Jeder ist sich selbst der Nächste
Statt Solidarität lässt die Corona-Krise egoistisches und antisoziales Verhalten zutage treten. Henning Goersch von der Akkon Hochschule für Humanwissenschaften hat eine Bevölkerungsschutzstudie durchgeführt, die zu diesem Ergebnis kommt. Im Interview nennt er einige der Gründe.
Herr Prof. Goersch, was genau haben Sie in Ihrer Studie abgefragt? Was waren „typische“ Fragen?
Seit 2014 erforsche ich größere Schadensereignisse in Deutschland. Dazu zählen jeweils die Bereiche Betroffenheitsgrad, Risikowahrnehmung, Vorsorge, beobachtete Verhaltensweisen und Beurteilung des Krisenmanagements. Viele dieser Bereiche haben wir nun auch wieder untersucht. Typische Fragen dabei sind zum Beispiel mit entsprechenden Antwortkategorien: Für wie gefährlich halten Sie die aktuelle Ausbreitung des Coronavirus mit all seinen Begleiterscheinungen für sich persönlich? Hatten Sie sich vor der aktuellen Ausbreitung des Coronavirus und unabhängig davon bereits auf eine Pandemie-Situation vorbereitet? Wie bewerten Sie aus Ihrem direkten persönlichen Kontakt mit anderen Menschen heraus die Reaktionen Ihrer Mitmenschen auf die aktuelle Ausbreitung des Coronavirus?
Welche der Antworten haben Sie besonders überrascht?
Der Forschungsstand und meine eigenen fünf Untersuchungen in Deutschland seit 2014 zeigten immer wieder, dass mindestens zwei Drittel, eher drei Viertel der geschilderten Verhaltensweisen prosozial und kooperativ sind. Mein Alltagsgefühl war, dass wir dies auch in der aktuellen Krise so erleben. Nach der Analyse beider Stichproben mit 3000 Personen beziehungsweise 1500 Personen und insgesamt über 7200 geschilderten Verhaltensweisen zeigte sich in beiden Fällen jeweils nahezu eine 50:50-Aufteilung. Das ist kein dramatisch schlechtes Ergebnis, aber es überraschte und beunruhigte mich. Jeglicher Alarmismus liegt mir fern, für mich war das jedoch ein Signal, dass wir da genauer hinsehen müssen.
Eines Ihrer Ergebnisse lautet: 50 Prozent der Menschen in Deutschland reagieren auf die Corona-Krise egoistisch. An welchen Aussagen machen Sie das fest?
Das ist etwas überspitzt formuliert. Genauer muss man sagen: 50 Prozent der Verhaltensweisen sind eher antisozial und egoistisch. Wir unterscheiden allgemein prosoziale und antisoziale Verhaltensweisen. Als Hauptmerkmale haben wir literaturgestützt für das Prosoziale kooperative, altruistische, helfende Verhaltensweisen und für das Antisoziale aggressive, egoistische, sich gegenseitig schädigende Verhaltensweisen definiert. Entsprechend ordnen wir die uns geschilderten Verhaltensweisen einem Bereich zu.
Und in welchen Situationen, bei welchen Belangen ist dieser Egoismus besonders stark ausgeprägt?
Dieser Verhaltensbereich beginnt damit, sich nicht an das Abstandsgebot zu halten, sich weiterhin in Gruppen zu treffen oder Hamsterkäufe zu tätigen und erstreckt sich über Beleidigungen und absichtliches Anhusten bis hin zu körperlichen Auseinandersetzungen beim Streit um Vorräte.
Gibt es hier Unterschiede zum Beispiel im Hinblick auf Alter, Geschlecht, sozialen Status, Herkunftsregion?
Für den aktuellen Zwischenbericht wurde das noch nicht ausgewertet.
Sie sprechen von „egoistischem“ und „antisozialem“ Verhalten. Wo genau sehen Sie den Unterschied?
Es gibt hier keinen Unterschied. Das Antisoziale umfasst unter anderem das Egoistische. Es handelt sich um ein bestimmtes Eigenschaftskontinuum von Verhalten, aufgespannt zwischen zwei Extremen.
Sind die Bewertungen „egoistisch“ und „antisozial“ nicht sehr wertend und sehr subjektiv? Wie können Sie da zu wissenschaftlich fundierten Aussagen kommen?
