Bringen statt holen
Ohne eine Deutsche Transfergemeinschaft wird die Operation „Innovative Hochschule“ ins Leere laufen.
Ein Gastbeitrag von Hans-Hennig von Grünberg.
Wer wissen will, was Universitäten einmal waren, der lese das Buch „Theorie der Unbildung“ von Konrad Liessmann. Universitäten, so Liessmann, fußten auf „einem Konzept von Wissenschaft, das diese aus allen politischen, religiösen und merkantilen Bindungen befreien wollte“. Die Idee: Überlasse die Forschung ihrer eigenen Logik, erlaube es ihr, auf nichts Rücksicht zu nehmen, und gewinne so einen „Garanten für den zivilisatorischen Fortschritt“. Die „bedingungslose Wissenschaft war Inhalt und Fundament der Universitäten“.
Eine solche „bedingungslose Wissenschaft“ hat es heutzutage schwer. Sie wird zunehmend als selbstreferenziell wahrgenommen, verliert damit an öffentlicher Aufmerksamkeit und infolgedessen vor allem: öffentliche Fördergelder. Denn die Ansprüche haben sich in den letzten Jahrzehnten erheblich verändert: Immer häufiger wird von wissenschaftlichen Fragestellungen eine nachweisbare Relevanz erwartet. Neben der Generierung neuen Wissens (Forschung) und der Weitergabe dieses Wissens an die nächste Generation (Lehre) tritt als dritte Leistungsdimension einer Hochschule der Transfer, also die Erwartung an die Hochschule, dass die Ergebnisse ihrer Wissenschaft für die Gesellschaft und Wirtschaft auch unmittelbar nutzbar gemacht werden. Dies wird so festgestellt in den Wissenschaftsrats-Empfehlungen „Perspektiven des deutschen Wissenschaftssystems“ vom Sommer 2013 – die Geburtsstunde eines Transferbegriffs, der in den Hochschulen eigenständig, gleichrangig und gleichwertig neben die klassischen Leistungsdimensionen Forschung und Lehre tritt. Es stellt aber das oben erwähnte bindungsfreie Konzept von Wissenschaft völlig infrage: Denn die in dem Transferbegriff implizit angelegten Nützlichkeitserwartungen lassen es ja gerade nicht zu, dass die Wissenschaft allein „ihrer eigenen Logik folgen“ darf.
Transfer als dritte Leistungsdimension
Insofern ist der Transfer und die Forderung nach Nutzbarmachung wissenschaftlicher Ergebnisse mehr als nur eine kleinere, kosmetische Änderung unseres Hochschulsystems. Dass Hochschulen hier derart konsequent in die Pflicht genommen werden, hat etwas Revolutionäres. Diese Revolution muss sich irgendwann zwischen 2010 und 2013 ereignet haben. Denn noch 2010 empfahl der Wissenschaftsrat in seiner „Empfehlung zur Differenzierung der Hochschulen“ dem Hochschulsystem „ein Differenzierungsmuster, in dem die einzelnen Hochschulen unterschiedliche Leistungsdimensionen wie die Lehrqualität, den Wissenstransfer, die Weiterbildung, eine höhere Bildungsbeteiligung etc. als Schwerpunkte ihres Profils wählen“. Hier war der Transfer noch einer von vielen Begriffen und von eher untergeordneter Bedeutung.
Die Leistungsdimension Transfer, so ein Definitionsversuch des Wissenschaftsrates 2013, „bezieht in einem breiteren Sinne die dialogische Vermittlung und Übertragung wissenschaftlicher Erkenntnisse aus allen Wissenschaftsbereichen in Gesellschaft, Kultur, Wirtschaft und Politik ein“. Um es mit Beispielen aus dem Alltag einer Hochschule zu illustrieren: Das reicht von marktnahen Innovationen (Wie präpariert man Stoffe so, dass sie zu selbstleuchtenden Textilien werden?), von der technischen Lösung eines praktischen Problems (Wie muss ein Tank beschichtet sein, damit die Korrosion minimiert wird?) über Weiterbildungsangebote (Zertifikatskurse zum Thema 4.0 für die Baubranche) und größere Beratungsprojekte (Wie kann ein Mittelständler die RFID-Technik in seinem Unternehmen anwenden?) bis hin zu komplexen Verbundprojekten, die auf der Zusammenarbeit von Hochschulen mit großen Gruppen von Unternehmen beruhen (Wie funktionalisiert man Oberflächen?).
