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Forscher-Idole

Die 68. Lindauer Nobelpreisträgertagung: Nahaufnahmen einer ereignisreichen Woche.

Es ist kurz nach 15 Uhr an diesem Sonnabend Ende Juni, als der Euro-City von Zürich nach München am Lindauer Hauptbahnhof hält. Ein Grüppchen wetterfest gekleideter Senioren rastet, den Tagesrucksack geschultert, am Alfred-Nobel-Platz, da kündigt das mechanische Klappern vieler Rollkoffer neue Gäste an. Viele Gäste, die den Altersdurchschnitt auf dem Bahnhofsvorplatz deutlich senken. Sie werden in der kommenden Woche allerdings keine Ferien am Bodensee machen. Sie sind junge Wissenschaftler und haben neben Laptops auch Abendgarderobe im Gepäck. Denn am nächsten Tag beginnt die 68. Nobelpreisträger-Tagung (Medizin/Physiologie) in Lindau.

Am nächsten Tag ist die seit 2015 modernisierte und erweiterte Inselhalle Zentrum des Geschehens: Bis um 15 Uhr die Tagung eröffnet wird, ist noch Zeit, sich zu registrieren, den Zeitplan am Eröffnungstag und das Kongressprogramm zu studieren. Die Einlasskontrollen sind streng, die Teilnehmenden erhalten ihre Namensschilder an farbigen Bändern. Grau – das sind die Nachwuchswissenschaftler, türkis die Nobelpreisträger, rot werden besondere Gäste markiert, gelb die Journalisten. Die jungen Wissenschaftler erhalten eine graue Filztasche mit dem Logo der Tagung „Educate, Inspire, Connect“. Die Szenerie wirkt wie ein wissenschaftlicher Kongress.

„Die Welt wird Ihnen nach dieser Woche kleiner vorkommen“

Doch wie viele wissenschaftliche Kongresse können sich einer Nobelpreisträgerdichte rühmen, die lediglich von der eigentlichen Ehrung in Stockholm übertroffen wird? „Die Welt wird Ihnen nach dieser Woche ein bisschen kleiner vorkommen“, verspricht Carl-Henrik Heldin, Chairman der Nobel Foundation, in seinem Grußwort während der Eröffnungsveranstaltung. Und Bundesforschungsministerin Anja Karliczek wünscht sich in ihrer auf Deutsch vorgetragenen Rede, dass „in Zeiten einfacher Antworten die Stimme der Wissenschaft deutlich zu hören ist – als Anker des Vertrauens“. Nobelpreisträgerin Elisabeth Blackburn rät den jungen Forschenden, auf ihr Herz zu hören und niemals die Menschlichkeit zu vergessen.

Franziska Lorbeer, 29, M.Sc., forscht derzeit mit einem Boehringer Ingelheim PhD Fellowship an der University of California in Berkeley über Telomerasen und deren Rolle während früher Stadien der Krebsentstehung. In den nächsten Tagen wird sie von 7 Uhr am Morgen bis in die Nacht an Partner Breakfasts, Lectures, Agora Talks, Panel Discussions, Science Walks, Master Classes, Poster Sessions und diversen Abendveranstaltungen teilnehmen. Sie interessiert sich für die „wissenschaftliche Reise“, die die Nobelpreisträger zu ihrem Ziel geführt hat. „Ich möchte aber auch junge Wissenschaftler treffen, die an ähnlichen Themen arbeiten wie ich“, sagt sie. Und begegnet 598 Gleichgesinnten.

Zurück zur Tagung kann man nur mit einem Nobelpreis kommen

Der klassische Gesprächseinstieg beim Lunch oder während einer Kaffeepause: „Hallo, mein Name ist XY, ich forsche an … und interessiere mich außerdem für …“ Kontakte knüpfen, Erfahrungen teilen: Ein umfangreiches Alumni-Netzwerk wird die Jungwissenschaftler auch nach der diesjährigen Tagung verbinden, an der jeder der unter 35­Jährigen nur einmal im Leben teilnehmen darf. Es sei denn, er oder sie kommt als Nobelpreisträger wieder.

