„Probleme einfach umdefiniert“
Politiker können Herausforderungen benennen, aber nicht einschätzen, ob sie wissenschaftlich lösbar sind. Deshalb führt manche von ihnen formulierte Forschungsfrage ins Leere, kritisiert der Wissenschaftssoziologe Rudolf Stichweh. Doch wie weit sollen Wissenschaftler Auftragsforschung mitkonzipieren?
duz: Herr Professor Stichweh, Sie haben Wissenschaft einmal als „Problemerkennungsinstanz erster Ordnung“ bezeichnet. Würden Sie das ein bisschen ausführen?
Stichweh: Ich würde gern ein Stück früher ansetzen. Nämlich bei den grundsätzlichen Fragen, die noch vor der eigentlichen Identifikation von Problemen zu beantworten sind. Diese lauten erstens: Wer bestimmt und benennt, was ein relevantes Problem ist? Und zweitens: Wer wählt diejenigen aus, die an der Lösung des jeweiligen Problems arbeiten sollen? Es gibt hier mehrere Möglichkeiten. Eine wäre, beide Schritte ineinander zu schieben und beide den Wissenschaftlern zu überlassen. Wir haben heute in der Wissenschaftsförderung Mechanismen, die genau so sehr gut funktionieren.
duz: Sie denken jetzt an die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG), die universitäre Spitzenforschung fördert?
Stichweh: Ja, ich denke aber auch an den Europäischen Forschungsrat ERC (European Research Council). Beide Förderorganisationen sind sehr gute Beispiele dafür, dass und wie es gelingt, die Problemidentifikation und die Suche nach der Problemlösung allein der Wissenschaft zu überlassen. In beiden Fällen müssen Antragsteller formalen, keinen inhaltlichen Vorgaben genügen. Sie bestimmen im Förderantrag die Forschungsfrage selbst und benennen im Weiteren den von ihnen geplanten Weg zur Lösungssuche. Gutachter, die ihrerseits aus der Wissenschaft kommen, beurteilen im Anschluss, ob die jeweilige Frage relevant ist, und geben eine Einschätzung ab, ob sie in dem geplanten Projekt überhaupt beantwortet werden kann. Geld gibt es am Ende nur, wenn ein relevantes Problem beschrieben wurde und den Antragstellern zuzutrauen ist, dafür eine Lösung zu finden. Problemidentifikation und -lösung sind hier also vereint.
duz: Und das ist sinnvoll?
Stichweh: Es scheint zumindest so zu sein, dass diese Mechanismen für die Förderung von Spitzenforschung geeignet sind. Der ERC, der exzellenter Wissenschaft verpflichtet ist, nutzt dieses Verfahren. Gleiches tut die DFG. Gerade beim ERC, wo die Projekte bereits relativ groß sind, ist jedes bewilligte Projekt auch eine Diagnose, die der Gesellschaft gestellt wird, wo ein bedeutsames Problem steht.
duz: Beide Organisationen sind dafür da, erkenntnisgetriebene Grundlagenforschung zu fördern. Bei der sogenannten Auftragsforschung sehen die Mechanismen deutlich anders aus.
Stichweh: Richtig, hier benennt die Politik oder die Wirtschaft oder die Religion oder ein anderes Funktionssystem der Gesellschaft das zu lösende Problem und fordert die Wissenschaft auf, Antworten dafür zu finden. Themen wie Energie oder Informationstechnik werden beispielsweise zu Schlüsselfragen der Menschheit oder der technischen Entwicklung erhoben; es wird ein Förderprogramm aufgelegt, und in diesem Programm können sich Wissenschaftler um die Lösung von Problemen bewerben, die mehr oder minder schon benannt und beschrieben sind. Das ergibt eine Forschung anderen Zuschnitts und macht die zweite große Säule der Wissenschaftsfinanzierung aus. Die Frage ist, worin die Vorteile und die Nachteile der beiden Systeme liegen.
duz: Die Debatte wird immer wieder geführt und meist mit dem Ergebnis beendet, dass beide Finanzierungsmechanismen ihre Berechtigung haben. Was insofern bemerkenswert ist, als die Verfahren der politischen Problemdefinition und Problemlösungssuche bislang nicht genauer evaluiert wurden.