Die Schwierigkeit der Subjektivität von Begriffen haben grundsätzliche alle Befragungen. Teilweise muss man auch mit wertenden Begriffen arbeiten, um das Ziel einer Frage deutlich zu machen. Wir haben zur Qualitätssicherung mehrere Pretests durchgeführt und greifen auch auf die Erfahrungen aus den fünf früheren Befragungen zurück. Dadurch konnten wir weitgehend davon ausgehen, dass die Fragen in unserem Sinne verstanden werden. Darüber hinaus arbeiten wir viel mit offenen Fragen. Auf diese Weise nutzen wir als weiteren Baustein zum Verständnis der Begriffe die Schilderungen der Befragten.
Wie messen Sie Egoismus und wie antisoziales Verhalten – oder anders gefragt: Derjenige, der massenweise Toilettenpapier hortet, oder diejenige, die ihren Nachbarn, der im Krankenhaus arbeitet, dazu auffordert, solange es Corona gibt doch bitte woanders zu übernachten – sind die egoistisch, antisozial oder einfach nur ein „Idiot“ beziehungsweise eine „Idiotin“?
„Idiot/Idiotin“ ist keine Kategorie, mit der wir arbeiten. Wir stellen uns bei der Kategorisierung jeweils folgende Fragen: Hilft das Verhalten anderen Menschen? Zeugt das Verhalten von Zusammenarbeit, gegenseitiger Unterstützung oder fördert es diese? Zeigt sich, dass Menschen den eigenen Vorteil außer Acht lassen? Wenn keine dieser Fragen mit Ja beantwortet werden kann, liegt das Verhalten eher im antisozialen Bereich. Dieser kann sich auch in Egoismus manifestieren. Um das abschließend zu klären, stellen wir unter anderem folgende Fragen: Schädigt das Verhalten andere oder die Gemeinschaft? Ist das Verhalten aggressiv? Ist das Verhalten geprägt von ausschließlicher Fokussierung auf den eigenen Vorteil? Einige dieser Fragen können in Bezug auf Ihre Beispiele eher mit Ja als mit Nein beantwortet werden.
Warum hatten Sie erwartet, dass die Deutschen weniger egoistisch und sozialer sind?
Der US-amerikanische Forschungsstand seit den 1950er-Jahren und fünf eigene Untersuchungen zeigen dieses Verhältnis sehr deutlich. Es ist weniger eine Frage zwischen früher und heute als vielmehr eine Unterscheidung zwischen Katastrophe und Nicht-Katastrophe. In der Katastrophe sind Menschen allgemein prosozialer, altruistischer. Studien zeigen, dass die meisten Menschen weltweit in Katastrophen von Verwandten, Kollegen und Freunden gerettet werden. So haben beim Anschlag im Bataclan in Paris 2015 viele Menschen ihre Freunde unter Maschinengewehrdauerfeuer aus dem Saal geschleift. Das ist extrem altruistisch.
Die Corona-Krise ist jedoch anders als diese Ereignisse: Das Leid der schwer Erkrankten ist im Alltag nicht wirklich sichtbar. Zudem kann die Mehrheit der Bevölkerung aktuell kaum sinnvolle helfende Handlungen zur Krisenbewältigung beisteuern. Das abendliche Klatschen ist ein Beispiel für diese Hilflosigkeit und quasi ein symbolisch verstärktes prosoziales Verhalten.
Kann man belegen, dass die Deutschen früher weniger egoistisch und viel solidarischer waren?
Mit unseren vorherigen Studien und auch fremden Studien, etwa über das Phänomen der ungebundenen Spontanhelfer, lässt sich zeigen, dass es in früheren Schadenslagen und Katastrophen mehr prosoziales Verhalten bei den Menschen in Deutschland gab.
Ist dieses antisoziale Verhalten angesichts einer existenziellen Bedrohung, wie sie von Corona ausgeht, der Angst geschuldet – also temporär – oder spiegelt es ein viel tiefer liegendes soziales Phänomen wider?
