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Querdenker in die Offensive

In Zeiten von Google und Co. scheint Innovation sich vor allem auf technologischem Gebiet abzuspielen. Doch gerade hier müssen Geistes- und Gesellschaftswissenschaften vor- und querdenken, was möglich ist. Ein Plädoyer für einen innovativeren Innovationsbegriff

Das Neue ist immer noch schwer zu denken – diesen Titel trägt eine Festschrift für Dr. Konrad Schily. Der Hochschulpionier hat 1982 Deutschlands erste nicht-staatliche Uni in der Ruhrgebietsstadt Witten und damit einen neuen Typus Hochschule gegründet, wie er im staatlichen System Deutschlands nicht vorgesehen war – damals eine bedeutende gesellschaftliche Innovation. Derartige Neuerungen beginnen in unseren Köpfen. Doch ist es nicht gleichzeitig so, dass das Neue oft überhaupt noch nicht gedacht werden kann?

Ein weiteres Beispiel für eine Innovation, die ihrer Zeit voraus war, findet sich im Jahr 1914 in Frankfurt: Ausgerechnet im ersten Kriegsjahr gründeten dort Bürgerinnen und Bürger Deutschlands erste freie Universität – ausschließlich mit Geld, das sie über viele Jahre privat gesammelt hatten. Die junge Universität, an der erstmals Juden als Professoren berufen werden konnten, galt bald schon als Laboratorium der Moderne.

Zeitgenossen rühmten das experimentierfreudige geistige Klima in den Jahren nach 1918. Die junge Universität zog auch Querdenker an, die anderswo an der Konventionalität eines akademischen Spießertums zu ersticken drohten: Franz Oppenheimer zum Beispiel, der geistige Vater des späteren Bundeskanzlers Ludwig Erhard, war ein solcher „Flüchtling“, der aus Berlin nach Frankfurt kam. Der Nationalökonom und wissenschaftliche Außenseiter gab als erster deutscher Lehrstuhlinhaber für Soziologie entscheidende Impulse für die Idee der Sozialen Marktwirtschaft als „dritten Weg“ zwischen Kapitalismus und Sozialismus – eine überaus bedeutende Innovation. Vordenker vom Schlage Oppenheimers scheinen ausschließlich ihren Kopf und ihre Beobachtungen als Denk-„Labore“ genutzt zu haben, was die Relevanz ihrer Erkenntnisse jedoch nicht schmälerte.

Heute fragen wir uns: Was hat Menschen wie Oppenheimer bewogen, trotz manchmal massiver Widerstände an ihren Ideen festzuhalten? Welcher siebte Sinn ließ sie zu der inneren Überzeugung gelangen, auf dem richtigen Weg zu sein? Vermutlich hatten sie einen starken inneren Kompass und die akademische Freiheit, diesem Kompass über einen vergleichsweise langen Zeitraum ohne äußere Zwänge folgen zu können. Sie hatten Zeit, für ihre Ideen mit guten Argumenten zu werben, um zu überzeugen – und das zunächst ohne empirische Evidenz.

"Wissenschaft muss mehr sein als ein moralischer Reparaturbetrieb."

Oft lösten die Impulse solcher Innovatoren eine weitreichende Wirkung auf Gesellschaft und Geisteswissenschaften aus. Heute jedoch legen wir den Begriff der Innovation oft allzu eng und technikbezogen aus. Durch diese Reduktion auf das Operativ-Technologische besteht aber das Risiko, entscheidende Dimensionen zu übersehen: Innovation schrumpft auf das technisch Machbare und gesellschaftlich Realisierbare beziehungsweise Nicht-Realisierbare. Die Gesellschaft, mitunter sogar unsere Demokratie, erscheinen in diesem Bild als Bremsklötze, die dem technologischen Streben im Wege stehen.

Dabei unterliegt aber gerade das technokratische Denken in seiner Zahlenverliebtheit oft einer Selbsttäuschung über seine eigene Innovationsfähigkeit und seine Grenzen. Ein Beispiel hierfür ist die steigende Flut weltweiter Veröffentlichungen in wissenschaftlichen Fachmagazinen. Diese gilt oft als Beleg für eine wachsende wissenschaftliche Innovationskraft: Angeblich verdopple sich das Wissen alle fünf Jahre. Dass der anschwellende Publikationsrausch auch ganz andere Ursachen haben könnte, bleibt unberücksichtigt; zum Beispiel besteht ein nachweisbarer empirischer Zusammenhang zwischen steigender Publikationsrate und immer kürzeren Förderzyklen. Echte wissenschaftliche Durchbrüche werden dagegen immer seltener. Und Themen, die nicht im Mainstream des Fördergeschehens liegen, finden kaum statt. „Projektitis“ und quantitative Outputorientierung führen insofern systematisch zur Gefahr einer Einschränkung von Forschungsfreiheit. Mit dieser Herausforderung kreativ umzugehen, bedeutet auch, immer wieder für die Realisierungschancen unkonventioneller Forschungsideen zu werben.