Wesentliches Merkmal des Transfers ist also seine Brückenfunktion zwischen zwei Welten; der Welt des „Woher“, also des Ortes, wo das Wissen entsteht, und der Welt des „Wohin“, jenes Ortes, wo das Wissen genutzt wird. Natürlich hat der Transfer zwischen Wissenschaft und Wirtschaft eine jahrzehntelange Vorgeschichte und wurde schon praktiziert, bevor er zur dritten Pflicht einer Hochschule gekürt wurde. Aber wenn in der Republik gefragt wird, wie man die Nutzbarmachung wissenschaftlicher Ergebnisse für die Wirtschaft fördern könne, wird eher nicht die Welt des „Woher“, sondern mit Vorliebe die des „Wohin“ in Betracht gezogen. Finanziert von Kommunen, Industrie- und Handelskammern und Wirtschaftsministerien wurde ein riesenhaftes System zur Förderung von Innovationen in der mittelständischen Wirtschaft aufgebaut: Innovationslotsen, Innovationszentren, Innovationsagenturen, Wirtschaftsfördergesellschaften, das ZIM-Programm und was nicht alles. Ungezählt die Versuche, Innovationen aus der Welt der Wissenschaft in die Unternehmen hereinzuholen.
Die Bringschuld liegt beim Erfinder
Dabei können doch Innovationsideen immer besser gebracht als geholt werden. Wie soll der, der später den Nutzen von einer innovativen Idee hat, vorab wissen, was ihm Neues bis dato gefehlt hat? Sicherlich ist der Transfer- wie der Innovationsprozess seiner Natur nach dialogisch und sicherlich können die Tüftler, Erfinder, Forscher und Entwicklungsingenieure immer voneinander lernen. Doch ist das Neue immer nur seinem Erfinder, nicht aber dem späteren Nutzer bekannt. Das bedeutet, dass Erfindungen in erster Linie von der Institution des Erfinders zu verbreiten und zu vertreiben sind, also in die Welt gebracht und nicht geholt werden. Dass also der Transfer wesentlich zu organisieren ist in der Welt des „Woher“ und dass er auch in dieser Welt zu fördern ist.
Das wiederum bedeutet: Statt Wirtschaftsministerien sollten Wissenschaftsministerien den Transfer fördern. Statt Wirtschaftsförderern sollten Transferstellen an Hochschulen den Transfer organisieren. Transferstellen, die Entwicklungsforschung anstoßen und koordinieren, Konsortien aus Forschern und Mittelständlern zusammenstellen, Förderanträge koordinieren, schreiben und abwickeln. Transferstellen, die die wahren Ideenquellen der Hochschule lokalisieren und deswegen in der Welt da draußen weit besser vertreiben können, als es jeder Wirtschaftsförderer kann. Dass man dort, wo innovative Ideen entstehen, auch deren Vertrieb ansiedelt: Darin liegt die große Wirkmächtigkeit des neuen Paradigmas, den Transfer als wesentliche Pflicht und Bringschuld einer Hochschule aufzufassen.