Um die Ergebnisse nochmals einzusortieren: Das 50:50-Verhältnis von prosozialen und antisozialen Verhaltensweisen ist nicht dramatisch schlecht. Es ist lediglich anders als wir dies auf Grundlage vorheriger Erkenntnisse erwartet hatten. Bestimmte Eigenschaften der Krise führen dazu, dass das Prosoziale nicht so sehr zum Vorschein kommen kann. Unsere Grundhypothese ist, dass in Katastrophen durch die Durchbrechung des Alltags die Energie der Menschen auf gemeinschaftliche Schadensbewältigung gerichtet wird. In früheren Untersuchungen wurde uns oft berichtet, dass man sich mit Nachbarn im Alltag nicht grüßt, in der Katastrophe aber harmonisch zusammenarbeitet.
Welche Schlussfolgerungen ziehen Sie daraus?
Für uns heißt dies: Das Prosoziale ist in den Menschen vorhanden, wird jedoch im Alltag, in dem wir viele Verpflichtungen haben, überdeckt. So hasten Menschen dann auf dem Weg zu einem wichtigen Termin manchmal an einem Hilfebedürftigen vorbei.
Welche negativen Konsequenzen kann es haben, wenn die Hälfte der Bevölkerung solche Züge trägt – in der Corona-Krise, aber auch darüber hinaus? Kehren wir zurück zum „Jeder ist sich selbst der Nächste“?
Unmittelbare Konsequenzen ergeben sich für mich daraus nicht, bis auf die Tatsache, dass wir hier genauer hinschauen sollten. Daher führen wir auch weitere Untersuchungen durch beziehungsweise haben ein Panel aus der Online-Befragung rekrutiert, das wir in regelmäßigen Abständen wieder befragen. Dies können wir dank der Unterstützung der Johanniter-Unfall-Hilfe e.V. so realisieren. Wir wollen die Entwicklung im Auge behalten für den Fall, dass die antisozialen Ausprägungen noch stärker werden. Das wäre unter Umständen ein Indikator dafür, dass Kontaktverbote und andere Einschränkungen nochmals kritisch geprüft werden sollten.
Was können, was müssen Politik, Bildung, Gesellschaft dagegen unternehmen? Oder ist das der Preis, den wir für unsere „freiheitliche“ westliche Lebensweise zahlen müssen?
Unsere Alltags-Durchbrechungs-Hypothese gibt hier möglicherweise grundlegende Ansatzpunkte: Vielleicht muss der Alltag, in dem wir oft roboterartig unsere Aufgaben erfüllen, gelegentlich durchbrochen werden, um die Gemeinschaft wieder zu fördern. //
Hennig Goersch
Prof. Dr. Hennig Goersch ist Kommunikations- und Politikwissenschaftler und hat einen Lehrstuhl für Bevölkerungsschutz und Katastrophenmanagement an der Akkon Hochschule für Humanwissenschaften in Berlin inne.
Die Studie
Das Forschungsteam der Akkon Hochschule für Humanwissenschaften hatte Bürgerinnen und Bürger in Deutschland seit dem 20. März aufgerufen, an einer breit angelegten Bevölkerungsstudie der Hochschule für Humanwissenschaften teilzunehmen. Ergänzt wurde diese durch eine in Kooperation mit der Forsa Sozial- und Politikforschung durchgeführte und von der Johanniter-Unfall-Hilfe e. V. geförderte repräsentative Befragung. Mehr als 4.500 Personen haben insgesamt an den Studien teilgenommen, die die Betroffenheit, die Risikowahrnehmung und die Verhaltensweisen der Bevölkerung während der COVID-19-Pandemie untersuchen. Am 9. April startete die zweite Erhebungswelle.
Die Hochschule
Die Akkon Hochschule für Humanwissenschaften in Berlin ist seit 2009 Deutschlands erste Hochschule für Humanwissenschaften. Die staatlich anerkannte private Hochschule bietet interdisziplinäre Studiengänge in den drei für Hilfs- und Krisensituationen relevanten Fachbereichen „Pflege und Medizin“, „Pädagogik und Soziales“ sowie „Humanitäre Hilfe und Bevölkerungsschutz“. Die Studiengänge richten sich überwiegend an Berufstätige und qualifizieren sie akademisch für erweiterte Fach- und Führungspositionen. In der praxisorientierten Lehre und wissenschaftlichen Forschung arbeitet die Akkon Hochschule eng mit nationalen und internationalen sozialen und humanitären Organisationen sowie öffentlichen Institutionen zusammen.
DUZ Magazin 04/2020 vom 24.04.2020