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Hunderttausende Menschen wandern nach Europa, Politik und Zivilgesellschaft reagieren überfordert. Selten war guter Rat so gefragt wie dieser Tage. Doch die Antworten der Wissenschaft sind noch leise. Auch, weil jahrzehntelang kaum jemand auf sie hörte.

Der Terminkalender von Prof. Dr. Andreas Pott ist voll. Egal, ob Zeitung, Radio, Fernsehen oder Politik – jeder will was von ihm. „Es gibt einen großen Bedarf an Kommentierung, Erklärung und Reflexion rund um das Thema Flucht“, sagt  Pott. Er ist Migrationsforscher und leitet das Institut für Migrationsforschung und Interkulturelle Studien (IMIS) an der Universität Osnabrück. Seit 25 Jahren analysieren dort Forscher internationale Wanderungsbewegungen, Formen der Migration und deren Folgen. Führte die Migrationsforschung jahrelang ein Dasein vor allem in der Fachöffentlichkeit, so ist ihre Expertise seit einigen Jahren außerhalb des Elfenbeinturms enorm gefragt.

Bis zu einer Million Menschen aus Staaten wie Syrien, Afghanistan oder Irak könnten aktuellen Prognosen zufolge bis zum Jahresende nach Deutschland kommen. Das wirft viele Fragen auf – auch an die Wissenschaft. Zum einen an Fachleute wie Andreas Pott, zum anderen an die Hochschule als Institution und ihre Aufgabe nicht nur als Bildungseinrichtung, sondern auch als gesellschaftspolitischer Leuchtturm in einem Land, in dem die Willkommenskultur wohl kaum als flächendeckend zu bezeichnen ist.

Große Chance für Forscher

Migrationsforscher Pott erkennt in den Erwartungen an seine Disziplin eine „große Chance“. „Die Migrationsforschung beschäftigt sich schon lange mit den Bedingungen, Formen und Folgen von Migration“, sagt er. „Die Zeit ist reif, Migrations- und Flüchtlingspolitik als gesellschaftspolitische Aufgaben ersten Ranges zu begreifen und endlich auch längerfristige Konzepte zu entwickeln, die die Politik der Ad-hoc-Maßnahmen überwindet.“ Erkenntnisse zur Migration, zur Integration und begleitende Befunde etwa aus Sozial-, Kultur- und Bildungswissenschaften fänden in der Politik zunehmend Gehör.

Prof. Dr. Wolfgang Kaschuba vom Berliner Institut für empirische Migrations- und Integrationsforschung (BIM) an der Humboldt-Universität stimmt seinem Fachkollegen nur teilweise zu. „Die Wissenschaft hat dazu beigetragen, dass sich in der Politik das Verständnis durchgesetzt hat, dass Deutschland sich öffnen muss und eine Zuwanderung notwendig ist“, sagt Kaschuba. Dies ist aus Sicht der Wissenschaft der erfreuliche Teil; leider wird die Expertise auch oft in den Wind geschlagen. „Wir haben immer wieder von vielen administrativen und gesetzlichen Regelungen abgeraten, die nicht nur zur Kasernierung der Flüchtlinge führen, sondern diese auch vom Arbeits- und Bildungsmarkt fernhalten“, sagt der BIM-Direktor. Doch bislang ist dieser Rat in der Praxis weitgehend verhallt.

Scheinanhörungen im Bundestag

Der Kulturwissenschaftler Prof. Dr. Werner Schiffauer von der Europa-Universität Viadrina Frankfurt/Oder wird noch deutlicher. „In der Politik rennen wir oft gegen eine Mauer“, sagt Schiffauer. Er ist Vorsitzender des Rats für Migration. Gesetzesvorlagen des Bundesinnenministeriums würden in Verhandlungen zwischen den Parteien und mit den Ländern so festgezurrt, dass sich die¬se Pakete kaum mehr aufschnüren ließen. „Viele Expertenanhörungen im Bundestag sind deshalb oft nur eine Scheinanhörung“, sagt Schiffauer. Ein politischer Wille, das Gesetz besser zu machen, sei kaum vorhanden. Auch deswegen habe sich das Expertengremium neu aufgestellt – weg vom Modell eines Sachverständigenrats hin zu einem Netzwerk der Migrationswissenschaftler, die ihr Fachwissen jetzt offensiver der Öffentlichkeit mitteilen. „Das verschafft uns eher Gehör und gibt uns die Hoffnung, auf diesem Weg eine bessere Asylpolitik durchzusetzen“, sagt Schiffauer.

Doch nicht nur Migrationswissenschaftler sind in der aktuellen Flüchtlingsdiskussion gefordert, auch die Hochschulen stehen in der Pflicht. Denn etliche der Flüchtlinge erwägen ein Studium. Mittlerweile durchzieht eine Vielzahl von Initiativen vom Deutschkurs über den kostenlosen Gasthörerstatus bis zur Unterstützung bei der Wohnungssuche die Hochschulen des Landes. „Flüchtlinge zu integrieren ist eine gesellschaftliche Herausforderung, an der sich auch die Hochschulen beteiligen müssen“, sagt die für Internationales zuständige Vizepräsidentin der Universität Göttingen, Prof. Dr. Hiltraud Casper-Hehne. Mit Unterstützungsangeboten wolle man die Flüchtlinge zur Teilnahme an Bildung befähigen. Daneben wolle man auch Konferenzen und Ringvorlesungen zu den Themen Migration und Integration für die Öffentlichkeit anbieten.

