Rückkehr zu alten Mustern
In der Krise zeigt sich, wie sehr die Logiken von Forschung, Politik und Medien divergieren – so Viola van Melis in ihrem Gastkommentar
Für einen Augenblick wirkte es wie eine Sternstunde der Wissenschaftskommunikation: Journalisten bieten Forschern viel Raum und Zeit, so viel, wie es zur Erläuterung komplexer Zusammenhänge aus Virologie oder Epidemiologie angemessen scheint. Die nachrichtliche Weiterverbreitung der Aussagen geschieht erkennbar mit Genauigkeit und Differenziertheit. Politiker treten nicht mehr als entschlossene Entscheider auf, sondern als sukzessiv Handelnde, die die Kriterien und Unsicherheiten ihres Tuns öffentlich reflektieren, sich in Talkshows gar als Lernende zeigen, im Handlungsdruck der Pandemie so sehr auf wissenschaftliche Expertise angewiesen wie wir alle.
Naturwissenschaftler wiederum, mit dem Auftauchen von Corona in Europa besonders in ihren Laboren und an den Rechnern gebraucht, nehmen sich dennoch Zeit, um das bis dahin erarbeitete Wissen über das Virus allgemeinverständlich und keineswegs unterkomplex zu vermitteln – und so den Verantwortlichen in Bund, Ländern und Kommunen sowie einer verunsicherten Bevölkerung Orientierung zu geben und erste Handlungsoptionen aufzuzeigen.
Wenige Wochen später – der Ausnahmezustand hält an, soll nun aber schrittweise aufgehoben werden, die Nerven liegen oft blank – ist eine Rückkehr zu alten Mustern zu erkennen. Die Logiken, denen die gesellschaftlichen Systeme Wissenschaft, Politik und Medien folgen, treffen in ihrer Unterschiedlichkeit so aufeinander, dass auch unerwünschte Effekte entstehen: hier die Nachrichtenlogik der Zuspitzung, dort die Komplexität von Forschungsergebnissen. Hier der Handlungsdruck der Politik, dort die Vorläufigkeit wissenschaftlicher Erkenntnis, die gleichwohl als Entscheidungsgrundlage dient. Damit solche Konflikte in den kommenden Monaten nicht die Suche nach guten Lösungen in der Pandemie beeinträchtigen, ist es angebracht, genauer hinzusehen und Wege der Überbrückung zu suchen.
Lehren lassen sich womöglich aus dem Arbeitsfeld der Wissenschaftskommunikation ziehen, das sich seit Jahrzehnten ins Grenzgebiet zwischen Wissenschaft und anderen Gesellschaftsfeldern begibt, um relevante Forschungserkenntnisse aus den vielen Fachbereichen der Universitäten und Forschungseinrichtungen zu verbreiten und demokratischen Austausch darüber anzuregen. Hilfreich mag sein, dass sich in diesem Forschungstransfer seit gut zwei Jahrzehnten neben den Themen und Formaten auch die Reflexion über dieses Tun ausdifferenziert hat.
Wo also entstehen unerwünschte Effekte zwischen Forschung, Politik und Medien? Vier Punkte seien genannt.
Erstens: Wissenschaftliche Erkenntnisse sind vorläufig und unsicher, auf fachliche Überprüfung und Korrektur ausgelegt. Politik und Medien aber wünschen sich, wohl auch stellvertretend für die Bevölkerung, Sicherheit. Zwar sind die Covid-Forschungsfragen in der öffentlichen Debatte längst auf Anwendbarkeit heruntergebrochen – Kontaktverbot, Handyortung, Maskennutzung, Übertragungswege, Impfstoffe, Medikamente – doch abschließende Aussagen wird auch dazu kein Forscher redlich treffen können.
Entscheider in Politik und anderen Gesellschaftsbereichen werden die Verantwortung für Beschlüsse, die auf unsicherer Grundlage abwägend zu fassen sind, nicht abwälzen können. So betonte schon bald der Berliner Virologe Christian Drosten – der früh auch dadurch auffiel, dass er mediale Logiken öffentlich kritisch mitreflektierte (und sich dennoch als „Medienstar“ wiederfand) –, dass er wissenschaftlicher Berater, nicht Entscheider sein könne. Umso wichtiger erscheint es, politische Gestaltungsmöglichkeiten in der Bevölkerung breiter als bisher zu diskutieren und die Meinungsfindung auch medial zu befördern.
Zweitens: Forschung lebt von der fachlichen Kontroverse, die Wissenschaftler und damit Menschen führen. Was sie sonst zunächst fachintern tun, geschieht derzeit gleich auf offener Medienbühne. Die wissenschaftliche Auseinandersetzung wird hineingezogen in die Logik des Nachrichtenwerts, der hier „Konflikt“ heißt: Drosten aus Berlin versus Kekulé aus Halle, dann auch Streeck aus Bonn in den Hauptrollen; weitere Virologen, gelegentlich Virologinnen, in den Nebenrollen. Fachdebatten über drängende Forschungsfragen werden personalisiert und zum Konflikt stilisiert.
Die handelnden Personen bedienen das Schema wohl ungewollt dadurch, dass sie journalistische Nachfragen zu Einschätzungen von Fachkollegen sachbezogen beantworten. Ratsam erscheint es hingegen, nicht länger indirekt über Interviews zu sprechen, sondern zunächst fachintern, um dann abgestimmt mit sachlich-differenzierender Stellungnahme öffentlich aufzutreten, die auch die Verschiedenheit von Positionen (statt Personen) transparent machen. So sehen es erprobte Verfahren etwa von überinstitutionellen Ethik- und anderen Expertenräten vor.