Spezifischer Auftrag für Fachhochschulen
Für die Fachhochschulen beziehungsweise Hochschulen für angewandte Wissenschaften ist die neue Wertschätzung des Transfers von ganz besonderer Bedeutung. Denn mit dem Transfer bekommen sie ihren eigenen, typenspezifischen Auftrag. Wie sich der junge Mensch bei Humboldt durch die aktive Teilhabe an der Forschung bildet, so wird er an einer modernen Fachhochschule für seine berufliche Tätigkeit akademisch ausgebildet, indem er teilnimmt an einem der vielen Transferprozesse aus der Hochschule hinein in die Wirtschaft, Gesellschaft oder Politik. Was in dem universitären Modell Bildung und Forschung sind, sind in dem fachhochschulischen die akademische Ausbildung und der Transfer. Erkenntnisorientierte Forschung hier, anwendungsorientierte dort. Also: Hochschulen für angewandte Wissenschaften sind regionale Zentren einer entwicklungs- und transferorientierten Forschung. Damit sind sie Treiber und Multiplikatoren in unserer Wissensgesellschaft und sorgen dafür, dass wissenschaftliche Ergebnisse in die Fläche gebracht werden.
Wir haben 218 Fachhochschulen im Land, viele mit mehreren Standorten. Schätzungen zufolge dürften es mehr als 400 Standorte sein. Teilt man die Fläche der Republik durch diese Zahl, so ermittelt man einen mittleren Abstand von nur 30 Kilometern zwischen zwei solchen Standorten. Keine andere akademische Institution ist so fein über die Republik verteilt, reicht so tief hinein in die vom Mittelstand bestimmte Provinz, ist so geeignet zum Distribuieren wissenschaftlicher Ergebnisse wie die deutschen Fachhochschulen. Ist es nicht offensichtlich, dass man den Transfer kaum wirksamer fördern kann, als an all diesen Standorten Transferstellen aufzubauen und dort hochschulkundige Mitarbeiter mit einem Kooperationsmanagement zu beauftragen? Das müsste doch einen gigantischen Innovationsimpuls ergeben.
Neue Forschungskultur
Das Bundesforschungsministerium hat das erkannt und mit dem Förderprogramm „Innovative Hochschule“ die Strategiefähigkeit von Hochschulen in Sachen Transfer ins Fadenkreuz genommen. Doch was nützt die beste Transferhochschule, wenn das einzelne Projekt nicht gefördert wird? Gegenwärtig wird transfer- und anwendungsorientiert forschenden Professoren zwar eine unterstützende Hilfsforschung für Unternehmen finanziert. Sie können sich aber keine eigene Forschungsagenda aufbauen, können nicht über mehrere Jahre hinweg mit systematischer Forschung eine eigene Anwendungsidee systematisch explorieren, bei der die Rechte am intellektuellen Eigentum (IP-Rechte) zunächst bei ihnen verbleiben.
Dringend gebraucht wird eine Förderinstitution – die Deutsche Transfergemeinschaft! –, die eben nicht in der Welt des „Wohin“ angesiedelt ist, sondern sich als integraler Teil des Wissenschaftssystems versteht, und also: erstens, das Qualitätssicherungssystem der Wissenschaft adaptiert, zweitens, gezielt transferrelevante Forschungsprojekte finanziert und drittens Anträge von einzelnen Professoren entgegennimmt und eine nachweisbare Verwertungsperspektive zwar streng einfordert, aber ein kooperierendes Unternehmen nicht zur zwingenden Voraussetzung macht. Erst dadurch kann eine entsprechende neue Forschungskultur an den Hochschulen entstehen. Erst dadurch wird ein Reputationsmechanismus zur Aufwertung des Transfers geschaffen. Und erst dadurch lohnt es sich für Hochschulen, ihre Rolle als innovationsfördernde regionale Entwicklungszentren auch wirklich ernst zu nehmen und zu entwickeln.
Ohne die Gründung einer Deutschen Transfergemeinschaft läuft die riesige Operation „Innovative Hochschule“ völlig ins Leere. Mit ihr aber könnten wir mit den vielen Fachhochschulstandorten Wissenschaft wirklich in die Fläche bringen und würden das Innovationsgeschehen im deutschen Mittelstand ganz erheblich stimulieren. Es lohnt sich, dafür zu kämpfen!
DUZ Magazin 01/2019 vom 25.01.2019