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Streitaxt statt Florett

Die Lungenärzte-Affäre hat die Glaubwürdigkeit der Wissenschaft attackiert. Es ist Zeit, sich dagegen zu wehren.

Es genügte ein pensionierter Lungenarzt in Schmallenberg im Hochsauerland, der ein formloses zweiseitiges Papier aufsetzte, in dem er die in Jahren gewachsene weltweite Forschung über Grenzwerte für Stickoxide und Feinstaub keck als Blödsinn deklarierte – und in Windeseile verschaffte eine Allianz aus fachfremden Akteuren dem Rentner und seinen inzwischen widerlegten Thesen internationale Sichtbarkeit: von Expertise unbelastete Massenmedien, ein populistisch agierender Bundesverkehrsminister sowie eine zerstrittene Öffentlichkeit, die in der endlosen Diesel- und Grenzwertedebatte längst nicht mehr weiß, wem sie noch trauen kann.

Und die Wissenschaft? Ausgerechnet sie blieb eine Woche lang stumm. So lange dauerte es, bis das hauptsächlich betroffene Helmholtz-Zentrum in München ein dürres Statement plus drei externe Links hervorbrachte. Nicht mal die Zentrale der Helmholtz-Gemeinschaft in Berlin mochte den in Not geratenen Kolleginnen und Kollegen zur Seite springen, um Ansehen zu retten. Solidaritätsadressen von anderen großen Wissenschaftsorganisationen? Fehlanzeige. Während Tag für Tag die Glaubwürdigkeit und Deutungskompetenz der Wissenschaft von Kreisen zerrupft wurden, die vielfach variierende Eigeninteressen verfolgten, blieben die Repräsentantinnen und Repräsentanten des Wissenschaftssystems in der Deckung. Und ihre PR-Abteilungen auch. Sie überließen es einem Journalisten der taz, eklatante Rechenfehler in den Argumenten des Lungenarztes Köhler nachzuweisen.

Die Paralyse hat eine Ursache: Der Wissenschaft fehlt es an einem Plan, wie sie ihre Werte und bewährten Erkenntnisprozesse verteidigen will, sobald diese in einer kontrafaktisch geführten, viral beschleunigten und häufig emotional zugespitzten Diskussion herausgefordert werden. Es fehlt ihr an Entschlossenheit, sich in Debatten einzubringen, die man bisher mit spitzen Fingern der Sphäre des Politischen überantwortet hat.

Zwar heißt es, Wissenschaft liefere der Politik Vorschläge; was die daraus mache, sei ihre Sache. Doch diese Zweiteilung der Welt war schon immer eine Illusion. Wissenschaft ist niemals unpolitisch gewesen. Für die Zukunft könnte ihre als standesgemäß missverstandene Zurückhaltung sogar fatale Folgen haben – wenn wie in der Causa Köhler & Co. Wissenschaft als Spielmaterial missbraucht wird, um Verhalten und Einstellung der Bevölkerung in gewünschte Richtungen zu lenken.

Hausaufgabe: Krisenkonzept

Das ausstehende Krisenkonzept zu entwickeln, gemeinsam mit Forscherinnen und Forschern, ist aus handwerklicher Perspektive betrachtet eine Aufgabe für uns, die wir in der Wissenschafts-PR tätig sind. Doch erfolgreich werden wir nur sein, wenn die Entscheider und Gestalter des Wissenschaftssystems den Haltungs- und Bewusstseinswandel mit Nachdruck mittragen. Dazu gehört:

  • Die Öffentlichkeit wird Wissenschaftskommunikation nur dann als vertrauenswürdig wahrnehmen, wenn das System selbst sie rückhaltlos in die Gesellschaft hineinträgt, wenn sie kommunizierende Forscherinnen und Forscher wertschätzt, ermutigt und die Verantwortung dafür nicht allein an die PR-Profis auslagert.
  • Wissenschaft sollte den sprichwörtlichen „Dialog auf Augenhöhe“ nicht bloß simulieren, weil er politisch gewünscht wird, sondern die Fragen der Gesellschaft aufrichtig ernst nehmen und bei der Entwicklung großer Forschungs-Agenden nachvollziehbar einfließen lassen – gewiss ein kräftezehrender Prozess, der vielleicht gerade deshalb in Deutschland bisher nur in Ansätzen gelungen ist.
  • Wissenschafts-PR sollte nicht mehr vor allem auf Imagewerbung und Markenbildung reduziert betrachtet werden. Bei der reflexiven und strategischen Durchdringung künftiger Krisenherde sind die Kolleginnen und Kollegen schon viel weiter, als es die Leitungsebenen der Universitäten und Forschungseinrichtungen wahrnehmen (wollen).

