Anstoßen: Vom Pakt zum Paket
Insgesamt rund 38,5 Milliarden Euro geben Bund und Länder zwischen 2007 und 2023 über den Hochschulpakt für neue Studienplätze und optimierte Lehrangebote aus. Das ist die gute Nachricht. Die schlechte: Das ist zu wenig. Der nachhaltige digitale Wandel an Hochschulen erfordert ein Infrastrukturprogramm Lehre. Eine Erklärung. Von Michael Jäckel
Eine Gesellschaft ist, vereinfacht formuliert, ein System aufeinander bezogener Rollen, in dem die Kompetenz zu Sonderaufmerksamkeiten trainiert wird. Für Universitäten bedeutete dies in der Vergangenheit vor allem Arbeit an der Reputation des jeweiligen Fächerspektrums, wobei Forschung in der Öffentlichkeit mehr Resonanz erfuhr als Lehre. Spätestens seit der Bologna-Reform steht aber häufig gerade die Lehre in der Kritik. Programme zur Qualitätssicherung nehmen seitdem zu, die Wertschätzung im akademischen Kontext steigt. Die Campus-Universität fühlt sich herausgefordert, wenn ihr der Status eines Relikts überkommener Strukturen zugeschrieben wird. Präsenz sei gleich Kontrolle, Flexibilität sei wichtiger als Interaktion. Das Stichwort „Digitale Lehre“ steht dabei für das Pro und Contra der Präsenzlehre, für ein Pendeln zwischen komplementären und substitutiven Lösungen, gelegentlich für Internationalität ohne Mobilität: Treffpunkt „YouTube“.
Als das Hochschulforum Digitalisierung vergangenen September zu seiner Halbzeitkonferenz nach Berlin rief, wählte es den Titel „Digital turn“. Richtungswechsel gab es in der Wissenschaft häufiger. Hier aber ging es nicht mehr um eine Disziplin oder Fächergruppe, die eine Neuausrichtung erlebt, sondern um eine Zäsur, einen epochalen Wandel, den man dem 21. Jahrhundert ohnehin gerne zuschreibt. Es ist offen, wo diese Expedition vorläufig enden wird. Stanislaw Lem, ein Meister des Zukunftsromans, meinte einmal, dass visionäre Abenteuer angesichts der Rasanz paralleler Entwicklungen ihren Reiz verloren haben.
Ein junges Beispiel bestätigt ihn: Als die Debatte über Massive Open Online Courses die öffentliche Meinung erreichte, sahen darin einige den umfassenden Zugriff auf akademische Lehrprogramme. Wenig später erfolgte von prominenter Stelle eine Korrektur. Prof. Dr. Sebastian Thrun riet im September 2013: „Der Glaube, dass Bildung durch ein Computerprogramm ersetzt werden kann, ist ein Mythos. Der menschliche Kontakt und das Mentoring machen den entscheidenden Unterschied bei den Lernergebnissen aus.“
Dieses Zwischenfazit bedeutet wenig. Wer nun die Arme verschränkt und der Zukunft gelassen entgegensieht, unterschätzt, wie lange Prozesse funktionaler Differenzierung dauern können. Das Pendel schlägt zwischen Beharrung und Innovation. Auch im Hochschulwesen steht man vor der Frage, was bleiben kann, was besser und was neu gemacht werden muss. Klare Richtungswechsel sind allerdings gegenwärtig nicht erkennbar.
Seit Jahren wird die Universität etwa mit der Vorstellung konfrontiert, dass im Zuge des digitalen Wandels die Präsenzlehre und mit ihr die Universität als Ort der Begegnung zwischen Lehrenden und Lernenden an Bedeutung verlieren würde. Die Gemeinschaft der Lehrenden und Lernenden sei Kern des „universitas“Gedankens, aber die Praxis zeige, dass sich die Formen der gegenseitigen Anwesenheit in eine Richtung entwickeln, die diese Verbundenheit aus Verpflichtung auf einen gemeinsamen Wertekanon nicht mehr adäquat widerspiegele.
Als Prof. Dr. Clark Kerr, unter anderem zwölfter Präsident der University of California, im Jahr 1963 den Begriff „Multiversity“ verwandte, galt ihm die wachsende Zahl an „communities“ noch als Ausdruck einer Differenzierung dieses Kanons. Die Vielstimmigkeit unter einem Dach sage mehr über den Zustand einer akademischen Idee aus als der Glaube an einen Grundkonsens. Mit dem Begriff der „Anwesenheitsinstitution“ hat der Bonner Wissenschaftssoziologe Prof. Dr. Rudolf Stichweh auf eine Tradition hingewiesen, die noch ganz im Sinne der „brick university“ interpretiert werden kann. Hier soll aber für eine Verzahnung von „brick university“ und „click university“ geworben werden, damit diese Gegensätze sich zugunsten eines modernen Campus ergänzend weiterentwickeln.
