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Ade, monotone Arbeitswelt

Von wegen ein Fluch. Der digitale Wandel birgt viele Chancen für die moderne demokratische Gesellschaft, für Chancengerechtigkeit und Teilhabe, sagt die Philosophin Lisa Herzog. Wie das funktionieren soll, erklärt sie in allgemeinverständlichen Büchern. Dafür erhielt sie gleich zwei Preise.

Als der norwegische Philosophielehrer Jostein Gaarder Anfang der 90er-Jahre die Romanfigur Sofie auf die Suche nach den großen Fragen ihrer nur scheinbar kleinen Welt schickte, tat er das mit einem hehren Ziel: Er wollte die auf den Marktplätzen des antiken Griechenlands entstandene Philosophie zurück in die Öffentlichkeit holen – und das ist ihm geglückt. Millionenfach wurde der Roman gelesen. Auch von einer damals in Bayern lebenden Jugendlichen, der nun, Ende des vergangenen Jahres, die zwei renommiertesten Philosophiepreise im deutschsprachigen Raum verliehen wurden: der „Deutsche Preis für Philosophie und Sozialethik“ sowie der „Tractatus für philosophische Essayistik“ (siehe Kasten S. 42).

Die erfolgreiche bayerische Denkerin  heißt Prof. Dr. Lisa Herzog. Von dem Buch „Sofies Welt“ sagt sie, dass es für sie ein entscheidender Impuls für den Wunsch gewesen sei, Philosophie zu studieren. Mit dem Erschaffer des Werkes teilt sie die Absicht, nach außen zu wirken. Dass ihr das gelingt, zeigt sich auch daran, dass sie die beiden Preise für ihr Eingreifen in Debatten erhalten hat, die sich mit der Zukunft der Gesellschaft befassen. Als „stilsichere Essayistin“ wage die junge Philosophin den „Spagat zwischen akademischer Laufbahn und der Rolle der öffentlichen Intellektuellen“ – so formuliert es die Jury des Deutschen Preises für Philosophie und Sozialethik. Lisa Herzog fordert auch ihre Kollegen dazu auf, sich gesellschaftlich einzumischen: Bei einem Symposium des Bundesforschungsministeriums rief sie den 250 Wissenschaftlern im Raum einmal zu: „Wir wollen nicht Zitationsindizes jagen. Wir wollen einen Beitrag für die Gesellschaft leisten.“

Die 36-jährige Philosophin, die als Politische Philosophin wohl besser beschrieben ist, meldet sich bei Debatten über die künftige Ausrichtung der Grünen ebenso zu Wort wie zum Jubiläum des Deutschen Gewerkschaftsbundes, mit einer Kolumne in der ZEIT ebenso wie in Fernsehen und Rundfunk.

„Ich diskutiere für mein Leben gern“, sagt Lisa Herzog. Im Großen geht es um Freiheit und Gerechtigkeit – und immer wieder um die Frage, inwieweit die Freiheit, die Gesellschaft mitzugestalten, von ökonomischer (Un-)gerechtigkeit mitbestimmt wird. In ihrer Argumentation schwingen immer mit die für ein Land wie Deutschland immens ungleich verteilten Startchancen. Wobei ihr diese so augenfällig sind, dass sie dazu gar nicht erst veröffentlicht: „Ich kenne keinen Gerechtigkeitstheoretiker, der rechtfertigen könnte, dass der Staat nicht für mehr Chancengerechtigkeit in unserem Bildungssystem sorgt. Im Grunde lässt sich dazu nichts Neues mehr schreiben“, sagt sie.

