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Eine Charta, viele Meinungen

Brüssel will einheitliche Regeln für den Zugang zu gemeinsamen Forschungsinfrastrukturen in Europa schaffen. Ein Kraftakt, der Karrierechancen für Forschende in Europa beeinflussen wird.

Die Deutsche Zentralbibliothek für Wirtschaftswissenschaften (ZBW) ist mit 4,38 Millionen Büchern die weltweit größte Spezialbibliothek auf diesem Gebiet. Weil sich dort Wissenschaftler rund um den Globus zu mannigfaltigen Themen der Ökonomie informieren können, zählt die ZBW zu den rund 400 wichtigen Forschungsinfrastrukturen in Europa – so wie unter anderen das Cern, das Deutsche Elektronen­Synchrotron oder das GSI Helmholtzzentrum für Schwerionenforschung. Das Interesse von Wissenschaftlern an den Einrichtungen ist groß. Da jedoch diese Institutionen die Erlaubnis zu forschen unterschiedlich regeln, will die EU­Kommission den Zugang vereinheitlichen. Geplant ist, eine Europäische Charta für den Zugang zu Forschungsinfrastrukturen im März in Amsterdam vorzulegen.

Bislang gibt es einen Entwurf, auf den sich die Kommission gemeinsam mit Vertretern des Forums ESFRI (European Strategy Forum on Research Infrastructures), e­RIG (European e­Infrastructure Reflection Group) und Hochschulverbünden wie der EUA (European University Association) und der Leru (League of European Research Universities) im vorigen Sommer geeinigt hat. Doch damit ist nicht jeder zufrieden.

„Es ist gut, dass es ein grundsätzliches Einverständnis für gemeinsame Regeln für die Nutzung von Infrastruktur gibt, aber die Charta muss klarer unterscheiden zwischen Großgeräten, wie sie etwa das Cern bereitstellt, und Informationsinfrastrukturen“, sagt ZBW­Direktor Professor Dr. Klaus Tochtermann. Und zielt damit auf die unterschiedlichen Interessenvertreter ab, die alle gemeinsam an der Ausgestaltung der Europäischen Charta mitwirken wollen – wie ESFRI, zuständig für Forschungsinfrastrukturen, und e­RIG, die die Informationsinfrastrukturen im Blick hat. Tochtermann erläutert seinen Kritikpunkt anhand eines Vergleichs: Gebühren für den Zugang sollen zur nachhaltigen Finanzierung der Infrastruktur beitragen, heißt es in der Charta. „Bei Großgeräten ist das nachvollziehbar, weil Kosten für die Nutzung anfallen“, meint Tochtermann. Für Informationsinfrastrukturen sei dies aber kontraproduktiv, etwa Kosten für Open­Access­Publikationen zu erheben. „Verlagen könnte die Formulierung in der Charta beispielweise eine Tür öffnen, offen lizenzierte Literatur kostenpflichtig zugänglich zu machen“, fürchtet er.

Auch Dr. Alexia Katsanidou, beim Gesis – Leibniz­Institut für Sozialwissenschaften Leiterin des Datenarchivs, findet die Charta unvollständig. Es fehlten klare Aussagen zum Thema Transparenz. Nutzten Wissenschaftler Datensätze aus Archiven, müsse deren Herkunft zitiert werden, sagt sie. Eine EU­weite Vorgabe sei wichtig, damit Journals klare Regeln aufstellen. Zudem müsse die Charta Richtlinien vorgeben, wie Daten besser gepflegt werden können. „Forschungsförderer geben oft nur Geld, um Daten zu erheben, nicht aber, um die erhobenen Daten zu dokumentieren und aufzubereiten für die spätere Nutzung“, kritisiert Katsanidou.