Nehmen wir als Beispiel die Bibliothek. Der Satz „Far from libraries being displaced by information technology, information technology has moved into libraries“ illustriert den Bedeutungswandel des wissenschaftlichen Arbeitens. Die Bibliothek als Ort wird nicht mehr nur mit gefüllten Buchregalen assoziiert, sondern mit einer Umgebung, die reell und virtuell zugleich ist. Als das Trinity College Dublin im Jahr 2010 eine Erweiterung erfuhr, bestaunte man nicht „heavy book stacks“, sondern das Lounge-Konzept „for the mind“. Die digitale Bibliothek ist also nicht nur ein Synonym für ein zentrales Portal zum kulturellen Erbe, sondern ein Modernisierungsprogramm, das einen beliebten Ort belebt. Zur Neugestaltung gehören heute Lautlosbereiche, Lernlounges, Lesecafés. Die Bibliothek bleibt somit ein Ort, an dem sich selbstgesteuerte Lehre fortsetzt und der forschende Geist ein stimulierendes Umfeld vorfindet. „Access“ ist dafür unabdingbar, wie „open“ dieser sein kann, wird kontrovers diskutiert.
Hierzulande sind Investitionen in das Arbeitsumfeld an einer Universität mühsame und langwierige Bauvorhaben, denen Priorität abzugehen scheint – Instandhaltungen geht es ähnlich.
Eine weitere Beobachtung: ELearning, so stellte Prof. Dr. Christoph Igel, Leiter des „Center for Learning Technology“ im Deutschen Forschungszentrum für Künstliche Intelligenz Berlin, vergangenen Herbst öffentlich fest, werde immer noch stiefmütterlich behandelt. Auch fehlten die Impulse aus der Studierendenschaft.
„Nachhaltigkeit bleibt ein unerfülltes Anhängsel“
Die Suche nach besseren Konzepten, wie Lernbedürfnisse und technologische Optionen im Dienste des akademischen Auftrags optimaler zueinander finden könnten, dauert nun schon einige Zeit an. Viele Diskurse verlaufen allerdings nicht linear, sondern in Wellen. Vorhandene Strukturen werden durchaus gestört, Ideen bleiben aber häufig auf der Projektebene stecken, Nachhaltigkeit bleibt ein unerfülltes Anhängsel.
Sich mithilfe digitaler (Lern-)Umgebungen zu orientieren und zu organisieren, ist heute so selbstverständlich geworden, dass ein Rückfall hinter Mindeststandards die Qualität des Standorts negativ beeinflusst. Die Hochschule als digitale Lernumgebung entwickelt sich über Wettbewerbe punktuell weiter, jedoch nicht in der Fläche. Aus den Töpfen der Grundausstattung müssen heute Strukturen am Leben erhalten werden, die sich eher ungesteuert entfaltet haben. Vor 20 Jahren war man stolz auf neue PC-Pools, die im Umfeld zentraler Einrichtungen, etwa in Bibliotheken, unvermindert stark frequentiert werden.
Lehrende und Lernende nutzen ihre eigenen mobilen Endgeräte auf dem Campus und benötigen Schnittstellen zu den zentralen Server-Einrichtungen. Die Service-Anforderungen steigen, während die zuständige Einheit kaum mitwächst. Der Umgang mit Daten wird immer fahrlässiger, weil man sich in sicheren IT-Umgebungen glaubt. Das ist zur Herkules-Aufgabe geworden. „Bring your own device“ ist einerseits eine Einladung, der Individualisierung und Entfaltung treu zu bleiben, andererseits erzeugt es Verpflichtungen auf der Ebene der akademischen Institution, die nicht zufriedenstellend erfüllt werden können. Nicht nur E-Learning ist ein Stiefkind, auch die Grundausstattung in essenziellen Bereichen.
Die Erwartungen von Lehrenden und Lernenden an die technologische Ausstattung steigen schneller, als sie erfüllt werden können, die Strukturen werden unwillkürlich als defizitär erlebt. Oft geht es dabei um das Verhältnis sozialer zu technologischen Entwicklungen. Dazu passt ein Wortspiel aus der Zeit der Weimarer Republik, das ein Bibliothekar zur Illustration der Zukunft der Bibliotheken verwandt hat: „Die alte Schönheit ist nicht mehr wahr und die neue Wahrheit ist noch nicht schön.“ Dieses Wortspiel ließe sich leicht übertragen auf die Organisation des Studiums, auf die Rolle des Wissenschaftlers in seiner Disziplin, auf Servicebereiche in der Wissenschaft. Es kommt heute mehr und mehr darauf an, die „öffentliche Meinung“ im Sinne einer allgemeinen Aufmerksamkeitsinstanz zu gewinnen, die politische Ebene von der Irreversibilität der Studienherausforderungen zu überzeugen und Förderinstitutionen auf Handlungsfelder aufmerksam zu machen, die verbindliche und nachhaltige Signale benötigen. Das wäre dann kein Hochschulpakt, sondern ein Hochschulpaket.
Linktipp
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Die Arbeitsgruppe Governance & Policies des im März 2014 als nationale Plattform gestarteten Hochschulforums Digitalisierung hat eine kleine Reihe von Arbeitsberichten vorgelegt.
Internet: www. http://tinyurl.com/zfrykgk
DUZ Magazin 03/2016 vom 26.02.2016