Über Ländergrenzen hinweg
Haben Staaten das Recht, Geflüchtete auszuschließen, um ihre eigene Identität zu bewahren? Wozu sind sie moralisch verpflichtet? Das ergründet der Philosoph Matthias Hoesch von der Uni Münster, um Thesen und Dogmen der Flüchtlingsdebatte zu erschüttern.
Dr. Matthias Hoesch wählt ein moralisch eindeutiges Beispiel, um die Lage zu erklären: Wer an einem See vorübergeht und bemerkt, dass jemand zu ertrinken droht, ist zur Hilfe verpflichtet. Auch dann, wenn er dabei eine Erkältung riskiert. Auf die Situation der Flüchtlinge übertragen bedeutet das für ihn: „Wir Europäer müssen Flüchtende aufnehmen.“ Der Philosoph betrachtet dabei die gängige Unterscheidung zwischen politisch Verfolgten und Armutsflüchtlingen aus einer anderen Perspektive. Es gehe darum, ob menschliche Grundbedürfnisse akut bedroht sind.
Wenn man sich an diesem Grundsatz orientiere, müsse man auch Klimaflüchtlingen Asyl zugestehen, argumentiert Hoesch. Im Prinzip gelte dies auch für Armutsflüchtlinge, wenngleich Hungersnöte besser vor Ort bekämpft werden sollten. Das globale Handels- und Finanzsystem müsse reformiert werden, Entwicklungshilfe könne Unterstützung leisten. Weil diese Maßnahmen erst langfristig greifen, müsse die Gesellschaft auch Menschen aufnehmen, die in ihrer Heimat in massiver Armut leben.
„Potenzielle Aufnahmeländer müssen alle Zuwanderungswilligen aufnehmen, die in ihrem Herkunftsland unverschuldet ihre Grundbedürfnisse nicht befriedigen können und denen vor Ort entweder nicht geholfen werden kann oder faktisch nicht geholfen wird“, fasst Hoesch zusammen.
Der 34-Jährige, der Philosophie, öffentliches Recht und katholische Theologie in Münster und Salamanca studiert hat, beschäftigt sich seit Jahren mit dem Thema. 2016 wurde sein Essay zur Preisfrage der Gesellschaft für analytische Philosophie (GAP) – „Welche und wie viele Flüchtlinge sollen wir aufnehmen?“ – mit dem ersten Preis ausgezeichnet. Drei Jahre vertrat Hoesch die Professur am Philosophischen Seminar der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster. Jetzt habilitiert er sich über Migrationsethik an der Uni Münster, wo er politische Philosophie lehrt und Projektleiter am Exzellenzcluster „Religion und Politik. Dynamiken von Tradition und Innovation“ ist. In seinem Teilprojekt geht es auch um die Frage, ob Staaten das Recht haben, potenzielle Migranten auszuschließen, um ihre eigene kulturelle und religiöse Identität zu bewahren.
Mitschuld an der Situation
Die Verantwortung gegenüber Flüchtlingen ergibt sich nach Hoeschs Überzeugung auch aus dem Prinzip der territorialen Gerechtigkeit. Schließlich werde die Erde von Menschen einfach vorgefunden. Niemand könne ein besonderes moralisches Recht auf sie beanspruchen. Wenn Staaten dies durch ihre Grenzen dennoch tun, sei dies moralisch nur dann zu rechtfertigen, wenn für die Ausgeschlossenen noch genügend bewohnbarer Platz übrig bleibe. Dazu komme, dass die Zielstaaten eine Mitschuld an der Situation der Flüchtlinge tragen – etwa durch überdurchschnittlich hohen Kohlendioxid-Verbrauch, allzu interessenorientierte Außenpolitik, Waffenhandel und ein Wirtschaftssystem, das zur Entstehung von massiver Armut beitrage.
„Die Philosophie versucht, unabhängig vom politischen Alltag Vorschläge zu unterbreiten, die auf einem in sich widerspruchsfreien System von moralischen Argumenten basieren“, erläutert der Philosoph. Dabei handele es sich eher um Grundlagenforschung für die Politik. „Rezepte“ könne er auch nicht anbieten.
Trotzdem weist Hoesch auf Themen hin, bei denen die aktuelle politische Argumentation hakt, und macht durchaus konkrete Vorschläge. So hält er die Diskussion über Obergrenzen für Geflüchtete für unnötig. Stattdessen sollte man eine Debatte über eine Untergrenze führen. Wie viele Menschen wollen wir als Beitrag zur Bewältigung des Flüchtlingsdramas aufnehmen? Das könnten zum Beispiel 300 000 Geflüchtete sein. Zunächst sollten diejenigen aufgenommen werden, die von sich aus nach Deutschland kommen. Dann könnte man Menschen aus dem Resettlement-Programm des Flüchtlingshilfswerks der Vereinten Nationen UNHCR aufnehmen, das weltweit viele Flüchtlingslager betreut und besonders schutzbedürftige Menschen umsiedelt. Das hätte außerdem den Vorteil, dass diese nicht jahrelang auf ihre Asylentscheidung warten müssten. Sie wären bereits bei der Einreise anerkannte Geflüchtete.