Wenn das wirklich Neue immer noch schwer zu denken ist, dann mag das auch daran liegen, dass uns – auch in der Wissenschaft – eine allzu technokratische oder eine allzu disziplinär geprägte Sicht den Blick auf das Mögliche verstellt. Was bedeutet das für Innovationen? Matt Ridley beschreibt in seinem Buch „Wenn Ideen Sex haben“ die Entstehung eines neuen Gedankens als Folge eines kreativen Paarungsakts zweier bislang disjunkter und getrennter Gedankenwelten. Das Verschiedene muss miteinander kommunizieren, damit etwas Neues dabei herauskommt. Wir müssen also wieder gründlicher quer-, nach- und vordenken. Wir müssen vermehrt an Bruchstellen und an scheinbar Unvereinbarem forschen.

Hier kommen die Gesellschafts- und Geisteswissenschaften ins Spiel. Ihre Domäne ist die begründete Spekulation über Mögliches, das unter bestimmten Bedingungen zur Wirklichkeit werden kann. Und ebenso der begründete Zweifel an dem allzu Offenbaren, wie ihn auch die Frankfurter Schule immer wieder vertreten hat. Die Kritische Theorie ist auch der Versuch, die Moderne in ihrer rauschhaften Fortschrittsgläubigkeit zu entzaubern. Aufklärung durch argumentative Ernüchterung ist das Stichwort der Frankfurter – gegen die oft mit evolutionärem Dogmatismus auftretenden Technokraten. Wichtig ist jedoch immer der konstruktive Impetus; das Zerstören der Ideen anderer reicht nicht. Früher gab es für die ganz großen Herausforderungen Utopien – wie zum Beispiel die Verheißung einer demokratischen Gesellschaft, die inzwischen Wirklichkeit ist.

Heute scheinen an die Stelle von Utopien technologische Heilsversprechen von Google, Apple und Co. getreten zu sein. Diese suggerieren, dass nahezu jedes Problem auf der Welt technisch lösbar sei. Wir sollten diese Verheißung, ihre Chancen und ihre Risiken, ernst nehmen und sie dann gründlich entzaubern. Gerade den Gesellschafts- und Geisteswissenschaften kann es nicht gleichgültig sein, wenn smarte Hipster aus dem Silicon Valley mit der Milliarden-Marketing-Macht ihrer Konzerne die globale Deutungshoheit darüber einfordern, wie die Menschheit morgen leben soll.

Bisher setzen Wissenschaft und Politik diesem Allmachtsanspruch wenig entgegen und lassen sich in eine Ex-Post-Rolle drängen – gewissermaßen als moralischer Reparaturbetrieb für bereits vollzogene technologische und gesellschaftspolitische Entwicklungen. Aber wie kommen Quer-, Nach- und Vordenker klug in die Offensive? Durch gut begründete Kritik und Utopien, die nicht von Technologien, sondern vom Menschen und seiner Mitwelt her gedacht sind; Utopien, die aber auch mit dem konstruktiven Charme des Machbaren locken. Jürgen Habermas ist und der verstorbene ehemalige FAZ-Herausgeber Frank Schirrmacher war ein Mensch, der vehement zum öffentlichen Gebrauch der Vernunft aufgerufen hat. Ihrem öffentlichen Beispiel könnte auch die Wissenschaft wieder stärker folgen.

Innovation braucht Freiheit, und zugleich soll sie ihr dienen: Die größte menschliche Innovation ist nicht etwa die Erfindung des Autos oder des Smartphones, sondern die „Erfindung“ und Institutionalisierung von Freiheit in Gestalt der Demokratie. Die Gesetze, die heute Freiheit gewähren, sind mehr oder weniger geniale Erfindungen, man denke nur an das Grundgesetz. An ihnen kann man jedoch auch studieren, wie Freiheit scheinbar eingeschränkt wird, um sie wieder neu zu gewinnen. So waren die weltweit unterschiedlichen Aktivitäten zur Finanzmarktregulierung nach der Krise 2008 auch Versuche, die Demokratie gegenüber einer drohenden, absoluten Herrschaft der Finanzmärkte und ihrer Interessen wieder zu stärken.

Wo ist der wissenschaftliche und gesellschaftliche Diskurs darüber, wie wir jenseits technokratischer oder konsumistischer Euphorie künftig leben wollen? Ist unser Beitrag zur Nachhaltigkeitsdebatte wirklich schon damit erschöpft, dass wir uns zur Mülltrennung bekennen? Und wo sind die Forscher, die – wie Franz Oppenheimer – darum ringen, das Neue zu formulieren, um ihm eine gesellschaftlich diskussionswürdige Gestalt zu geben? Nehmen wir diesen innovativen gesellschaftlichen Verständigungsprozess doch gemeinsam selbst in die Hand und überlassen ihn nicht jenen, die bereits ihre Trojanischen Pferde ausschicken, um unser künftiges Leben zu kapern – auch wenn das Neue wahrscheinlich immer schwer zu denken sein wird.

Die Autoren:

Prof. Dr. Birgitta Wolf ist Präsidentin der Goethe-Universität Frankfurt. Bis zu ihrem Amtsantritt hatte sie den Lehrstuhl für Betriebswirtschaftslehre und Internationales Management an der Universität Magdeburg inne. Von 2010 bis 2013 amtierte sie als  Kultus-, Wirtschafts- und Wissenschaftsministerin des Landes Sachsen-Anhalt.

 

Dr. Olaf Kaltenborn ist  Pressesprecher und Leiter der Abteilung Marketing und Kommunikation der Goethe-Universität Frankfurt.

 

 

 

 

 

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„Wenn Ideen Sex haben“ –  Website von Matt Ridley

Artikel von Matthias Horx: „Wie kommt das Neue in die Welt“

 

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