"Eindeutigkeit gibt es nicht"
Wer Entscheidungen trifft, braucht auch eine gute Portion Nichtwissen, sagt Armin Nassehi. Was er darunter versteht und warum darin gerade für Führungskräfte eine Chance besteht, erklärt der Soziologe im duz-Interview.
duz: Herr Nassehi, ist es Ihnen peinlich, etwas nicht zu wissen?
Nassehi: Das ist mir natürlich bisweilen peinlich. Etwas nicht zu wissen ist ja kein Wert. Jeder, der Entscheidungen fällt, braucht aber ein gewisses Potenzial an Nichtwissen, da jede Entscheidung einen Aspekt von Unwissenheit und Uneindeutigkeit enthält. Denn wüsste ich genau, was zu tun ist, müsste ich nicht entscheiden. Um diese Einschränkung der eigenen Perspektive sollte man wissen.
duz: Potenzial an Nichtwissen heißt ...
Nassehi: ... dass man ins Kalkül zieht, dass jede Entscheidung von einem gewissen Maß an Unsicherheit und Nichtwissen abhängt und dass man sein Nichtwissen nicht kaschiert, um eine Eindeutigkeit zu simulieren, die es so nicht gibt.
duz: Für wen ist das interessant?
Nassehi: Für Entscheider in Unternehmen. Ich arbeite mit Ministerien, der bayerischen Staatskanzlei und Hochschulen zusammen. Überall, wo wichtige Entscheidungen zu fällen sind.
duz: Wissen wir heute wesentlich mehr als früher?
Nassehi: Wir haben ein weit größeres Spektrum an Wissen. Das führt auch zu konkurrierendem Wissen, zu Uneindeutigkeit und Unsicherheit. Aber gerade das macht Wissenschaft ja aus: die Kompetenz, Wissen in Frage zu stellen und Alternativen zu suchen. Mehr zu wissen ist immer ein Gewinn, auch wenn es das Entscheiden nicht leichter macht.
duz: Kann man auch zu viel wissen?
Nassehi: Es gibt Unternehmen, die verschwinden vom Markt, weil sie zu viel im Sinne von zu genau wissen und aus ihren Denkroutinen nicht ausbrechen. Nicht nur wer Neues schafft, muss sich entscheiden, sondern auch, wer auf Gewohntes setzt. Entscheidungen sind keine Option, man muss sie fällen oder sie werden einem zugerechnet. Immer sind sie ein Risiko, im Negativen wie im Positiven.
duz: Kann man überhaupt völlig richtige Entscheidung treffen?
Nassehi: Früher hatten Führungskräfte eindeutige Entscheidungsalgorithmen, nach denen sie handelten. Wissen wurde als eindeutig proklamiert, abweichendes Wissen bekämpft und Entscheidungen per Befehl und Gehorsam durchgesetzt.
duz: Und heute?
Nassehi: Ist keine Richtung mehr vorgegeben. Wohin es geht, hängt vor allem vom Entscheider ab. Der kommt aber nur voran, wenn er seine Mitarbeiter mitnimmt. Vorgesetzte müssen überzeugen und gut begründen können, warum sie das Hochschulinstitut in einer gewissen Weise aufstellen, Schwerpunkte so und nicht anders setzen, hier investieren und nicht dort. Und sie müssen eingestehen, dass sie nicht in letzter Eindeutigkeit wissen, ob ihre Variante Erfolg haben wird. Aber sie müssen glaubhaft machen, dass entschieden werden muss.
duz: Kann man Entscheidungen beschleunigen?
Nassehi: Künstlich gesetzte Zeitpunkte führen dazu, Entscheidungen zu treffen. Sie simulieren Eindeutigkeit und die Notwendigkeit, sich genau jetzt entscheiden zu müssen, für den Ehepartner, das Auto, die Beteiligung an der Exzellenzinitiative. Wir haben dafür sogar Kulturtechniken entwickelt, unterschreiben Verträge, veranstalten Konferenzen oder schwören uns Verlässlichkeit. Faktische Notwendigkeiten liegen solchen Stichdaten meist nicht zugrunde, aber soziale.
Armin Nassehi ist Soziologe und seit 13 Jahren Professor an der Ludwig-Maximilians-Universität München.
E-Mail: Armin.Nassehi@soziologie.uni-muenchen.de
DUZ Europa 01/2012 vom 10.02.2012