Stichweh: Bevor wir darüber sprechen, würde ich gern noch das dritte Modell der Wissenschaftsfinanzierung in Erinnerung rufen: die sogenannte Grundfinanzierung. Sie ist die klassische und älteste Form der Finanzierung und besteht darin, einer wissenschaftlichen Institution Geld zu geben und ihr zu überlassen, was sie damit tut. Das ist zum Beispiel die Situation der Max-Planck-Gesellschaft oder der beiden Eidgenössischen Technischen Hochschulen in der Schweiz.
duz: Richtig, wenn wir jetzt aber mal eine Etage tiefer gehen zum Mechanismus der Auftragsforschung: Wie könnte der Prozess der Problemidentifikation denn optimiert werden?
Stichweh: In der Welt der in Auftrag gegebenen Projekte zeigt die Empirie, dass diejenigen, die das Geld haben, das Problem gar nicht allein definieren. Faktisch können Politiker oder Ministeriale nicht beurteilen, welche Probleme durch die Wissenschaft bearbeitbar und lösbar sind. Die Kompetenz der Politik endet dort, wo die der Wissenschaft beginnt. Weshalb die Welt der Auftragsforschung durch die beratende Kompetenz derjenigen Wissenschaftler gestaltet wird, die sich später auch um die Projekte bewerben könnten.
duz: Das könnte zu thematischen und damit auch disziplinären Schieflagen bei der Programmgestaltung führen. Wären Forschungsagenden ein Weg, dem vorzubeugen?
Stichweh: Im Prinzip wäre das denkbar. Die Politik hat meist Schwierigkeiten, wissenschaftlich lösbare Probleme zu identifizieren. Das lässt sich am Beispiel der Krebsforschung sehen. Hier legte die Politik in den vergangenen Jahrzehnten viele Programme auf, die gar nicht zur Problemlösung führen konnten, weil die Forschungsfragen zum damaligen Stand des Wissens gar nicht beantwortbar waren. Das erleben wir häufig. Dass die Politik ein Problem definiert, dessen soziale Relevanz niemand bestreiten wird, aber dessen Lösbarkeit eben schlichtweg nicht vorhanden ist. Im Alltag der Antragsforschung wird deshalb dazu übergegangen, die Probleme umzudefinieren, um Lösungen zu erzielen. Die Krebsforschung ist dafür erneut ein sehr gutes Beispiel. Es gab Programme, die über Jahrzehnte liefen und nicht unmittelbar zum erhofften Ergebnis beitrugen, weil das wissenschaftlich zum damaligen Stand gar nicht möglich war, in denen dann aber biomedizinisches Grundlagenwissen erarbeitet wurde, das sich später als hilfreich erwies.
„Im unglücklichen Fall wird Geld weggeworfen“
duz: Na bitte, dann klappt es doch!
Stichweh: Das ist aber noch ein glücklicher Fall! Im unglücklichen Fall führt die politisch beauftragte Forschung dazu, dass Geld einfach weggeworfen wird. Man muss sich hier einmal die Größenordnung vor Augen führen. Der jüngste DFG-Förderatlas zeigt, dass die DFG-Fördervolumina von 2011 bis 2013 ungefähr 7,5 Milliarden Euro betrugen. Im gleichen Zeitrum wurden allein vom Bundesforschungsministerium 9 Milliarden Euro für die Auftragsforschung zur Verfügung gestellt. Da muss man sich schon fragen, ob all diese Projekte wirklich gut durchdacht, konzipiert und evaluiert wurden. Ob die Kontroll und die Auswahlmechanismen an der Stelle funktionieren, das ist eine offene Frage. Und, mehr noch, es ist eine politische Frage, die wir als Wissenschaftler stellen müssen.
duz: Sie ernsthaft und rechtschaffen zu beantworten, dürfte aber nicht unbedingt im Interesse aller Wissenschaftsdiziplinen sein. Diejenigen, die es verstehen, den politischen Prozess der Problemidentifikation in ihrem Sinn zu beeinflussen, könnten hier viel Geld verlieren.
