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Echo der Nazizeit

Antisemitismus an Schulen hat 75 Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs ein weit größeres Ausmaß als bislang angenommen, sagt die Soziologin Julia Bernstein. Sie hat Handlungsempfehlungen für Lehrkräfte entwickelt.

„Du Jude“ gehört auf deutschen Schulhöfen zu den häufigen Schimpfwörtern. Es fallen auch Formulierungen wie „Judenschwein“, „Scheißjude“ oder „Man hat vergessen, dich zu vergasen“. Nur sehr wenige Schüler oder Lehrer trauen sich, mit Kippa oder Davidstern als Juden erkennbar zu sein. Zugleich gibt es kaum Unterstützung von den Lehrkräften, die das Thema meist nicht erkennen oder bagatellisieren. Das geht aus einer Studie von Prof. Dr. Julia Bernstein hervor, die an der Frankfurt University of Applied Sciences Diskriminierung und Inklusion in der Einwanderungsgesellschaft lehrt. Mit ihrem Team hat sie 251 Interviews an 171 Schulen geführt. Sie sprach mit jüdischen Schülern, ihren Eltern, jüdischen und nicht jüdischen Lehrkräften sowie Fachleuten.

Dabei handelt es sich um die erste empirische Untersuchung, bei der die jüdischen Schüler und Lehrkräfte selbst befragt wurden. „Bis dahin hat niemand aus der Sicht der Betroffenen darüber geforscht“, staunt Bernstein. Jüdische Stimmen beim Antisemitismus würden oft als übersensibel und nicht objektiv genug angesehen: „Man hält es für selbstverständlich, dass Nichtjuden über Juden forschen. Das gilt als neutraler“, wundert sich die in Charkow in der Ukraine geborene Wissenschaftlerin. Dabei sei dies so, als seien Männer bei Forschungen zu Genderfragen geeigneter.

Julia Bernstein war 18, als sie allein nach Israel ging, „dem einzigen Zufluchtsort für Juden auf der Welt“. In Haifa studierte sie Kunstgeschichte, Soziologie und Kulturanthropologie. Erst ein Stipendium für die Feldforschung für ihre Promotion über Identitätsfragen russischsprachiger Migranten in Israel und Deutschland brachte sie 2002 nach Frankfurt am Main. Sie verliebte sich in die deutsche Sprache, die sie an die jiddischen Unterhaltungen ihrer Großeltern erinnerte. Bei ihrer vergleichend angelegten Doktorarbeit zeigte sich: Wer eher zionistisch orientiert war, ging nach Israel. Die europäisch orientierten jüdischen Auswanderer kamen nach Deutschland – in der Annahme, dass der Antisemitismus im Land der Täter überwunden sei. Viele von ihnen setzten sich erst in Deutschland mit ihrer eigenen Geschichte als Opfer der Schoah auseinander – in der ehemaligen Sowjetunion waren alle jüdischen Rituale verboten gewesen. Ihre Kinder konnten sich meist erfolgreich etablieren. Doch das Gefühl von Heimat und Zuhause konnten sie angesichts von antisemitischen Sprüchen und Reaktionen nur schwer entwickeln. Daher erging es den jüdischen Auswanderern in Israel psychisch meist besser.

Julia Bernstein blieb zumindest vorerst in Deutschland, weil sie interessante Angebote als Lehrbeauftragte an Universitäten in Frankfurt am Main, Mainz und Köln bekam – sie hatte bereits Lehrerfahrung in verschiedenen israelischen Colleges gesammelt. Und sie lebt gern in Frankfurt, wo es ein lebendiges jüdisches Leben gibt und wo sie sehr positive Erfahrungen mit den Studierenden macht. 2015 wurde sie Professorin an der Frankfurt University of Applied Sciences – ein Präzedenzfall, weil sie zugleich ihren israelischen Pass behalten durfte.

Zunächst für den Deutschen Bundestag startete sie gemeinsam mit Kollegen vom Institut für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung der Universität Bielefeld die Studie über „Jüdische Perspektiven auf Antisemitismus“. Dabei übernahm sie die qualitativen Befragungen. Seitdem hat sie die Untersuchungen am „Mikrokosmos Schule“ ausgeweitet – im April erscheint das mehr als 600 Seiten starke Buch mit dem Titel „Antisemitismus an Schulen in Deutschland. Befunde, Analysen, Handlungsoptionen“.

Auch wenn es sich nicht um eine repräsentative Studie handelt, zeigt sich deutlich, dass judenfeindliches Verhalten an Schulen in den vergangenen zehn Jahren zugenommen hat. Beschimpfungen, Judenwitze und Vernichtungsfantasien treten sowohl an Hauptschulen als auch an Gymnasien auf, hat die Forscherin festgestellt: „Antisemitismus kommt aus jeder Schicht“, sagt sie, „er ist auch in der gesellschaftlichen Mitte sehr verbreitet.“


JULIA BERNSTEIN: MEINE FORSCHUNG

DIE HERAUSFORDERUNG

Eine adäquate Sprache für den Kommunikationspartner im Alltag und in der Lehre zu finden, besonders dann, wenn es um heikle Themen wie Antisemitismus, Stereotypisierung, Ethnisierung oder Ansprache der Abwehr geht.

MEIN BEITRAG

Ich versuche, die Betroffenenperspektive in den Vordergrund zu stellen. Jedes Phänomen durch seine besondere Eigenlogik zu betrachten. Bestimmte befangene Weltbilder als Denkfehler zu thematisieren und zu reflektieren, anstatt die Personen als „verlorene“ Antisemiten festzunageln. In der Lehre versuche ich, einen Raum zu schaffen, in dem man auch über eigene Ängste sprechen und versuchen kann, sich in die Position des anderen einzudenken und nachzufühlen.

DROHENDE GEFAHREN

Bei diesem Thema fällt es besonders stark auf, dass jede Gruppe die am Antisemitismus Schuldigen bei anderen sucht. Niemand möchte eigene antisemitische Anteile hinterfragen.

OFFENE FRAGEN

Was sind die Ausdrucksformen und die Mechanismen von Antisemitismus in der Wahrnehmung der Betroffenen im Vergleich zu Lehrkräften? Inwieweit erkennen Lehrkräfte den auf Israel bezogenen Antisemitismus? Inwiefern unterscheidet sich der Antisemitismus von anderen Diskriminierungsformen? Und das Wichtigste: Wie fördert man effektiv Zivilcourage und Empathie?

MEIN NÄCHSTES PROJEKT

Steht noch nicht fest.

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