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Die Kommentare der Anderen

Wenn oben nichts passiert, hält die Basis den Stall halt selber sauber: Diesem Gedanken folgt die amerikanische Internetplattform PubPeer. Hier kann jeder die Veröffentlichungen von Kollegen vorstellen und kritisieren. Im besten Fall entwickeln sich Debatten – zuweilen auch über das Portal selbst.

Als Dr. Brandon Stell sein erstes Interview gab, tat er das wie einer, der im Untergrund lebt: Dem Reporter des Wissenschaftsmagazins Science, der ein Feature über die Internet-Plattform PubPeer schreiben wollte, antwortete Stell von einer anonymen E-Mail-Adresse und nutzte für das darauffolgende Gespräch ein Mobiltelefon mit einer Prepaid-Karte. Das war 2013.

Seit August 2015 ist es nun raus: Der anonyme Gründer der Plattform PubPeer heißt Dr. Brandon Stell, stammt aus Colorado und arbeitet als Neurowissenschaftler beim Nationalen Zentrum für wissenschaftliche Forschung in Paris. Den Schritt in die Öffentlichkeit taten Stell und zwei Mitstreiter – ein Neurowissenschaftler und ehemaliger Laborkollege Stells und ein Webentwickler –, weil das PubPeer-Team eine Stiftung gründen wollte, um Geld zu akquirieren. Und die braucht jemanden, der für sie einsteht.

Tatsächlich ist Stell mit der Internetplattform PubPeer ein Coup gelungen im noch ziemlich jungen Feld des Post-Peer-Publication­Review, also bei der Begutachtung bereits veröffentlichter Studien. 50.000 Kommentare zu Veröffentlichungen in 2200 (!) Zeitschriften sind bis April auf PubPeer erschienen, angeschaut wurden sie, nach Angaben Stells, bis zu 600.000 mal in einem Monat.

Damit ist Stell geglückt, was ihm vorschwebte, als er vor langer Zeit regelmäßiger Besucher eines Journal Club in Boulder/Colorado war: kritische Debatten über wissenschaftliche Studien über den kleinen Zirkel von interessierten Nachwuchswissenschaftlern in einer US-amerikanischen Universitätsstadt hinaus zu erweitern. „Immer, wenn ich die abendlichen Runden verließ, dachte ich: Wie wäre es, wenn man viel mehr Leute beteiligen könnte?“, erzählt Stell. „Das würde nicht nur die Qualität der Wissenschaft erhöhen – sondern auch einen neuen Impact Factor kreieren, der sich nicht aus so und so viel Punkten für eine Veröffentlichung in diesem und jenem Journal zusammensetzt. Sondern daraus, wie das Paper in der wissenschaftlichen Community ankommt.“

Bei PubPeer geht das so: Eine Suchmaschine durchforstet das Internet nach wissenschaftlichen Veröffentlichungen mittels Autoren­ oder Stichwortsuche oder mithilfe des Digital Object Identifier (DOI). Die gefundenen Beiträge können dann auf PubPeer kommentiert werden, unter vollem Namen oder anonym. Der Autor der Studie wird per E-Mail über die Kommentierung informiert – auch wenn er nicht bei PubPeer angemeldet ist und womöglich noch nie etwas von der Plattform gehört hat – und zur Erwiderung eingeladen.

Wer dauerhaft über bestimmte Themen auf dem Laufenden gehalten werden möchte, kann auf der Seite zudem einen Alert aktivieren; ebenso besteht die Möglichkeit, andere potenziell interessierte Wissenschaftler zur Diskussion einzuladen. Als neuestes Gimmick wurde ein Browser-Add-On entwickelt: Wer den seinem Internet-Browser hinzufügt, bekommt, wenn er auf den Webseiten der Wissenschafts-Journale unterwegs ist, automatisch mitgeteilt, ob zu dem, was er gerade liest, PubPeer-Kommentare vorliegen.