Das tut vor allem in Regionen wie Sachsen Not, wo Pegida für Ängste gerade bei den internationalen Wissenschaftlern sorgt. „Die Hochschulen müssen ein noch deutlicheres positives Signal für Weltoffenheit und Willkommenskultur im Zusammenhang mit der Flüchtlingskrise abgeben“, fordert Dr. Kristina Musholt, Philosophieprofessorin an der Universität Leipzig und Mitglied der Jungen Akademie. So sollten die Hochschulen flexiblere Möglichkeiten zur Anerkennung von Leistungen oder für die Zulassung zum Studium schaffen. Zugleich solle sich aber jeder Wissenschaftler engagieren, egal welcher Fachrichtung. „Ich sehe mich in der gesellschaftlichen Verantwortung, für die Integration dieser Menschen meinen Beitrag zu leisten“, sagt Musholt.

Situation bleibt angespannt

Noch ist unklar, wie viele Flüchtlinge ein Studium aufnehmen werden. Unbestritten ist, dass sich auch im kommenden Jahr viele Menschen auf den Weg nach Deutschland machen werden. „Die Situation wird auf absehbare Zeit sehr angespannt bleiben“, sagt Thomas Liebig, Migrationsexperte der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD). In Ländern wie Nigeria, Senegal und Syrien sei der Migrationsdruck sehr hoch, in die EU zu flüchten. „Wenn unsere Angebote auf Dauer und nachhaltig sein sollen, wird das für uns eine echte Herausforderung“, sagt die Göttinger Vizepräsidentin Casper-Hehne. Die lauter werdenden Stimmen aus den Hochschulen hat auch Bundesbildungsministerin Prof. Dr. Johanna Wanka vernommen. Sie kündigte Mitte November an, den Hochschulen für die Integration der Flüchtlinge in den kommenden Jahren rund 100 Millionen Euro zur Verfügung zu stellen. Damit will sie 10.000 zusätzliche Plätze in Studienkollegs, Testverfahren für Studierende oder Studierendeninitiativen finanzieren.

Während das Geld des Bundes von 2016 an als Soforthilfe für die Hochschulen bereitgestellt wird, sind Rufe nach neuen Forschungsprogrammen bislang ausgeblieben. Wie notwendig diese wären, zeigt sich auch dieser Tage, da die Wissenschaft längst nicht auf alle Fragen Antworten parat hat. Zum Beispiel beim Thema Flüchtlingsforschung: „Die Themen Flucht, Asyl oder Zwangsmigration wurden seit Mitte der 90er-Jahre in der Forschung vernachlässigt“, sagt der Politikwissenschaftler Dr. Olaf Kleist, der an der Universität Oxford forscht. Er hat das Netzwerk Grundlagen der Flüchtlingsforschung mit aus der Taufe gehoben, in dem sich nun Flüchtlingsforscher quer durch die Republik regelmäßig treffen.

Das Projekt ist am Osnabrücker IMIS angesiedelt und wird für drei Jahre mit rund 50.000 Euro von der Deutschen Forschungsgemeinschaft finanziert. „Es braucht eine fundamentale Auseinandersetzung über grundlegende Begriffe, Konzepte und Ansätze unter Forschern, die zuvor oft nichts voneinander wussten“, sagt Kleist. In dem Netzwerk werde also nicht nur darüber diskutiert, wie der Begriff Flüchtling zu definieren sei, sondern auch darüber, mit welcher Ethik Wissenschaftler mit Flüchtlingen umgehen und welchen Fragen sie sich nach der eigenen Verantwortung oder nach der Distanz zur Politik stellen sollten.

Mehr Grundlagenforschung wie etwa zur Modellierung von Migrationsprozessen ist aus Sicht des Migrationsratsvorsitzenden Schiffauer auch deshalb wichtig, weil etliche Szenarien etwa des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge auf zu stark vereinfachten Methoden basieren. „Migration lässt sich nicht über einzelne Faktoren wie etwa Einkommensunterschiede modellieren, dafür braucht es wesentliche komplexere Methoden“, sagt er. Die aber würden bislang nicht erprobt.

Hinzu kommt das Problem, dass es der Migrationsforschung an institutioneller Unterstützung fehlt. „Es werden sehr viel mehr Fördermittel eingesetzt, um das Verhalten von Bienenvölkern zu erforschen als für das Verhalten wandernder Menschen“, moniert BIM-Direktor Kaschuba. Um Migration künftig intensiver zu erforschen, brauche es zudem Nachwuchswissenschaftler, die die Situation biografisch und geografisch kennen oder nachvollziehen können. „Wir müssen Hochschulabsolventen zum Beispiel aus der Türkei oder dem Iran Karrieremöglichkeiten anbieten“, sagt Kaschuba. Derzeit sei eine Karriere in der Migrationsforschung an einer Hochschule kaum attraktiv, da es nur wenige feste Stellen gebe.