Dr. Medhavi Vishwakarma hat bereits einen „Science Walk“ mit dem Pharmakologen Louis J. Ignarro (Medizin-Nobelpreis 1998) gemacht. Sie befasst sich am Max-Planck-Institut für medizinische Forschung Heidelberg mit Epithel-Biologie, speziell Wundheilung. 90 Minuten Zeit haben die jungen Wissenschaftler auf diesen Spaziergängen durch die Lindauer Altstadt, um ihren Vorbildern auf den Zahn zu fühlen. „Professor Ignarro hat auch viel Privates erzählt“, berichtet Vishwakarma, bleibt aber diskret und geht nicht ins Detail. Ignarros Ratschläge an die nächsten Forschergenerationen seien: niemals aufgeben und den eigenen Instinkten folgen. „Wir sollen nicht für einen Nobelpreis forschen“, habe er gesagt. „Das würde sowieso nicht klappen, es geht um die Wissenschaft und nicht um einen Preis!“

Die Lectures von Michael Rosbash und Michael Young über die innere Uhr von Organismen sind proppenvoll. Die Erforschung der molekularen Zusammenhänge des Tageslicht-Rhythmus hatte ihnen und Jeffrey C. Hall 2017 den Nobelpreis für Medizin eingebracht. Praktische Lebenshilfe kann Michael Rosbash während des Vortrages allerdings leider nicht geben. „Ich werde oft gefragt, was man gegen Jetlag tun könne“, sagt er und sorgt für Heiterkeit im großen Saal der Inselhalle: „Leiden und Medikamente nehmen!“ Die Tagung widmet sich neben wissenschaftlichen Themen auch der Rolle Forschender in der Gesellschaft.

So wird über ihre Verantwortung und Glaubwürdigkeit in Zeiten gesprochen, in denen falsche Behauptungen bewiesene Fakten abzulösen scheinen. Wie sollen junge Wissenschaftler relevante Ergebnisse publizieren? Einerseits sollen die Fakten auch für Laien verständlich sein, andererseits sind die Ansprüche großer Wissenschaftsmagazine hoch und der Druck zu publizieren bei steigender Konkurrenz um rare Stellen wächst. Inzwischen ist das Genom des Menschen entschlüsselt und mit geeigneten „Genscheren“ kann es verändert werden. Was ist ethisch vertretbar? Kann mit grüner Gentechnik der Hunger in der Welt gestillt werden?

Mitte der Woche. Franziska Lorbeer hat der Vortrag des Physikers Steven Chu (Physik-Nobelpreis 1997) besonders gefallen. „Es ist beeindruckend, was eine Person im Kopf haben und auf die Beine stellen kann.“ Chu habe auch über seine Zeit als Energieminister unter Ex-US-Präsident Barack Obama und über sein Engagement in der Klimaforschung berichtet. Lorbeer hörte zudem den Molekularbiologen Richard J. Roberts, der über seine Initiative für den Nutzen genetisch modifizierter Nahrungsmittel sprach. „Es ist wichtig, dass die Öffentlichkeit darüber aufgeklärt wird. Ich finde es gut, wenn Nobelpreisträger ihre Bekanntheit dafür nutzen, etwas zu bewegen“, sagt Lorbeer, die außerdem bereits erfolgreich mit gleichgesinnten Forschenden interagiert hat. „Ich konnte an Gespräche mit anderen Wissenschaftlern anknüpfen, die ich schon einmal auf Fachkongressen getroffen hatte“, berichtet sie.

Täglich um 13 Uhr wird im Untergeschoss ein „Lunch“ angeboten. Hier und dort gesellt sich ein Nobelpreisträger dazu und diskutiert Fragen aus vorangegangenen Vorträgen oder beantwortet generelle Fragen. „Die sind so etwas wie Pop-Idole für uns“, sagt Yuchen Long, der spannende Details der Tagung wie viele andere auch direkt in die Welt hinaus twittert. Unter dem Hashtag „#LINO18“ finden sich genügend Selfies von jungen Forschern mit den Laureaten, um diese Aussage über die Pop-Idole zu verifizieren. Long ist in Peking aufgewachsen und arbeitet jetzt als Postdoc an der École normale supérieure de Lyon.

Der Biomechaniker war zunächst skeptisch, als ihn sein Professor auf die Tagung aufmerksam machte, und fragte sich, ob der Unterschied zu Fachkongressen wohl nur eine schöne Fassade sei. „Das hat sich schon am ersten Tag hier geändert“, sagt er. Und ist nun begeistert davon, so viele Menschen verschiedener Fachdisziplinen aus der ganzen Welt zu treffen und sich mit den, wie er sagt, größten Denkern der Welt auszutauschen. Nach Deutschland, Indien und den USA steht China mit 42 jungen Wissenschaftlern an vierter Stelle der Herkunftsländer der Teilnehmer und ist in diesem Jahr Gastgeber des International Days, einer der täglichen Abendveranstaltungen. Die ebenfalls rege genutzt werden, um flüchtige erste Kontakte zu vertiefen. Ein volles Programm.

