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Der lange Atem des Völkerrechts

Der Juraprofessor Christoph Safferling lehrt, wie Menschenrechtsverletzungen geahndet werden können.

Wer in Nürnberg wegen Mordes angeklagt wird, nimmt da Platz, wo einst Hermann Göring, Oberbefehlshaber der Luftwaffe unter Hitler, saß. Der holzvertäfelte Saal 600 des Nürnberger Justizpalastes dient heute wieder als normaler Schwurgerichtssaal. Nur manchmal finden Führungen statt und jedes Jahr Ende Juli zeigen gut 200 Studierende aus der ganzen Welt, wie sich das Völkerrecht entwickeln sollte.

„Moot Court“ heißt das Planspiel, für das Prof. Dr. Christoph Safferling realistische Fälle erfindet, die so ähnlich tatsächlich vor dem Internationalen Strafgerichtshof landen könnten: Im vergangenen Jahr verhandelten rund 40 Teams über Menschenrechtsverletzungen, die im Kampf gegen ein Drogenkartell im fiktiven Land Naboo auf beiden Seiten begangen wurden. Die Studierenden übernahmen die Rollen von Anklägern und Verteidigern – allerdings vor echten hochkarätigen Experten des Völkerstrafrechts, etwa Richtern, die sonst an internationalen Strafgerichtshöfen arbeiten.

In Nürnberg urteilten die Richter über die Sachkenntnis, die Präzedenzfälle und die Qualität der Argumente der Studierenden. 2017 gewann das Team aus Kenia. „Die waren einfach super“, sagt Safferling. In diesem Jahr haben sich 130 Teams von Brasilien bis Berg Karabach beworben. Drei Teams werden vom Auswärtigen Amt gesponsert, damit auch Studierende aus Ruanda, Uganda oder eben Kenia dabei sein können. Viele arbeiten später für die internationale Strafjustiz. Safferling, Träger des bayerischen Preises für gute Lehre, liegt das Ausbildungsprojekt am Herzen: „Das ist auch ein Fest der Versöhnung.“

Mit dem Völkerrecht vertritt der 47-Jährige ein relativ junges Forschungsgebiet. Als er seine an der Londoner Wirtschaftsuniversität School of Economics begonnene Dissertation über das Völkerstrafprozessrecht an der Uni München vorlegte, war der Internationale Strafgerichtshof in Den Haag gerade erst gegründet worden. Nach Stationen in Hannover und Erlangen-Nürnberg ging er 2007 als Professor für Straf- und Völkerrecht an die Marburger Philipps-Universität, wo er gemeinsam mit Studierenden ein Ausbildungsprojekt für Prozessbeobachter startete.

Dabei geht es um Verfahren, die deutsche Jurastudenten normalerweise kaum miterleben: Akribisch verfolgten sie etwa das erste deutsche Gerichtsverfahren um den Völkermord in Ruanda. Angeklagt war der ehemalige Bürgermeister Onesphore R., der als Asylbewerber nach Deutschland gekommen war. Wegen seiner Beteiligung am sogenannten Kirchenmassaker wurde er zu lebenslanger Haft verurteilt. Mindestens 400 Tutsi waren bei dem Blutbad mit Macheten und Äxten getötet worden. Weitere Prozessbeobachter-Teams begleiteten den Prozess gegen den Flughafen-Attentäter Arid U. Andere reisten zum Roten-Khmer-Tribunal nach Kambodscha.

Furore mit „Akte Rosenburg“

Seit 2015 lehrt Safferling an der Friedrich-Alexander-Universität (FAU) in Erlangen-Nürnberg, wo er die Forschungsstelle Völkerstrafrecht gründete. Für Furore sorgte er mit der „Akte Rosenburg“, seiner gemeinsam mit dem Historiker Prof. Dr. Manfred Görtemaker vorgelegten Untersuchung über den kritikwürdigen Umgang des Bundesjustizministeriums mit seiner NS-Vergangenheit. Vier Jahre hat er daran gearbeitet, 190 Personalakten gewälzt. Die Studie zeigt, dass mehr als drei Viertel der leitenden Beamten ehemalige NSDAP-Mitglieder waren.