Seit Monaten steht ihr jüngstes Buch „Die Rettung der Arbeit“ im Fokus der gesellschaftlichen Debatte. Viele Menschen fürchten sich vor dem digitalen Wandel der Arbeitswelt und sehen ihn als Fluch. Die Philosophin öffnet den Blick dafür, ihn als Chance hin zu mehr Demokratisierung, Mitgestaltung, Mitbestimmung in Unternehmen und an Arbeitsplätzen wahrzunehmen. Während Roboter und Algorithmen lästige Routineaufgaben übernehmen würden, bleibe mehr Zeit für im Wortsinne menschliche Tätigkeiten, schreibt sie. Geprägt ist das Buch von der Vorstellung, dass Arbeit nicht nur lästige Erledigung von Aufgaben zwecks Entlohnung ist, sondern eine ausgeprägte soziale Dimension hat: „Die mit Arbeit verbundene Anerkennung ist ein wesentlicher Wert, ein enorm verbindendes Moment“, sagt Herzog.

Ihre Sicht auf die Arbeitswelt weist nicht zufällig eine Nähe zu dem Anerkennungskonzept des Sozialphilosophen Prof. Dr. Axel Honneth auf. Mit dem einstigen Direktor des Instituts für Sozialforschung der Universität Frankfurt, der heute Professor für „Humanities“ an der Columbia University in New York ist, gab sie 2014 einen Sammelband als „philosophisch-ökonomischen Diskurs“ über den „Wert des Marktes“ heraus.

Herzog ist überzeugt: In einer demokratisierten Arbeitswelt wäre auch die Verdrossenheit in politischen Fragen geringer: „Wer sich am Arbeitsplatz nicht einbringen kann, nimmt das wahrscheinlich in sein übriges Leben mit.“ Auch zwischen der Stärke populistischer Bewegungen und dem freien Spiel der Märkte sieht sie einen Zusammenhang – und Handlungsbedarf. „Anders als gern kolportiert sind Staat und Markt nicht voneinander getrennt, der eine steuerbar, der andere unsteuerbar“, konstatiert sie, „Märkte und Kapitalismus finden innerhalb von menschengemachten Regeln statt.“ Wie überhaupt die Welt, in der wir leben, mit all ihren Werten, Haltungen und vermeintlichen Zwangsläufigkeiten Ergebnis einer sehr alten Ideengeschichte sei – der Philosophie. „Der Gedanke, das könnte alles toter Geist sein, war mir immer völlig fremd“, sagt die 36-Jährige. „Die Philosophie prägt, wo wir heute stehen. Ich habe all ihre Vertreter immer gelesen unter der Fragestellung ‚Was habt ihr mir heute zu sagen?’. Wer Institutionen dauerhaft verändern will, muss sehen, aufgrund welcher wirkmächtigen und seit Langem tradierten Wertvorstellungen diese so sind, wie so sind.“

Um das Spiel der Märkte zu verstehen, studierte sie neben Philosophie auch Volkswirtschaft. Und verband in ihrer Promotion an der University of Oxford das Denken von Adam Smith, dem schottischen Verfasser des Wohlstands der Nationen, mit dem des deutschen Dialektikers Georg Friedrich Hegel, ohne den Marx kaum denkbar wäre. „Inventing the Market“ heißt ihre Dissertation, die wie die meisten ihrer wissenschaftlichen Arbeiten auf Englisch erschienen ist. „Wer in die internationale Wissenschaft wirken will, kann nicht nur in deutscher Sprache publizieren“, sagt sie.

Mit ihrer Doktorarbeit hat es begonnen, dass sie ihr gesammeltes Wissen in allgemein verständliche Bücher für den deutschen Markt „herunterbricht“, die auch außerhalb der Fachcommunity wahrgenommen werden. „Freiheit gehört nicht nur den Reichen. Plädoyer für einen zeitgemäßen Liberalismus“, heißt das Buch, das in Anlehnung an ihre Dissertation 2014 erschien. Darin beschreibt Herzog einen Liberalismus, der Freiheit und (soziale) Gerechtigkeit zusammendenkt – den „guten, alten Linksliberalismus, der eine Zeitlang ganz aus der Mode gekommen war“, wie sie nicht ohne Ironie anmerkt. Christian Lindner habe, nachdem dessen FDP im Jahr zuvor an der Fünf-Prozent-Hürde gescheitert war, mit Bezug auf ihr Buch erklärt: „... einen Liberalismus links der Mitte machen wir nicht.“ Sie klingt dabei nicht so, als hätte sie diese Aussage sonderlich gestört. Grundsätzlich sei ihr, ergänzt sie, „bei aller Lust auf verschiedene Perspektiven, jene der Arbeitenden wichtiger als die der Kapitaleigentümer“.