Emer Duffy, Ph.D von der Dublin City University, sieht man die Intensität der vergangenen Tage an den müden Augen an. Die 29­jährige Chemikerin, die unter anderem Ausdünstungen der Haut analysiert, empfindet die Tagung als Inspiration. „Ich habe großartige Vorträge über unglaubliche Forschung gehört“, berichtet sie. Die Molekularbiologin Elisabeth Blackburn (Medizin-Nobelpreis 2009) ist so etwas wie ihr Idol. „Ich habe über ihre Arbeit an Telomeren gelesen, hochinteressant, das hilft, Alterungsprozesse im Körper besser zu verstehen und auch den eigenen Lebensstil entsprechend anzupassen“, sagt Duffy und eilt zur nächsten Diskussionsrunde.

Die Lindauer Buslinien von und zur Insel sind besonders in den frühen Morgenstunden gut ausgelastet. Viele der jungen Wissenschaftler wohnen in Hotels außerhalb der Altstadt auf der Insel, auf der auch der Hauptbahnhof liegt. Umgangssprache in den Bussen und Gassen ist Englisch. Die Lindauer nehmen es gelassen. Einmal im Jahr dominieren eben eine Woche lang junge Leute mit Laptoptasche über der Schulter das Stadtbild. Sie durchkreuzen die Insel von der Halle zum Hotel Bayerischer Hof oder zum Forum am See, wo die Master Classes stattfinden. Man sieht sie beim Morning Workout auf der Grünfläche am Kreisverkehr. Da müssen die wetterfesten Touristen ausnahmsweise ein wenig zurückstehen.

Der Euro-City von München nach Zürich ist pünktlich. Ob die Welt für 599 junge Wissenschaftler ein wenig kleiner geworden ist, kann an dieser Stelle nicht beantwortet werden. Die Bodenseeregion wird ihnen bestimmt in Erinnerung bleiben. Und einige werden zurück nach Lindau kommen: als Touristen – oder als Nobelpreisträger.

Die Macher: Kuratorium und Stiftung

Die Nachwuchswissenschaftler verschiedener Fachdisziplinen treffen jeweils im Sommer in Lindau auf die Nobelpreisträger. Dabei alternieren im Jahreswechsel drei naturwissenschaftliche Nobelpreis-Kategorien: Medizin oder Physiologie, Physik und Chemie. 2018 konnten die Organisatoren der Tagung Rekordteilnehmer-Zahlen verkünden: 599 junge Forscher aus 84 Herkunftsländern begegneten 39 Laureaten.

Um eine hochkarätig besetzte Tagung zu organisieren, arbeiten das ganze Jahr über das „Kuratorium für die Tagungen der Nobelpreisträger in Lindau“ und die „Stiftung Lindauer Nobelpreisträgertagungen“. Das 1954 geschaffene Kuratorium, unter seiner aktuellen Präsidentin Bettina Gräfin Bernadotte af Wisborg, ist dabei für den wissenschaftlichen Teil der Tagungen verantwortlich. Die Kuratoriumsmitglieder konzipieren das Programm der Tagungen, knüpfen Kontakte zu Forschern, Politikern und Wissenschaftsorganisationen weltweit und sind an der Feinauswahl der Nachwuchswissenschaftler beteiligt.

Die Stiftung deckt, unterstützt vom Kuratorium, den wirtschaftlichen Part der Tagungen ab. Im Jahr 2000 wurde sie von 50 Nobelpreisträgern initiiert, seit 2016 wird ihr Vorstand ehrenamtlich von dem Physiker und erfahrenen Unternehmensberater Prof. Dr. Jürgen Kluge geleitet. In Niedrigzins-Zeiten, in denen die Kapitalerträge von Stiftungen zurückgehen, sind neue Ideen gefragt, um die Kosten der Tagung zu decken. Während mehr als 200 akademische Partner einen großen Teil der Teilnehmerbeiträge übernehmen, decken die öffentliche Hand, Zustiftungen und Sponsoren den Rest der Kosten. In der langen Liste der Förderer finden sich neben weltweit agierenden Industriekonzernen, Verbänden und Stiftungen auch Privatpersonen.

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