„Hitlers schlimmste Blutjuristen durften darauf vertrauen, mit vergleichsweise milden Blicken gesehen zu werden“, sagt Safferling. Viele Juristen konnten trotz schwerster Belastung weiter Karriere machen. Dazu gehörte etwa Eduard Dreher, der während der NS-Zeit als Staatsanwalt an einem NS-Sondergericht in Innsbruck an zahlreichen Todesurteilen mitwirkte. Als er 1969 aus dem Bundesjustizministerium ausschied, war er Ministerialdirigent. Die erschreckende Erkenntnis: Die meisten Verfahren waren juristisch sauber. Franz Schlegelberger zum Beispiel goss die Diskriminierung von Juden und Polen in Paragrafen und ersann mit aller rechtstechnischen Raffinesse einen Weg, auch die „Vernichtung lebensunwerten Lebens“, also die Massenmorde an Menschen mit Behinderungen, juristisch reinzuwaschen.

Nachweisen ließ sich in der Studie, dass die Gesetzgebung der Nationalsozialisten in der Nachkriegszeit fortwirkte – nicht nur bei der Verfolgung von NS-Tätern, sondern auch bei der Bestrafung und Entschädigung von Deserteuren, Sinti, Roma und Homosexuellen. Und das Ministerium spielte eine zentrale Rolle, als 1968 Zehntausende von Strafverfahren gegen NS-Täter eingestellt wurden. In einer Folgestudie untersucht Safferling jetzt die Vergangenheit der Bundesanwaltschaft.

Wie Recht in einem Unrechtsstaat funktioniert, ist für den Völkerrechtler ein wichtiger Teil der Lehre: „Ich muss die Gefahren zeigen, die der Juristenjob mit sich bringt, und zur Wachsamkeit erziehen“, sagt Safferling. Daher unterstützt er eine Initiative, nach der Justizunrecht Teil der Juristenausbildung werden soll: „Der Sinn für Menschlichkeit darf nicht ausgeschaltet werden.“

Safferling ist schon lange ein gefragter Gesprächspartner für die Medien. Nach der Verhaftung von Carles Puigdemont kritisierte er „die Kriminalisierung einer politischen Meinung“. Die deutsche Justiz habe gute Gründe, den abgesetzten katalanischen Präsidenten nicht an Spanien auszuliefern. Safferling äußerte sich zur Erosion des Völkerrechts in Syrien und zur Situation des Internationalen Strafgerichtshofs. Das Tribunal ist nach seiner Überzeugung immer noch in der Selbstfindungsphase und krankt an strukturellen Problemen, weil große Nationen wie die USA, Russland, China und Indien nicht dabei sind.

Der Völkerrechtsexperte weiß aber auch, wie schwer es ist, Menschenrechtsverbrechen zu ahnden. Das Hauptproblem: Neben den unterschiedlichen Rechtssystemen spielt die Politik auf der internationalen Bühne eine große Rolle. Strafverfolgung ist daher vom guten Willen der betroffenen Staaten abhängig. „Für das Völkerstrafrecht braucht man einen unglaublich langen Atem“, sagt Safferling. Er erinnert an den Fall des SS-Mannes Oskar Gröning: Erst 2015 – im Alter von 94 Jahren – wurde der „Buchhalter von Auschwitz“ vor Gericht gestellt.

Christoph Safferling: Meine Forschung

Die Herausforderung

Bewaffnete Konflikte, Flüchtlingsströme, Gefahr von Terroranschlägen, Menschenrechtsverletzungen: Die internationale Gemeinschaft scheint angesichts der vielen Probleme ohnmächtig wie selten.

Mein Beitrag

Seit dem Nürnberger Prozess wird die Einhaltung elementarer Grundregeln für ein friedliches Zusammenleben der Völker mit den Mitteln des Strafrechts eingefordert. Daran müssen wir anknüpfen; das sind wir auch den vielen Opfern schuldig.

Drohende Gefahren

Staatliche Verbrechen sind genauso zu bestrafen wir „einfache“ Verbrechen. Das Völkerrecht darf die Menschen nicht aus dem Blick verlieren. Vielmehr ist jede Rechtsordnung für den Menschen da.

Offene Fragen

Viele. Wie kann die Kompetenz des Internationalen Strafgerichtshof gestärkt werden? Was kann das nationale Strafrecht zur Verfolgung internationaler Verbrecher beitragen? Wie helfen wir den Opfern von Massenverbrechen?

Mein nächstes Projekt

Völkerstrafrecht als Menschenrechtsschutz. Dieser Aspekt ist in der Völkerrechtswissenschaft unterentwickelt.

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