Drittens: Hier schließt an, dass Forschungserkenntnisse in der Regel so komplex sind wie die Wirklichkeit, die sie abzubilden versuchen. Mediale Vermittlung dagegen verlangt Vereinfachung zwecks Laien-Verständlichkeit und Zuspitzung, um Aufmerksamkeit zu erzeugen.
Verbreitet ist die Auffassung, viele Forschungsthemen seien zu differenziert und voraussetzungsreich, als dass sie in journalistischer Kürze sachgerecht vermittelt werden könnten. Das jedoch ließ sich in Jahrzehnten des universitären Forschungstransfers und qualitätsvollen Wissenschaftsjournalismus widerlegen. Komplexe Erkenntnisse von Relevanz und ihre Methoden konnten vielfach, auch in kurzer Nachrichtenform, differenziert verbreitet und in Debatten eingespeist werden, ohne dass Forschung verfälscht worden wäre. Viele Beispiele zeigen, dass Redaktionen weit mehr an solchen komplexen Stoffen zu transportieren bereit waren, als ihnen mancher in der PR-Branche zugetraut hätte.
Manchen Wissenschaftlern, deren Fach zuvor medial nicht stark nachgefragt war, stellte sich dies als neue Erfahrung dar, die Politiker freilich seit langem mit ihnen teilen und strategisch zu handhaben versuchen. Forscher anderer Fachrichtungen, deren Expertise in vergleichbar heißen Nachrichtenlagen nachgefragt war, kennen indes die Beschleunigung des weltweiten Nachrichtenmarktes: Islamwissenschaftler erlebten sie im Arabischen Frühling, Judaistiker bekommen sie in Fällen von Antisemitismus zu spüren, Extremismusforscher bei Terrorakten, Klima-Experten bei Naturkatastrophen. Manche konzentrieren sich, um nicht mehr für verkürzende Nachrichten und oft auch für politische Strömungen vereinnahmt zu werden, auf längere Formate wie Gastbeiträge, Podcasts oder ausführlichere Radiointerviews.
Es könnte auch den aktuell nachgefragten Forschern dienlich sein, ihre Expertise gezielt in wenigen längeren Beiträgen darzulegen. Weniger empfehlenswert erscheint ihr Bemühen – zumal sie ihre Zeitressourcen jetzt scharf zwischen Forschung, Politikberatung und Medienarbeit aufteilen müssen –, eine Vielzahl an Interview-Anfragen zu beantworten und sich, so redlich dies motiviert sein mag, gar in Social-Media-Diskursen der interessierten und ängstlich-nervösen Öffentlichkeit detailreich zu engagieren.
Hingegen könnten zur Weiterverbreitung und vertiefenden Einordnung von Forschungsinformationen im Druck der Krise weit mehr Wissenschafts- und Fachjournalisten herangezogen werden, deren Ressorts zwar vielerorts gestrichen wurden, die aber als freie Journalisten und über das Science Media Center, unterstützt durch Wissenschaftskommunikatoren aus Universitäten, viel Expertise im Umgang mit komplexen Forschungsquellen anbieten.
Hier kommt, viertens, die Vielzahl an wissenschaftlichen Fächern ins Spiel, die hier bisher nicht genannt sind: Neben den Stimmen der Medizin haben auch solche aus der Ethik, Psychologie, Wirtschafts-, Rechts-, Sozial- oder Geschichtswissenschaft ihre Expertise eingebracht. In Interviews analysieren sie die Lage aus ihrem Fach heraus, deren Fragen und Methoden einer je eigenen Logik folgen. Hier zu übergreifenden Schlüssen zu kommen, ist eine komplexe Aufgabe, die wiederum wissenschaftlicher Methoden bedarf. Politik und Medien allein können diese Aufgabe nicht erfüllen.
Es ist die Stunde des interdisziplinären Arbeitens, das über Jahre in Forschungsverbünden eingeübt wurde und sich auch im Austausch mit der Gesellschaft als fruchtbar erwies: In vielen globalen Problemlagen zeigen sich ethische, wirtschaftliche, politische, rechtliche und soziale Fragen als so verwoben, dass ein Fach allein sie nicht beantworten kann. Ein fächerübergreifendes Herangehen, auch epochen- und kulturübergreifend, weitet den Horizont aktueller Debatten und schafft hilfreiche Distanz.
Die Geisteswissenschaften, spezialisiert auf die Analyse menschlichen Denkens, Handelns und Hervorbringens in Geschichte und Gegenwart, können hier auch eine strukturierende und priorisierende Rolle einnehmen.
Verschiedene Forschergruppen haben der Politik jüngst fachübergreifend entwickelte Handlungsempfehlungen übergeben, die über den Tag hinausgehen. Solch interdisziplinärer Rat wird in den kommenden Monaten vielfach nötig sein. Medien und Politik sollten dieses Orientierungswissen als Grundlage demokratischer Entscheidungsfindung in der Wissenschaft nachfragen.
Viola von Melis
Viola van Melis leitet seit 2009 das Zentrum für Wissenschaftskommunikation am Exzellenzcluster „Religion und Politik“ der Universität Münster und war 2016 an der überinstitutionellen Erarbeitung von „Leitlinien zur guten Wissenschafts-PR“ beteiligt. Zuvor arbeitete sie als Journalistin für Themen aus Politik, Kultur und Wissenschaft.
Der Beitrag erschien zuerst in der Frankfurter Rundschau und im Kölner Stadtanzeiger.