Stichweh: In allen demokratischen Systemen sind Institutionen der Kopplung von Wissenschaft und Politik bei den Verfahren der Problemidentifikation entstanden. Die Wissenschaft tritt hier zunächst als Berater auf, später als Nutznießer. Die Beratungsgremien haben enormen Einfluss darauf, was wie und in welchem Umfang erforscht wird. Von ihnen hängt ungeheuer viel ab. Im Grunde entscheiden sie über die Qualität der Wissenschaft, die erreichbar ist.
duz: Von der Klasse der Problemdefinition in der Auftragsforschung hängt die Klasse der Wissenschaft ab. Doch wie lässt sich sicherstellen, dass nicht nur die starken Wissenschaftsdisziplinen an der Definition mitwirken, sondern auch weniger starke Disziplinen?
Stichweh: Der Wissenschaftsrat hat vor gut einem Jahr ein Positionspapier verabschiedet, mit dem er die Debatte über die sogenannten Großen Gesellschaftlichen Herausforderungen anstoßen wollte. Ich stehe diesen Zuspitzungen mit einer gewissen Skepsis gegenüber. Derlei Versuche bergen immer die Gefahr, irgendwelchen Moden nachzulaufen. Probleme, die heute vielleicht als relevant erscheinen, können schon morgen in ihrer Bedeutung von anderen verdrängt werden. Das dafür investierte Forschungsgeld verpufft. Das kann bei den marktähnlichen Prinzipien der DFG-Fördermechanismen nicht geschehen. Hier wird kleinteilig gearbeitet und nicht das ganze Geld in die Lösungssuche für ein Riesenproblem gesteckt, von dem man vielleicht bald schon sehen wird, dass es viele weitere Fragen gibt, die gleich wichtig oder bedeutsamer sind. Wir müssen auch davon ausgehen, dass es nicht nur eine Handvoll gesellschaftlicher Probleme gibt, sondern Tausende. Und es gibt viele Fragen, die vielleicht nicht so groß sind, aber mindestens genauso wichtig. So wie es kleinere, aber nicht weniger bedeutsame Probleme gibt, gibt es auch kleine Fächer, die im Kanon der wissenschaftlichen Disziplinen vernachlässigt werden und mit ihnen Fragestellungen, die vielleicht gerade nicht im Fokus der Öffentlichkeit stehen.
duz: Wie lässt sich dafür sorgen, dass in der Auftragsforschung nicht nur die richtigen Probleme definiert werden, sondern auch die Wissenschaft in ihrer gesamten Breite zur Lösungssuche herangezogen wird?
Stichweh: Hier kann der Imperativ des Pluralismus helfen. Es ist immer problematisch, sich auf Weniges zu konzentrieren. Dabei besteht immer die Gefahr, dass Dinge aufgeblasen werden, die vielleicht nur Probleme unter vielen anderen, nicht aber entscheidende Probleme sind. Es ist wichtig, vielen Problemidentifikationen, vielen Lösungswegen, vielen Disziplinen, vielen Forschungszugängen eine Chance zu geben. Die Kraft des Pluralismus scheint mir unabweisbar. Doch genau sie kommt unter die Räder.
duz: Diese Gefahr besteht aber nicht nur bei der Auftragsforschung.
Stichweh: An der Debatte zu den Großen Gesellschaftlichen Herausforderungen können Sie sehen, dass bei deren Benennung meist auf Fragen abgestellt wird, die etwas mit Technik und Ingenieurwissen zu tun haben. Gesellschaftliche Fragen werden dabei kaum verhandelt.
„Ingenieurfragen schieben sich in den Vordergrund“
duz: Welche zum Beispiel?
Stichweh: Gleichheit, Armut oder auch Korruption, das Wissen und die Bildung des Individuums. Es gibt sehr viele Probleme des menschlichen Zusammenlebens, die in den Katalogen der Großen Gesellschaftlichen Herausforderungen nicht auftauchen. Das könnte in der Konsequenz dazu verführen, Geistes- und Sozialwissenschaften für nicht so relevant zu halten. Wenn man von vornherein das Problemverständnis auf Ingenieurfragen einengt, braucht man auch nur noch Ingenieurwissen. Dann fallen eben ganze Wissenschaftsklassen heraus.
duz: Sind denn die Ingenieurklassen besser in der Problemidentifikation und im Versprechen, die Fragen dann auch zu lösen?
