einbringen. Wünschenswert wäre, wenn Hochschullehrerinnen und -lehrer ihre Lehre daraufhin beobachten und verbessern lassen, um den eigenen blinden Fleck in den Blick zu nehmen.

Solange wir Dozentinnen unbeobachtet und uninformiert unsere Lehre machen, wird das im offenen Brief geforderte „Gespräch unter Anwesenden“ zur Makulatur. Denn es reden nur wenige, seien wir ehrlich. Blended-Learning-Szenarien übrigens, die analoge und digitale Formate mischen, haben gezeigt, dass sich unterschiedliche Studierende abhängig vom Format am Gespräch beteiligen. Außerdem kommen beispielsweise durch Social-Reading- und Social-Writing-Tools Studierende ins Gespräch, die vorher nicht im Austausch miteinander waren. Es kommen also Gespräche unter Abwesenden hinzu, die in keiner Weise weniger am im offenen Brief postulierten „Prozess [der] diskursiven, kritischen und selbstständigen Aneignung“ von Inhalten teilhaben oder weniger „Wissen, Erkenntnis, Kritik, Innovation“ ermöglichen. Wechseln Sozialform und Methode dann wieder zum freien und scheinbar offenen dozentenzentrierten Gespräch, egal ob analog/präsent oder digital/virtuell, dann stellen sich asymmetrische Gesprächsstrukturen wieder ein. Denn solange Webinare nur die Verfilmung des asymmetrischen Unterrichtsgesprächs der Präsenzlehre sind, verschenken sie ihre Möglichkeiten und ändern nichts Wesentliches am Lehrdesign. Eine solche digitale Lehre frustriert tatsächlich, verschenkt Ressourcen und kostet unheimlich viele eigene Kraftressourcen.

Daran zeigt sich: Es ist nicht der Unterschied zwischen Präsenzlehre versus digitaler Lehre, der hier zur Debatte stehen sollte, sondern der Unterschied zwischen Präsenz und Beziehung, zwischen vorbildlicher Präsenz und kommunikativ möglichst breiter Resonanz. Das eine ist ein rollenstabiles, letztlich hierarchisches Modell von Lehre (das gilt schon dann, wenn die Unterrichtenden scheinbar offen nur mit wenigen Studierenden diskutieren); das andere konzipiert Lehre als Prozess, der für sein Funktionieren auf Resonanzverstärkung durch die ganze Lerngruppe setzt. Beides gelingt sowohl im analogen wie im digitalen Raum, nur jeweils mit anderen Agenturen und Adressaten. Diese Beobachtung spricht dafür, in Zukunft auf beide Lernformate im Verbund und auf wechselnde Methoden und Sozialformen zuzugreifen.

Diese Chance bietet das kommende Semester, so wir denn wieder geteilte Kohorten im Seminarraum treffen dürfen. Darauf bereiten sich Hochschulleitungen derzeit auf Hochtouren vor. Wer soll und darf wann kommen? Zuerst nur die Studienanfänger zu Einführungskursen? Oder gleich halbe Kohorten aller Kurse alle 14 Tage, wie Niedersachsens Schulen es vormachen: eine Woche Präsenz, eine Woche selbstständiges Lernen? Die Kontaktregelungen an den allgemeinbildenden Schulen können anders sein als an den Hochschulen, denn ein durchschnittlicher Grundschüler hat weitaus weniger Kontakte als eine durchschnittliche Studentin.

Wen oder was adressiert also der offene Brief? Welche ministeriellen Initiativen sind es genau? Es scheint, als gehe es bei dem Anliegen des Briefes nicht zuletzt um die eigene Bedeutung, von der befürchtet wird, sie gehe mit fehlender Präsenz verloren. Stellen wir darauf um, Bedeutung nicht zu personalisieren, sondern die Lehre bedeutsam zu machen, verschwindet auch die Polarität von digitaler und analoger Lehre ganz automatisch. Jedes Format hat genauso viele Vorteile wie Nachteile. Das Beste für unsere Studierenden erzielen wir in einer didaktisch wie infektionspräventiv besonnenen Mischung.

Andrea Schütte

Dr. Andrea Schütte ist Privatdozentin für Neuere deutsche Literaturwissenschaft am Institut für Germanistik, Vergleichende Literatur- und Kulturwissenschaft der Universität Bonn. 

Foto: Privat

Mehr zum Thema: Forderung nach Rückkehr – Debatte zur Präsenzlehre für das kommende Wintersemester



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