Was so unschuldig klingt, hat allerdings immer häufiger schwerwiegende Folgen; vor wenigen Wochen fror der Europäische Forschungsrat das 350.000­Euro­Stipendium einer spanischen Molekularbiologin ein, die nach mehreren Hinweisen auf PubPeer im Verdacht steht, bei Versuchen mit herzschwachen Mäusen Daten manipuliert zu haben. Bis der Fall geprüft ist, liegt die Forschung nun auf Eis. Und bereits seit mehr als einem Jahr streitet sich ein US-amerikanischer Pathologe mit den PubPeer-Machern vor Gericht: Dr. Fazlul Sarkar, ein Krebsforscher mit mehr als 300 Veröffentlichungen aus drei Jahrzehnten, stand vor der Berufung an die University of Mississippi, als auf PubPeer eine Reihe kritischer Kommentare über die Validität seiner Forschung auftauchte. Daraufhin, gibt er an, sei die Berufung zurückgezogen worden. Gegen PubPeer klagt er wegen Verleumdung – und auf Herausgabe der Namen der Verfasser der Kommentare. Ein Urteil steht aus.

Stell, der ja selbst lange nicht in die Öffentlichkeit wollte, sagt, das Projekt stehe oder falle mit der Anonymität: „Insbesondere junge Wissenschaftler können sich in ihren Disziplinen schlicht nicht aus der Deckung trauen, wenn sie berechtigte Kritik üben.“ Zu groß seien die Abhängigkeiten, so Stell. „Sie sind so gut wie nie in einer Lage, in der es nicht auch um das nächste Paper, die nächste Förderung geht“, konstatiert er, „und die, die sie kritisieren – ihre Peers – bestimmen über ihre Laufbahn.“

Im übrigen, argumentiert Stell weiter, beharre nicht nur PubPeer auf Anonymität, sondern auch die tausende wissenschaftlichen Journale, die sich ebenfalls strikt weigerten, die Namen ihrer Peer Reviewer preiszugeben. Dass eine Kommentierung nicht in ungerechtfertigtes Mobbing unliebsamer Chefs oder Kollegen ausartet, hält Stell aus drei Gründen für gewährleistet: Statt Personen dürften nur Veröffentlichungen kritisiert werden; zudem müsste die Basis verifizierbar sein, etwa durch Verweis auf andere Daten, Studien oder Fundstellen, sagt er, und drittens: die Leserschaft. „Wir haben es mit einer intelligenten Leserschaft zu tun – nämlich mit den jeweiligen Experten der Disziplinen“, sagt Stells, „da fällt es auf, wenn jemand einfach nur schlechtgemacht werden soll.“

Dessen ungeachtet ist über die Anonymität eine lebhafte Debatte entbrannt. Immerhin geht sie so weit, dass auch die PubPeer-Macher die Registrierten nicht kennen. Der Chefredakteur des Magazins „Plant Physiology“ und Professor für Botanik, Michael Blatt, forderte diesbezüglich Stell und seine Kollegen in einem Editorial auf, ihre Klientel aus der Deckung zu holen. Viele Vorwürfe seien so „belanglos“, dass es ganz offensichtlich darum gehe, „jemanden öffentlich und ohne Rechenschaft ablegen zu müssen an den Pranger zu stellen“, schrieb Blatt. Seine Kritik trifft nicht in Gänze zu: Tatsächlich finden sich auf PubPeer auch namentlich unterzeichnete Kritiken, und im besseren Fall entwickeln sich sogar richtige Dialoge zwischen Kommentator und Autor.

Auffallend ist, dass ein großer Teil der debattierten Studien aus der Medizin und den Biowissenschaften stammt, das sind die am meisten von wissenschaftlichem Fehlverhalten betroffenen Disziplinen. Wie viele deutsche Wissenschaftler auf PubPeer kommentieren und sich an den Debatten beteiligen, ist wegen der Anonymität der Kommentierenden unbekannt. Nicht auszuschließen ist, dass für manche deutschen Wissenschaftler die Sprache eine Barriere für eine Beteiligung auf einer internationalen Plattform darstellt. Wäre es sinnvoll, ein eigenes deutsches Blog einzurichten? Brandon Stell glaubt das nicht: „Die Wissenschaft ist international“, sagt er, „es braucht eine gemeinsame Sprache.“

In Kürze

In Kürze

PubPeer ist eine Plattform im Internet, die sich der wissenschaftlichen Debatte über wissenschaftliche Veröffentlichungen (dem sogenannten Post-Publication-Peer-Review) verschrieben hat. Sie wurde 2012 gegründet. 
Internet: https://pubpeer.com

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