Stichweh: Es hat sicher etwas damit zu tun, dass sich historisch eine Art eine Suprematie derjenigen entwickelt hat, die aus der Perspektive der Natur und Ingenieurwissenschaften über Große Gesellschaftliche Herausforderungen sprechen. Das haben wir überall auf der Welt, aber noch stärker in autoritären Staaten. Es ist auffällig, dass gerade dort die Ingenieurwissenschaften gestärkt werden, während die Geistes- und Sozialwissenschaften vernachlässigt werden. Ein Grund mag sein, dass letztere als Oppositionswissenschaften gelten. Wir haben die Tendenz auch in demokratischen Systemen. Im Wahlkampf tauchen meist Fragen zu Ungleichheit und Armut auf, wenn es dann aber um die Gestaltung der Wissenschaftspolitik geht, treten Fragen des gesellschaftlichen Zusammenlebens in den Hintergrund. In den Vordergrund schieben sich statt dessen Ingenieurfragen, was die Suprematie der Ingenieur- und Naturwissenschaften perpetuiert.
duz: Der Wissenschaftsphilosoph Thomas Kuhn hat die Wissenschaft als eine Abfolge von Phasen der Normalwissenschaft und der revolutionären Wissenschaft beschrieben. Lässt sich Auftragsforschung, bei der ja oft die Politik die Themen definiert, als eine Form der Normalwissenschaft verstehen, einer Wissenschaft also, in der Fortschritte gemacht werden können, die im besten Fall irgendwann zu revolutionären Schritten führen?
Stichweh: So könnte man das sehen. Wenn wir noch einmal die DFG und den ERC als Beispiel nehmen, dann kann man sagen, dass es auch dort nicht in jedem einzelnen Fall um revolutionäre Wissenschaft geht, aber eben um eine erkenntnisgetriebene Forschung, bei der es wahrscheinlicher wird, dass irgendwann mal revolutionäre Wissenschaft geschieht. Demgegenüber müssten dort, wo die Politik mit der Erteilung von Forschungsaufträgen aktiv ist, eigentlich Fragen gestellt und behandelt werden, die verlässlicher beantwortbar sind. Es müssten Fragen sein, bei denen man davon ausgehen kann, dass man bei einem bestimmten Geld und Zeiteinsatz eine Antwort haben wird. Dann stellt sich aber immer noch die Frage, wer die in diesem Sinne normalwissenschaftlichen Probleme definiert. Die Politik wird das allein nicht leisten können. Sie muss die Wissenschaft zurate ziehen. Und so kommen wir eben wieder bei der Frage an, welche Mechanismen und Arten der wissenschaftlichen Politikberatung bei dem Versuch der Politik, der Wissenschaft Aufträge zu erteilen, sinnvoll sind und institutionalisiert werden sollten, um sicher zu stellen, dass dabei gute, aussichtsreiche Forschung gefördert wird.
duz: Wäre das eine Aufgabe für den Wissenschaftsrat, hier die Basis zu schaffen?
Stichweh: Das ist sicherlich nicht verkehrt.
Die Fragen stellte Christine Prußky
Rudolf Stichweh
Der Soziologe und Systemtheoretiker Prof. Dr. Rudolf Stichweh: Jahrgang 1951, hat eine Dahrendorf Professur für die Theorie der Modernen Gesellschaft inne und ist Direktor des „Forum Internationale Wissenschaft“, beides an der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn. Stichweh war Schüler des Systemtheoretikers Niklas Luhmann. Er forschte und lehrte jahrelang an der Universität Bielefeld. Zu seinen Forschungsschwerpunkten gehört neben der Theorie der Weltgesellschaft und der Systemtheorie unter anderem auch die Soziologie der Wissenschaften und der Universitäten.
DUZ Magazin 05/2016 vom 22.04.2016