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„Das Gottvertrauen schwindet“

Wie die Wissenschaft auf den wachsenden gesellschaftlichen Druck reagiert.

Ein Gastbeitrag von Otfried Jarren.


Hochschulen sehen sich heute mit einer ganzen Reihe von Anforderungen konfrontiert. Diese Anforderungen kommen nicht allein von der Politik, etwa aus Hochschulräten, sondern direkt aus der Gesellschaft: von Einzelnen und Gruppen. Die Legitimation der aus Steuermitteln finanzierten Hochschulen bleibt zwar direkt von politischen Akteuren abhängig, aber diese erwarten für ihr Investment eine breite gesellschaftliche Verankerung. In einer hoch differenzierten, pluralistischen Gesellschaft sind die Erwartungen an sie vielfältig – und widersprüchlich. Die Notwendigkeit von Austauschbeziehungen nimmt zu.

So gewinnen die Einzelnen und Gruppen an Einfluss. Sie adressieren die Wissenschaft auf direktem Weg – auf der Ebene von Instituten, aber auch auf der Ebene der individuellen Forscher. Der etablierte Kommunikationsweg zwischen der institutionellen Politik („dem Ministerium“) und der Hochschulleitung („dem Rektorat“) wird so um weitere Austauschwege erweitert.

Auf die Anforderungen haben die Hochschulen eher unbewusst reagiert: mit vielen neuen Angeboten und Formen der direkten Ansprache, also dem Einbezug von Zielgruppen. Und mit individualisierten Partizipationsversprechen, „Open Science“ ist das zugehörige Stichwort. Die Universität wird – so hat es der ehemalige Rektor der Universität Basel, Prof. Dr. Antonio Loprieno, formuliert – vergesellschaftet.

Mehr Daten, weniger Klarheit

Diese Entwicklungen haben zur Folge, dass über vieles gestritten, vieles infrage gestellt wird. Die traditionellen Vermittlungsinstanzen, die bisher dazu dienten, zu sammeln und zu bündeln, haben an Macht verloren. Zu den bestehenden Parteien und Verbänden haben sich viele weitere Nichtregierungsorganisationen gesellt. Sie agieren strategisch als politische Unternehmer, stehen in einem scharfen Wettbewerb – und sie setzen Wissen ein. Die sozialen Medien dienen ihnen zur Wissensverbreitung und zur Organisation von Interessen.

Die Social-Media-Plattformen selbst etablieren neue Informations-, Kommunikations- und Bewertungsmärkte. Die traditionellen Massenmedien hingegen verlieren an Reichweite, Bindungsstärke und Deutungsrelevanz, ähnlich wie auch die Parteien oder die Kirchen. Die Massenmedien erreichen immer weniger die Gesamtgesellschaft, und sie erreichen auch nicht die vielen Milieus, die sich aufgrund der Individualisierung ausgebildet haben.

Das journalistische Verfahren wird zunehmend in Zweifel gezogen („Lügenpresse“). Und ganz allgemein werden Entscheidungs- wie Beglaubigungsinstitutionen, die auf Expertenentscheidungen beruhen, kritischer gesehen. Das Gottvertrauen schwindet, das Selbstvertrauen wächst. Ob Journalisten, Lehrer oder Professoren: Vormalige Amts- und Respektspersonen müssen sich immer wieder neu beweisen, müssen überzeugen.

Über das Wissenschaftssystem nun berichten die ökonomisch geschwächten Massenmedien nur in allgemeiner Form. Das dort gewonnene Wissen hat sich massiv erweitert, aber die Wissenschaftseinrichtungen produzieren und kommunizieren immer mehr Daten. Doch diese können gar nicht alle in den Massenmedien verarbeitet werden. Es ist zu bezweifeln, dass das Problem gelöst werden kann, indem die Daten offen und unsortiert für jedermann abrufbar gemacht werden. Es bleibt zu klären, wen und was man damit überhaupt erreichen kann.

Vermittlungsaktivitäten bleiben erforderlich. Wer aber soll sie leisten, wo der Journalismus in einer Finanzierungskrise steckt und die Wissenschaftsberichterstattung eher reduziert als verstärkt wird? Können die Hochschulen in die Bresche springen? Sie haben ihre kommunikativen Aktivitäten jedenfalls erhöht. Weil die anderen Vermittlungsinstanzen schwächeln, können sich die Hochschulen nicht mehr hinter ihnen verstecken. Sie werden direkt angesprochen, sie müssen sich selbst legitimieren.

Die Aufgabe gestaltet sich umso schwieriger, weil heute in zahllosen Gruppen und Grüppchen Interessen formuliert, ausgehandelt, zu politischen Problemstellungen entwickelt werden. Dazu ist Expertenwissen vonnöten, denn mit solchem Wissen kann man Interessen begründen und zur Geltung bringen. Dafür aber braucht es opportune wissenschaftliche Zeugen.

Der Kampf ums Wissen

Im Streit um Nutzen und Gefahren des Impfens zum Beispiel gibt es unterschiedliche, jeweils mit wissenschaftlichen Befunden begründete Positionen. Über diesen Wissensdisput wird in den Massenmedien kaum berichtet. Vieles findet im Netz statt, unmoderiert und ohne Sachbezug. Urplötzlich wird aus diesen Social-Media-Aktivitäten ein politisches Thema. Nicht erst seit Entstehung der Social Media gibt es solche Wissensgemeinschaften, doch nun sind sie weithin sichtbar und schlagkräftig geworden.

Unterhalb der Massenmedien gab es bislang ein breites Segment an Medien, in denen Interessen und Wissen verhandelt wurden. In den zahlreichen Publikums-, in Spezial-, Fach- oder Verbandszeitschriften, in Organen der zahllosen Nichtregierungsorganisationen findet Binnenkommunikation statt, in der man sich auf wissenschaftliche Befunde bezieht.

Ob Luftgrenzwerte, Impf- oder Ernährungsfragen – darüber gab es auch bisher Austausch. Der fand in Zeitschriften statt, wurde von Fachjournalisten begleitet. Von dort gelangten Themen und Positionen in die Massenmedien und in die allgemeine Öffentlichkeit.

Es mussten also allerlei Zugangshürden übersprungen werden. In der allgemeinen Öffentlichkeit kam vor allem das vor, was es in die Massenmedien geschafft hatte. Social-Media-Plattformen hingegen sind ohne – zumal professionelle – Filter. Sie haben die kommunikativen Möglichkeiten massiv erweitert und verändert. Nicht journalistische Profis, sondern Interessenorganisationen und Einzelpersonen wählen aus, leiten weiter, können die Gesamtgesellschaft erreichen.

Wir erleben, was auf Plattformen alles diskutiert, bestritten oder zustimmend beglaubigt werden kann. Wir erleben die Stärke von Kampagnen – bis hin zum Shitstorm – gegen Einzelne und Organisationen. Und wir erfahren, wie gegen professionelle Institutionen mit ihren etablierten Auswahl- und Bewertungsverfahren, wie gegen Befunde oder Erkenntnisse agiert werden kann.

Auch die Hochschulen sind von diesen Entwicklungen betroffen, teils nur indirekt, teils sehr unmittelbar. Wie sollten sie darauf reagieren? Einfach nur mehr PR in eigener Sache zu machen, dürfte jedenfalls nicht ausreichen.

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