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Warum Karl Marx nach Jena ging

Wie der Blick in die Geschichte lehrt, florierte das Geschäft mit dem Doktortitel über Jahrhunderte hinweg. Es bescherte der Universität und ihren Professoren die Einkünfte, die ihr anderweitig versagt blieben. Ein Schelm, wer da an heute denkt?

Die Promotion in Deutschland ist – dank einiger hemmungslos plagiierender Politiker – ins Gerede gekommen. Das öffentlich debattierte Skandalon ist dabei allerdings nur teilweise der verursachte politische Wirbel; immer mehr gerät die universitäre Qualitätssicherung der Promotionsverfahren in den Blick. Ganz neu ist das alles leider nicht: Schätzungen gingen lange vor den Politskandalen davon aus, dass von den rund 25 000 Promotionen, die jährlich abgelegt werden, um die 600 auf unrechtmäßige Weise erworben wurden. Offizielle Stellungnahmen zu bekannt gewordenen Vorfällen folgen allerdings meist einem ähnlichen Muster: Es wird beteuert, dass es sich um einen Einzelfall handelt, um ein schwarzes Schaf, keinesfalls um die Spitze des Eisberges.

Solche Beschwichtigungen verstellen den Blick auf die systemischen Probleme, die in den letzten Jahrzehnten durchaus diskutiert wurden. Im Jahr 2002 hatte der Wissenschaftsrat seine Empfehlungen zur Doktorandenausbildung vorgelegt und dort proklamiert, dass es Ziel aller Verbesserungsbemühungen sein müsse, hohe wissenschaftliche Standards sicherzustellen, die Notenvergabe an klaren und einheitlichen Kriterien zu orientieren sowie allen Fällen von Parteilichkeit vorzubeugen. Das Dilemma war bereits damals erkennbar: Einerseits ging der Wissenschaftsrat davon aus, dass in Disziplinen, in denen mehr als 40 Prozent der Absolventen promovieren, die Promotion in den Rang eines „berufsqualifizierenden Abschlusses“ gerückt sei. Dies war und ist nicht nur für die Medizin der Fall, auch Chemie, Physik und Biologie haben diese Marke längst überschritten. Andererseits sollte eine Dissertation „einen substanziellen Beitrag zum wissenschaftlichen Erkenntnisfortschritt leisten“, „wissenschaftliches Neuland beschreiten“ und „in einer anerkannten Zeitschrift“ publizierbar sein. Mehr als die Hälfte der deutschen Promotionsordnungen sieht bis heute derartig hohe Standards vor.

Man muss keineswegs auf die Suche nach Betrugsfällen gehen, um zu erkennen, dass der Spagat zwischen einer berufsorientierten Ausbildung und einer hochkarätigen eigenen Forschungsleistung als Entree in eine Wissenschaftskarriere bisher nicht gelungen ist. Bereits ein Blick in die amtliche Statistik zeigt, dass weder die Annahme des Wissenschaftsrats, dass nur ein vergleichsweise kleiner Teil der Hochschulabsolventen die hohen Erwartungen einlösen kann, noch die Hoffnung auf Einhaltung hoher wissenschaftlicher Standards und einheitlicher Kriterien bei der Notenvergabe erfüllt wurden.

Bei der Notenvergabe sehen wir vielmehr in fast allen Fachgebieten seit Veröffentlichung der Empfehlungen kräftige Steigerungen des Anteils exzellenter Promotionen (siehe Grafik S. 13). Ein Blick in einzelne Fächer zeigt zudem, dass die Notengebung offenbar nach lokalen Kriterien erfolgt. Jedenfalls ist die Frage erlaubt, ob alles mit rechten Dingen zugeht, wenn in den Wirtschaftswissenschaften an der Universität Kiel zuletzt mehr als 70 Prozent der Promovierenden mit der Bestnote summa cum laude abschließen, während an der Ludwig Maximilians Universität in München nicht einmal die Fünf-Prozent-Marke erreicht wird.

Die Ursachen für eine derartig inflationäre Entwicklung sind in den Anreizsystemen zu suchen, die in der vergangenen Dekade in der Wissenschaft eingeführt wurden. Die meisten Rankings und die überwiegende Zahl leistungsorientierter Mittelverteilungssysteme nutzen die Anzahl der Promotionen als Qualitätsindikator und damit direkt oder indirekt als Verteilungskriterium.

Die Logik – Geld für Promotionen – hat eine lange und wenig erfreuliche Tradition in der deutschen Universität.

Seit dem Mittelalter kursierte in vielen Variationen ein Spottvers über die Promotionspraxis: „Sumimus pecuniam et mittimus asinum in patria“ (nehmen wir das Geld und schicken den Esel nach Hause). Mit Beginn des 18. Jahrhunderts wurde an den meisten Universitäten die Naturalienleistung der Doctores, die üblicherweise aus ganz erheblichen Bewirtungsaufwendungen für die Professoren bestand, in Examensgebühren für eine ordentliche Doktorurkunde umgewandelt. Diese Einnahmen stellten einen erheblichen Teil der im Übrigen schmalen Professorengehälter und der Fakultätseinnahmen dar. Die Geldforderungen wurden mit dem Prüfungsaufwand, insbesondere der Anfertigung der Dissertationsschrift durch die Professoren begründet. Die Praxis, die schriftliche Grundlage der Disputation durch die Professoren anfertigen zu lassen, war zwar nicht unumstritten, denn häufig wurde von Visitationskommissionen verlangt, dass der Kandidat selbst eine Schrift anzufertigen habe oder zumindest nicht als Autor auf einer fremden Arbeit erscheinen solle. Derartige Argumente wurden aber immer wieder unter Verweis auf die mangelnden Fertigkeiten (insbesondere fehlende Lateinkenntnisse) und Zeitmangel der Kandidaten von den Professoren zurückgewiesen, die um das einträgliche Geschäft mit den mehrfach verwertbaren Dissertationsschriften bangten.

