„Trugschluss an vielen Hochschulen“
BERLIN 2009 unterzeichnete Deutschland die UN-Konvention über die „Rechte von Menschen mit Behinderungen“, wonach diese ohne Diskriminierung und gleichberechtigt Zugang zu allgemeiner Hochschulbildung haben. Für Hochschulen gilt es, Inklusion in Studium und Lehre dahingehend umzusetzen. Dr. Christiane Schindler, Leiterin der Informations- und Beratungsstelle Studium und Behinderung (IBS) beim Deutschen Studentenwerk, äußert sich im duz-Interview zum Status quo und Handlungsbedarf.
duz: Frau Dr. Schindler, die Hochschulen sind gesetzlich verpflichtet, für chancengleiche Teilhabe behinderter Studierender zu sorgen. Aber wie läuft es in der Praxis? Ist Inklusion noch ein Stiefkind?
Schindler: Nein. Es gibt an fast allen Hochschulen Beauftragte für Studierende mit Behinderungen. Viele Hochschulen haben in Barrierefreiheit investiert und eine gute Praxis des Nachteilsausgleichs etabliert. Es gibt aber auch Hochschulen, die sagen: Wir haben keine Studierenden mit Behinderungen. Das ist ein Trugschluss, denn die Beeinträchtigung ist bei zwei Dritteln der Betroffenen nicht sichtbar. Es handelt sich etwa um chronische Erkrankungen. Das ist vielen Hochschulakteuren nicht bewusst.
duz: Wie funktioniert inklusive Lehre?
Schindler: Das Wichtigste sind Lehrende, die für die Bedarfe beeinträchtigter Studierender sensibilisiert sind. Sie sollten Studierende ermutigen, sich bei Bedarf bei ihnen zu melden. Der kann zum Beispiel darin bestehen, dass Lehrmaterialien so frühzeitig bereitgestellt werden, dass sie rechtzeitig in eine für blinde Studierende nutzbare Fassung gebracht werden können. Daneben ist das Wissen um das Instrument des Nachteilsausgleichs zentral. Aktuell befürchten wir, dass durch die Digitalisierung neue Barrieren in der Lehre entstehen. Nämlich immer dann, wenn etwa nicht an Untertitelung oder die Einbindung von Gebärdensprachvideos für gehörlose Studierende gedacht wird.
duz: Mit welchen Instrumenten lässt sich Inklusion als Teil eines strategischen Konzepts in die Hochschule integrieren?
Schindler: Ein gutes Instrument sind Aktionspläne. Einen solchen hat etwa die Universität Kiel vorgelegt. In einem intensiven einjährigen Arbeitsprozess haben Studierende, Lehrende und Verwaltungsangehörige beraten, wie die Situation von Studierenden und Beschäftigten mit Behinderungen verbessert werden kann. Ein Ergebnis sind sensibilisierte Akteure, die sich vernetzt und viel voneinander gelernt haben. Ein anderes Ergebnis ist ein umfangreicher Katalog an Maßnahmen, die alle Bereiche der Hochschule betreffen. Auch in der Außendarstellung der Uni werden Menschen mit Behinderungen nun stärker berücksichtigt. Das signalisiert: Hier seid ihr willkommen! Die „Inklusive Hochschule“ kann ein Markenzeichen sein, um eine Hochschule zu bewerben.
Die Fragen stellte Lutz Steinbrück.
Leitfäden der Hochschulen für Lehrende stellt die IBS unter „Studium und Lehre“ im Internet bereit.
DUZ Magazin 07/2016 vom 24.06.2016