Positiv fällt dagegen das Urteil der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) aus. „Es ist gelungen, in der Charta Qualitätsansprüche hinsichtlich einer effektiven Nutzung der verschiedensten Arten von Forschungsinfrastrukturen zusammenzufassen“, resümiert Dr. Christian Renner. Er vertritt die DFG­Gruppe Wissenschaftliche Geräte und Informationstechnik in europäischen Ausschüssen. Positiv seien etwa die Definitionen der Zugangsregelungen, die Betonung unterschiedlicher Finanzierungsmodelle und die Angabe, dass Wissenschaftler den Beitrag der Infrastruktur zum wissenschaftlichen Output anerkennen sollten. Auch Lidia Borrell­Damián, bei der EUA Leiterin der Abteilung Forschung und Innovation, zieht zufrieden Bilanz: „Die Charta regelt den fairen Zugang für Wissenschaftler.“ Entscheidend sei, dass dafür die Exzellenz des jeweiligen Forschungsantrags und nicht allein der bisherige wissenschaftliche Erfolg bewertet werde.

Bis Mitte März diskutieren EU­Kommission und die Forschungsorganisationen über weitere Details. Sie wollen noch Antworten von 106 Forschungseinrichtungen berücksichtigen, die die EU im vorigen November in einer Studie veröffentlichte. „Die Charta gibt die große Linie vor, auf die sich viele Organisationen nach langen Diskussionen geeinigt haben“, sagt Annika Thies, Leiterin des Brüsseler Büros der Helmholtz­Gemeinschaft. Sie jetzt noch mit Details zu komplexen Themen wie Dateninformationsinfrastrukturen zu ergänzen, wäre kontraproduktiv, meint Thies. Und für DFG­Vertreter Renner liegt die Abgrenzung darin, möglichen Vorschlägen aus der Politik zu folgen. „Man sollte die Charta nicht verwässern“, sagt er. Forscher sollten mit der Charta in den nächsten drei bis fünf Jahren erst einmal Erfahrungen sammeln.

Im Überblick: Europäische Forschungsinfrastrukturen

Im Überblick: Große europäische Forschungsinfrastrukturen und ihre Aufgaben

Cern
Rund 6500 Wissenschaftler aus 80 Nationen forschen in der Europäischen Organisation für Kernforschung (Cern) bei Genf. Sie untersuchen insbesondere mit der Hilfe von Teilchenbeschleunigern, wie das Universum aufgebaut ist.

European Social Survey
Die wissenschaftliche Umfrage European Social Survey (ESS) untersucht soziale und politische Einstellungen von Bürgern in mittlerweile mehr als 30 europäischen Staaten. ESS gilt als die umfassendste sozialwissenschaftliche Erhebung in Europa.

Iagos
Unter Federführung des Forschungszentrums Jülich bauen Forscher mit dem Iagos (In­service Aircraft for a Global Observing System) ein weltweit einmaliges Instrument zur globalen Erdbe­ob­achtung auf. Sie entwickeln dafür High­Tech­Instrumente, um die chemische Zusammensetzung der Atmosphäre zu erfassen.

Emma
Sieben europäische Forschungsinstitute, darunter das Europäische Labor für Molekularbiologie in Heidelberg, formen das Emma (European Mouse Mutant Archive). Das Konsortium archiviert Mausmutanten mittels Kryokonservierung, also des Einfrierens von Zellen und Gewebe in flüssigem Stickstoff.

Die Charta in Kürze

Die Charta in Kürze

Der Entwurf einer Europäischen Charta für den Zugang zu Forschungsinfrastrukturen formuliert auf acht Seiten ein gemeinsames Verständnis zum Zugang zu Infrastrukturen wie Großgeräten, Datenbanken, Sammlungen und Archiven. Das Papier beinhaltet Definitionen, Prinzipien und Richtlinien, wie Einrichtungen den Zugang regeln können. Rechtlich bindend ist dieser Leitsatz aber nicht. Betreiber der Infrastruktur können entscheiden, ob sie die Charta unterzeichnen oder nicht. Die Niederlande planen ihre Präsentation im Rahmen der niederländischen EU-Ratspräsidentschaft für Mitte März.

Neuer Fahrplan für Europa

Neuer Fahrplan für Europa

Forschungsinfrastrukturen, die von europaweitem Interesse sind, will das Forum ESFRI (European Strategy Forum on Research Infrastructures) identifizieren. So soll der Forschungsstandort Europa gestärkt werden. Die Roadmap-Neuauflage ist für März geplant.

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