Das Disputationsunwesen, das sich seit Mitte des 17. Jahrhunderts auf dieser Grundlage entwickelt hatte, erhielt über die Gebühren eine neue Wettbewerbsdynamik, die sich an zwei Parametern festmachte: den Kosten für die Promotion und den inhaltlichen Anforderungen. Was die Kostenseite angeht, entstand genau das, was in einem wettbewerblichen System zu erwarten ist. Die Konkurrenz der Universitäten um zahlungskräftiges Klientel führte bis zum Anfang des 19. Jahrhunderts zu wahren Schleuderpreisen für eine Promotion. Damit verlagerte sich die Konkurrenz auf die inhaltlichen Anforderungen. Hier bestand die Neuerung in der sogenannten „promotion in absentia“, die bis ins späte 19. Jahrhundert an vielen Universitäten nicht nur möglich, sondern fast der Regelfall war. Bei dieser Art der Promotion wurde auf die Disputation verzichtet. Weniger diplomatisch formuliert: Man konnte sich den Titel kaufen.

Angefeuert wurde dieser ruinöse Wettbewerb einerseits durch die Titelsucht akademisch kaum oder gar nicht gebildeter Bürger und andererseits durch den wachsenden Promotionszwang akademischer Professionen. Insbesondere die medizinischen Fakultäten profitierten seit dem 18. Jahrhunderts von der Verankerung der Promotion in den Approbationsordnungen (bis in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts); ein Makel, der dem Dr. med. bis heute anhaftet.

Die Dauerdebatte um die Promotionsanforderungen spiegelt sich im tiefen Misstrauen gegenüber den universitären Qualifikationsnachweisen, das sich in den Einstellungspraxen an den Fürstenhöfen und in den später aufkommenden Staatsprüfungen äußert. Vor dem Hintergrund der sich langsam durchsetzenden modernen Forschungsuniversität markiert die öffentliche Debatte um den Niedergang des Doktortitels, die Theodor Mommsen 1876 mit seiner Kampfschrift gegen die „Pseudodoktoren“ auslöste, sicherlich eine Wende. Obwohl zum Beispiel bereits die 1838 erlassenen Statuten der Berliner Universität eine eigenhändig verfasste Dissertationsschrift und zwingend die Disputation in lateinischer Sprache verlangten (ein Grund, warum Karl Marx nach Jena auswich und seine Dissertationsschrift dort auf Deutsch einreichte) und Mommsen auf breite Unterstützung in der preußischen Ministerialbürokratie stieß, waren erst in den 1930er-Jahren überall in Deutschland die Promotionsgebühren abgeschafft und halbwegs ähnliche Standards eingeführt. Die damaligen Reformen sind zum Teil noch heute sichtbar, so etwa das Rigorosum, mit dem sichergestellt werden sollte, dass der Kandidat über ausreichende Kenntnisse in den Teilgebieten des Prüfungsfachs verfügt.

Bis 1899 den technischen Hochschulen und 1919 den Zahnärzten das Promotionsrecht zugesprochen wurde, blühte das Geschäft mit den „Pseudodoctores“ und bekam sogar neuen Zustrom, diesmal von amerikanischen Universitäten, die gegen Ende des 19. Jahrhunderts mit dem an das forschungsorientierte deutsche System angelehnten Ph.D. ein konkurrenzfähiges Angebot entwickelt hatten und über Promotionsagenten auch in Europa günstig Titel anboten. Ein Déjà­vu lässt sich angesichts des Titelangebots mancher asiatischer Universitäten kaum vermeiden. Der Fairness halber sei aber nicht verschwiegen, dass die Konkurrenz um Doktoranden auch positive Wirkungen hatte, wie etwa die nach dem ersten Weltkrieg einsetzende Einführung des modernen forschungsorientierten Ph.D. an den britischen Universitäten.

Der derzeit in Deutschland grassierende reichlich naive Glauben an die heilsamen Kräfte des Marktes ließe sich durch einen Blick in die Geschichte leicht erschüttern. Zumindest stimmt es nachdenklich, dass zwar die Promotionsnoten immer besser werden, zugleich aber die Professoren in der jüngst erschienenen Wissenschaftlerbefragung des iFQ gerade bei der Rekrutierung von promovierten Postdocs von größten Schwierigkeiten berichteten. Der dafür angegebene wesentliche Grund: der Mangel an geeigneten Kandidaten. Keine Frage, Geschichte wiederholt sich nicht und die Bedingungen des 19. Jahrhunderts sind mit den heutigen nicht vergleichbar. Gleichwohl scheint es dringend geboten, darüber nachzudenken, ob die derzeitige Tonnenideologie (je mehr Promotionen, desto besser) die richtigen Anreize setzt oder eher jenen ruinösen Wettbewerb vergangener Jahrhundert neu belebt.

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