Zuzug von Flüchtlingen verändert Hochschulen

Der Zuzug von Flüchtlingen wird die Hochschulen verändern. „Wir reden immer von Internationalisierung und denken dabei an Studierende und Wissenschaftler aus den USA, Großbritannien oder China. Die Flüchtlinge aus dem Osten bringen aber einen ganz anderen kulturellen Hintergrund mit“, sagt Prof. Dr. Ulrike Beisiegel, als Vizepräsidentin der Hochschulrektorenkonferenz (HRK) zuständig für Governance. Die Hochschulen werde dieser Internationalisierungsschub stärken. „Dies wird zu mehr Offenheit, Transparenz und Diversität führen“, meint Beisiegel.

Darauf setzt auch Migrationsforscher Pott. „Es braucht ein systematisches Aufstellen der Hochschule über den Moment hinaus“, sagt er. Vorbildlich findet er die Universität Duisburg-Essen, deren Slogan „Offen im Denken“ den Gedanken des sozialen Aufstiegs auf den Punkt bringe. „Die Hochschulen müssen noch aktiver mit dem Thema Migration und Integration umgehen“, meint Pott, „sie dürfen sich nicht treiben lassen.“

 

Shirin (von farsi = süß, ein Frauenname) heißt dieses Kunstobjekt, das unsere Titelstrecke begleitet: Eine abendländisch-christliche Schokoladenfigur - in Staniolpapier - wird zu einer nahöstlich-islamisch verhüllten Frau. Für westliche Betrachter ist die Verschleierte das Stereotyp schlechthin, das die Differenzen zwischen den Kulturkreisen symbolisiert.
Shirin ist Teil der Ausstellung „Farbe und Identität“ des Kölner Künstlers Rozbeh Asmani. Sie wurde im Oktober und November in der Nordrhein-Westfälischen Akademie der Wissenschaften und der Künste in Düsseldorf gezeigt.
 

Rozbeh Asmani
Urheber der Shirin-Serie und erster Künstler im Jungen Kolleg der Nordrhein-Westfälischen Akademie der Wissenschaften und Künste. Er wurde 1983 im Iran geboren und wuchs in Köln auf, wo er heute auch lebt und arbeitet. (Fotos: Andreas Endermann)

 

 

 

Herausforderung Migration

Herausforderung Migration

Weltweit sind derzeit rund 60 Millionen Menschen auf der Flucht. Diese Zahl nennt das Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen (UNHCR) für 2014. Zwei Drittel der Menschen waren Vertriebene im eigenen Land. Das restliche Drittel, rund 20 Millionen Menschen, suchte in anderen Ländern Zuflucht; von ihnen kam die Hälfte aus drei Ländern: Syrien, Afghanistan und Somalia.

Nach Deutschland kommen 2015 schätzungsweise eine Million Menschen. Bis Ende Oktober waren es bereits 800 000.

Nach Europa werden 2016 voraussichtlich 3 Millionen Menschen kommen, schätzte Anfang November die EU-Kommission.

Einen Hochschulabschluss brachten in den vergangenen Jahren rund 20 Prozent der Zuwanderer mit, so der Hochschulbildungsreport 2015 des Stifterverbandes für die Deutsche Wissenschaft. Allerdings werden nicht alle Abschlüsse in Deutschland anerkannt.

Studieren wird ein noch unbekannter Teil der Flüchtlinge. Es gibt bislang keine zuverlässigen Daten. Eine sehr grobe Schätzung von Professor Dr. Jürgen Zöllner im Zusammenhang mit einer Umfrage der Friedrich-Ebert-Stiftung belief sich auf 50 000 Studieninteressierte.

Projekte für geflüchtete Wissenschaftler und Studierende

Projekte für geflüchtete Wissenschaftler und Studierende

  • Wissenschaftlern und Studenten, die nach Deutschland kommen, will Prof. Dr. Carmen Bachmann von der Universität Leipzig helfen, Zugang zu den deutschen Hochschulen zu finden. Sie hat dafür ein Online-Portal eingerichtet.
    Internet: www.chance-for-science.de
  • Mit Stipendien wollen die Alexander von Humboldt-Stiftung und das Auswärtige Amt geflüchtete Forscher unterstützen. Die „Philipp Schwartz-Initiative“ sieht vor, dass ab 2016 deutsche Unis die ausländischen Forscher zwei bis drei Jahre lang aufnehmen und weiterforschen lassen.
  • Die Initiative Academic Experience Worldwide bringt geflüchtete Wissenschaftler mit Hochschulabschluss mit deutschen Studierenden zusammen. Sie bilden dann Tandems zur gegenseitigen Unterstützung.
    Internet: www.aeworldwide.de
  • Vorlesungsmöglichkeiten für geflüchtete Wissenschaftler bietet die Stille Universität („Silent University“). Sie ist ein künstlerisches Projekt.
    Internet:
    http://thesilentuniversity.org/
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