Herzogs Habilitation widmete sich der Frage von Ethik und Organisationen. Ihr folgte das Buch „Die Rettung der Arbeit“. Es legt, erklärt sie, „den Fokus auf Moral und fragt: Wie können wir verhindern, dass, wenn Individuen in Organisationen arbeiten, moralische Katastrophen passieren – wie etwa in der Finanzkrise“. Von dieser Krise hatte sie übrigens auch erwartet, „nein, sogar regelrecht erhofft“, dass sie auch die rein auf Wachstum setzende ökonomische Lehre an den Hochschulen ändern würde. „Leider“, wie sie feststellen musste, „weitgehend vergeblich.“

Die Stationen der Philosophie waren Herzog immer näher als die der Ökonomik, sagt sie. Im Oktober 2019 beendete sie ihre Suche nach einer Dauerstelle – sie forscht jetzt in den Niederlanden, am Centre for Philosophy, Politics and Economics der Universität Groningen. „Ein wunderbarer Ort, mit an Forschung und Philosophie enorm interessierten Menschen“, sagt sie. Zuvor hatte Herzog eine Tenure-Track-Professur an der zur TU München gehörenden Hochschule für Politik inne. Als eine ihrer letzten Handlungen dort verfasste sie eine E-Mail an den damaligen Präsidenten Prof. Dr. Wolfgang Herrmann, die, wie sie findet, „auch gut Kolleginnen und Kollegen mit Dauerstellen hätten schreiben können“.  Darin protestierte sie dagegen, dass die TU München ausgerechnet mithilfe einer 6,5-Millionen-Euro-Spende von Facebook ein Institut für Ethik in der Künstlichen Intelligenz einrichtet.

Herzog: „Das ist das Verständnis von Ethik einer der renommiertesten Universitäten Deutschlands?  Ohne mich!“ Das sie wenig später erreichende Angebot aus Friesland kam ihr dann sehr gelegen.  //

1. Die Herausforderung:

Wie kann eine moderne Gesellschaft so gestaltet werden, dass alle Mitglieder ein selbstbestimmtes Leben führen können – nach den Prinzipien von Gerechtigkeit, Demokratie und Nachhaltigkeit?

2. Mein Beitrag:

Die konzeptionellen und argumentativen Grundlagen erforschen, aber auch nach Möglichkeiten der institutionellen Umsetzung fragen. Dazu gehört auch, die vorherrschenden Narrative und ihre ideengeschichtlichen Hintergründe besser zu verstehen und ihre Grenzen und blinden Flecken aufzuzeigen.

3. Drohende Gefahren:

Die immer stärkere gesellschaftliche Spaltung und der Verlust des Vertrauens in demokratische Institutionen.

4. Offene Fragen: 

Derzeit treibt mich stark die Frage um, wie eine stärkere Orientierung von Institutionen an den Werten und Funktionen, die sie verwirklichen wollen und sollen, erreicht werden kann. Oder im Fachjargon: Wie könnte ein demokratischer „Funktionalismus“ aussehen?

5. Mein nächstes Projekt:

Wie können wir besser mit der Spannung zwischen demokratischer Gleichheit und unterschiedlichen Formen von Expertise umgehen? Einerseits wollen wir uns als Bürger*innen auf Augenhöhe begegnen, andererseits weiß der Klimaexperte mehr über Klimawandel als der Laie, die Ärztin mehr über Gesundheitsprobleme als der Patient. Wie können wir differenziertes Wissen ernst nehmen, ohne in technokratisches Denken zu verfallen?


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