Als ein Beleg für diese reduzierte Kompetenzzumessung seien die „Leitlinien für gute Wissenschafts-PR“ angeführt, die 2016 von einem überinstitutionellen Kreis von Akteuren der Wissenschaftskommunikation entwickelt wurden. Das Papier enthält Empfehlungen, Kriterien und eine Checkliste für die Interaktion mit der Öffentlichkeit. Ihr wollten die Verfasser – der Autor dieses Beitrags zählt zu ihnen – mit einer Wissenschaftskommunikation entgegenkommen, die Möglichkeiten und Grenzen von Forschung ehrlich aufzeigt und erklärt, wie Wissenschaft arbeitet und dass „Wahrheit“ flüchtig ist, weil schon morgen eine neue Erkenntnis die vorherige erweitert.

Kein Interesse bei Leitungen

Das Problem: Das Papier interessiert die Leitungsebenen im Wissenschaftssystem nicht. Die Hochschulrektorenkonferenz (HRK) etwa mochte es den Universitätspräsidien nicht weiterempfehlen, weil, so der damalige HRK-Präsident Prof. Dr. Horst Hippler, „Leitlinien und Checkliste weit über das Thema Kommunikation hinausreichende Aussagen treffen, etwa zur guten wissenschaftlichen Praxis und zur Transparenz von Forschungskooperationen“. Mit anderen Worten: Die Wissenschafts-PR hatte sich hier gedanklich in Sphären emporgeschwungen, wo sie nach Ansicht der HRK nichts verloren hat. Zurechtweisung statt Dialog. Warum?

Auch die jährlichen Impulse des „Siggener Kreises“, ebenfalls ein institutionenund akteursübergreifendes Konzeptlabor, finden so gut wie nie den Weg von der Kommunikatoren- auf die Leitungsebene. Dabei liest sich das jüngste Papier vom Januar 2019 wie eine Prophezeiung dessen, was kurz danach in der Lungenärzte-Affäre tatsächlich schiefgelaufen ist: „Die extreme Beschleunigung und Viralität im heutigen Medienalltag verkürzen die Zeitfenster und Aufmerksamkeitsspannen der Rezipienten. Den auf Genauigkeit und Abstimmung basierenden Wissenschaftsbetrieb stellt dies vor enorme Herausforderungen. Gerade auch Krisenthemen werden von der Wissenschaft häufig viel zu langsam und zu lückenhaft angegangen.“
Der Siggener Kreis empfiehlt „die Etablierung einer Task-Force, die bei akuten Krisen oder Desinformationskampagnen bzw. Fake News die Wissenschaftseinrichtungen dabei unterstützt, ihre viel zu langen Reaktionszeiten zu verringern und schneller durch sprechfähige Vertreterinnen und Vertreter des Wissenschaftssystems im öffentlichen Diskurs vertreten zu sein“.

Die Kanzlerin höchstpersönlich hat die Leopoldina gebeten, den Experten-Streit um das Köhler-Papier und die Rolle der Wissenschaft aufzuarbeiten – eine große Chance, um den überfälligen Haltungswandel strategisch anzugehen. Mit gutem Beispiel vorangegangen sind bereits viele Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, die bei den Klimaschutzprotesten der Jugendlichen mitmarschiert sind und die Petition #Scientists4Future unterzeichnet haben. Auch der „March for Science“, von dem man seit seiner furiosen Premiere 2017 nichts mehr hört, böte die Chance, in der Öffentlichkeit Position zu beziehen. So bleibt offen, welche Lehre das Wissenschaftssystem aus dem Lungenärzte-Debakel ziehen wird. Eines zumindest scheint mir gewiss: Im Kampf um Deutungshoheit lässt sich mit dem Florett heute nur noch wenig gewinnen. Dafür muss man, wenn die Bedrängnis dazu zwingt, auch mal die Streitaxt schwingen. //

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