Und wann darf ein Staat sagen, dass er genügend Flüchtlinge aufgenommen hat? „Wenn er seinen Teil zur Gerechtigkeit beigetragen hat“, sagt Hoesch, also zumindest so viele Flüchtlinge aufgenommen hat, wie er aufnehmen würde, wenn es ein internationales oder europäisches Verteilsystem gäbe. Dass dieser Vorschlag Schwierigkeiten birgt, weil angesichts der aktuellen Situation jeder Staat selbst eine solche – dann natürlich ungenaue – Schätzung machen müsste, ist Hoesch klar. Nach seiner Überzeugung fehlt es aber viel mehr an der Bereitschaft der Staaten, den „fairen Anteil“ überhaupt zu berechnen. Auch Deutschland sei verpflichtet, sich stärker zu engagieren. Zurzeit liege die Hauptlast nach wie vor bei Ländern wie der Türkei, dem Libanon, Jordanien, Uganda, Äthiopien, dem Sudan, Pakistan und Bangladesch
Moralische Katastrophe im Mittelmeer
Als „moralische Katastrophe“ bezeichnet Hoesch die Situation im Mittelmeer, wo allein 2018 mehr als 2200 Flüchtlinge ertranken. Trotzdem debattieren europäische Politiker weiter über die Frage, wie man die Außengrenzen der Europäischen Union noch unüberwindbarer machen kann: „Wir zwingen Geflüchtete dazu, gefährliche Fluchtrouten zu wählen“, sagt Hoesch. Und das trotz vieler Berichte über Schlepperbanden, Vergewaltigungen und Todesfälle.
Selbstverständlich hätten Länder wie Italien und Malta eine „klare moralische Pflicht“, Rettungsschiffe anlegen zu lassen, die wochenlang vor ihren Küsten treiben. Andererseits sei die Dublin-Verordnung, nach der Flüchtlinge von dem Staat aufzunehmen sind, den sie bei der Einreise in die EU zuerst betreten haben, sehr ungerecht. „Wir könnten Italien doch ein Angebot machen“, sagt Hoesch: Wenn Italien die Seenotretter einlaufen lässt, verzichtet Deutschland auf die Rückführungen nach Italien. In der Summe müsste Italien dann weniger Geflüchtete aufnehmen.
Den rund 68,5 Millionen Flüchtlingen weltweit (UNO, Mitte 2018) stünden potenzielle Aufnahmeländer mit mehreren Milliarden Einwohnern gegenüber, sagt Hoesch. Wenn sie sich gemeinsam des Flüchtlingsproblems annehmen, „riskieren die rettenden Länder, um im Bild des Retters eines Ertrinkenden zu bleiben, allenfalls eine leichte Erkältung“. //
Mehr dazu
Der Exzellenzcluster Religion und Politik an der WWU Münster:
www.uni-muenster.de/Religion-und-Politik
MEINE FORSCHUNG
DIE HERAUSFORDERUNG:
Weltweit verlassen Millionen von Menschen ihre Heimat und suchen Schutz in anderen Ländern. Während so gut wie alle Staaten das Recht Geflüchteter anerkennen, eine neue Heimat zu finden, versuchen die meisten Staaten zugleich zu verhindern, sich selbst daran zu beteiligen.
MEIN BEITRAG:
Ich versuche Gerechtigkeitsprinzipien zu formulieren, die einen Ausgleich schaffen zwischen dem Anliegen der Staaten, eine faire Verteilung der Lasten zu erreichen, die mit der Aufnahme von Geflüchteten verbunden sind, und dem Anspruch der Geflüchteten auf Schutz ihrer Grundrechte. Dabei beziehe ich den Umstand mit ein, dass viele Staaten faktisch keinen angemessenen Flüchtlingsschutz leisten.
DROHENDE GEFAHREN:
Wenn nicht unvoreingenommen über diese Frage diskutiert wird, setzt sich in der Regel das durch, was den Entscheidungsträgern am wenigsten abverlangt – auch wenn diese Lösung anderen gegenüber höchst unfair ist.
OFFENE FRAGEN:
Um die Gerechtigkeitsprinzipien für die Politikberatung nutzbar zu machen, sind die Erkenntnisse der empirischen Wissenschaften noch viel stärker einzubeziehen.
MEIN NÄCHSTES PROJEKT:
Hat ein Staat Immigranten ein Bleiberecht erteilt, stellt sich die Frage, was die Aufnahmegesellschaft den Einwanderern abverlangen darf: Gibt es etwa eine moralische Pflicht zur Integration, und sind Staaten berechtigt, Sanktionen zu erlassen, wenn die Immigranten den vermeintlichen Integrationspflichten nicht nachkommen?
DUZ Magazin 06/2019 vom 21.06.2019